Kinderjahre Kaiser Karls. Gabriele Praschl-Bichler
klein auf hatte er die wichtigsten praktischen und theoretischen Fertigkeiten dafür erlernt. Einige studierten an einer Militärakademie. Alle Erzherzoge durchliefen eine mehrjährige Ausbildung, bis sie den Offiziersstand erreicht hatten.
Mit den erwachsenen Kindern, die in Garnisonen lebten, die weggeheiratet hatten oder die sich auf Reisen oder auf Kuraufenthalten befanden, hielt ihr Vater Erzherzog Carl Ludwig ständig Kontakt, ebenso mit seinen Brüdern, Verwandten und Freunden, aber auch mit Künstlern und Wissenschaftlern. Täglich schrieb er zahl- und inhaltsreiche Briefe, da das Telefon Ende des 19. Jahrhunderts zwar schon erfunden, aber im Alltag noch nicht eingeführt war. Erzherzog Carl Ludwig war wie seine Mutter Erzherzogin Sophie ein eifriger Korrespondent und schickte jedem Kind, das nicht zu Hause lebte, zumindest ein- bis zweimal pro Woche mehrseitige Briefe.
In dringenden Fällen bediente sich der Erzherzog des Telegraphen, über den man schon damals Nachrichten innerhalb kürzester Zeit übermitteln konnte. So war es z. B. möglich, dass seine Schwiegertochter Marie Josepha auf eine telegraphische Benachrichtigung, die sie am Vormittag in Schloss Persenbeug erhielt, am Nachmittag in Wien eintreffen konnte. Die über 150 Kilometer Strecke musste sie in mehreren Fahrzeugen zurücklegen. Mit einem Wagen fuhr sie vom Schloss zur Schiffsanlegestelle, überquerte die Donau mit einer Fähre, nahm dann abermals einen Wagen zur Bahnstation Kemmelbach, von dort den Zug nach Wien und zuletzt einen Wagen vom Bahnhof in die Innenstadt zum Palais ihres Schwiegervaters. Selbst heute braucht man für die Strecke über Autobahn oder Schnellstraße und weiter von den Außenbezirken Wiens bis ins Zentrum an die ein-, eineinviertel Stunden. Der Grund, warum Erzherzog Carl Ludwig seine Schwiegertochter einmal so rasch nach Wien bat, war eine schwere Erkrankung seiner ältesten Tochter Margarethe, die beinahe zu ihrem Tod führte. Das war ein tiefer Einschnitt im sonst so harmonischen Alltag der Familie und lastete schwer. In solchen Momenten legte der Erzherzog großen Wert darauf, mit der engeren Familie zusammen zu sein.
Wenn jemand aus dem Familienverband ernsthaft krank war, wurden mehrere Ärzte gebeten, Untersuchungen vorzunehmen und sich miteinander auszutauschen und zu beratschlagen. Beim Enkel Carl reichte eine hartnäckige Erkältung, dass zwei bis drei Ärzte zu Rate gezogen wurden. Lange Zeit war er in seiner Generation das einzige Kind. Als er geboren wurde, lebten noch ein Onkel und drei Tanten (siehe S. 48) als Teenager im Haushalt seines Großvaters. Wenn sie unterrichtet wurden oder die Großeltern Termine hatten, war der Kleine in Gesellschaft seiner Kinderfrauen. Man fand aber alle im selben Haushalt Wohnenden – Großmutter und Großvater, Onkel und Tanten – täglich im Spielzimmer Carls. Seine Mutter, Erzherzogin Marie Josepha, traf man dort am seltensten an. Meist war sie unterwegs, und wenn sie einmal – im Palais in Wien oder in der Villa Wartholz – im selben Haushalt mit ihren Schwiegereltern wohnte, kümmerte sie sich nicht um ihr Kind, sondern machte sie ihren Einfluss als Erzieherin auf eigenwillige Art geltend. Sie hielt Carl vom Familienleben fern, vor allem von den gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten, weil sie vermutlich dachte, dass ein Kind nicht in die Gesellschaft Erwachsener gehört. Der Großvater, der den Enkel dann nicht in Gesellschaft sah, musste ihn alleine in seiner Wohnung besuchen. War Marie Josepha auf Reisen und Carl mit Großeltern, Onkeln und Tanten allein, durfte er, sobald er in einem Kinderstühlchen sitzen konnte, bei jedem Essen dabei sein. Da Erzherzog Carl Ludwig viel Freude hatte, bei Tisch alle Familienmitglieder zu versammeln, fand er für die Zeit, wenn die Schwiegertochter im Haus war, eine Notlösung. Da sie morgens lange schlief, holte er den Kleinen in der Früh persönlich zum Frühstückstisch. Selbst wenn die Kinderfrauen andere Anweisungen gehabt hätten, wagte natürlich niemand, den Hausherrn daran zu hindern. Für ihn, der täglich etliche offizielle Termine und oft 50 bis 70 Audienzen und mehr ableistete, der stundenlang Akten, Broschüren und Protokolle der verschiedensten Gesellschaften las, deren Schirmherr er war, gehörte das Frühstück in der Gesellschaft der im Haus lebenden Kinder und des Enkels zum geliebten Morgenritual. Dort holte er sich die Kraft für einen langen Arbeitstag, der meist 12 bis 14 Stunden dauerte und ihn nicht selten mehrere Hundert Kilometer durchs Land führte.
Die »kleine« Geschichte des privaten Lebens: aus Briefen und Tagebüchern
Da meine Publikationen immer der Geschichte und nicht der Kulturgeschichte zugeordnet werden, möchte ich im Folgenden die beiden Begriffe kurz erläutern und voneinander abgrenzen. Ich habe mich seit Beginn meiner publizistischen Arbeit der Geschichte des Alltags sowie der Geschichte des privaten Lebens4 verschrieben. Im Unterschied zur großen Geschichte, in der meist nur von Herrschern und mächtigen Leuten die Rede ist, beschäftigt sich die Alltags- oder Kulturgeschichte mit dem täglichen Leben aller Menschen unter Berücksichtigung ihres sozialen Umfelds. Die Fragen nach den Einzelheiten sind mannigfaltig: Mit welcher Bekleidung und in welcher Art von Betten schliefen die Menschen einer bestimmten Epoche? Wann standen sie auf? Wie viel Zeit wendeten sie für Körperhygiene auf? Welche kosmetischen Hilfsmittel kannten und verwendeten sie? Wie viel und was aßen die Bewohner der verschiedenen Regionen? Welche Kleider trugen sie zu welchen Anlässen? Wie führten sie den Haushalt? Welche Geräte und welche Art von Geschirr verwendeten sie? Wie und wo lagerten Lebensmittel? Wie sahen Möbel der Vorratshaltung aus, wie die Kochstellen? Welche Berufe gab es, wie und wo wurden sie ausgeübt? Welche Transportmittel standen den Menschen zur Verfügung? Welche sozialen Einrichtungen gab es? Wie feierte man Feste? Wie spielte sich das Leben innerhalb der Familie ab? Wie ging man mit Geburt, Kindheit, Krankheit und Tod um?
Meist schränkt man sich bei der Beobachtung auf einen bestimmten Zeitraum ein und man vergleicht in Bezug darauf den Tagesablauf der Mitglieder verschiedener sozialer Schichten. Dabei ergeben sich häufig nur geringe Unterschiede, manchmal sogar keine. Besonders auffällig ist, wie wenig den Menschen aller Gesellschaftsschichten in früheren Epochen sanitäre Einrichtungen bedeuteten und wie ungesund und wie wenig abwechslungsreich sie aßen.
Die stärksten Unterschiede in Bezug auf Tagesablauf, Kleidung, Essen und auf Hilfsmittel gab es in der barocken Epoche. In dieser Zeit zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert huldigten die Mitglieder der obersten Gesellschaftsschichten einer überfeinerten und gekünstelten Lebensart. Sie benahmen sich geziert, gestalteten ihre Auftritte theatralisch, verwendeten die kostbarsten Materialien für Kleidung und Einrichtung und aßen die exotischsten Lebensmittel. Wenn man einmal von den Kosten absieht, die dieser Lebensaufwand verursachte, kann man sich vorstellen, wie viel Zeit und Personal dafür benötigt wurde. Alleine für den Ablauf des Morgenrituals, der Ankleiden, Frisieren und das Trinken heißer und erlesener Getränke aus kostbaren Porzellanschalen umfasste, war zahlreiche Dienerschaft nötig. Darüber hinaus sorgten Geistliche und gebildete Personen für Erbauung und Unterhaltung der Herrschaften des Hauses. Der weitere Tagesablauf setzte sich bei den Menschen, die nicht arbeiten mussten, meist mit dem Besuch der Messe fort. Danach nahm man in Gesellschaft einiger Erwählter das Souper, das mehrere Stunden dauern konnte, und vergnügte sich anschließend je nach Jahreszeit mit Spaziergängen, Bootsfahrten und Jagden. Während des Tages wechselte man je nach Anlass mehrmals Kleidung und Frisur. Am Abend besuchte man Konzerte oder Theatervorführungen. Nachts nahm man ein Diner und unterhielt sich anschließend bei Tanz und Gesellschaftsspielen.
Aller Luxus und Nichtsnutz endete im späten 18. Jahrhundert. Die Französische Revolution, Wirtschaftskrisen in vielen europäischen Ländern sowie Bankrotte etlicher Familien hatten den Vorgang ausgelöst und führten zum Zusammenbruch des Systems. Als logische Folge entwickelte sich das 19. Jahrhundert zu einer ruhigen, bürgerlichen Epoche, in der man sich im Familien- oder Freundeskreis auf die kleinen Dinge des Lebens besann. Herr und Frau Biedermeier waren aber nicht nur im Volk zu finden, sondern auch unter Habsburgern, Wettinern und Wittelsbachern. Sie alle hatten beinahe zwei Jahrhunderte lang versucht, den aufwendigen, aber auch kraftraubenden Lebensstil König Ludwigs XIV. von Frankreich zu kopieren, und waren nun mit der Änderung ins genaue Gegenteil grenzenlos zufrieden. In Bezug auf die Geschichte des privaten Lebens hat es selten einen so tiefen Schnitt zwischen zwei so nahe liegenden Epochen gegeben.
Am Ende dieses Einschubs, der dazu dienen sollte, den Unterschied zwischen großer Geschichte und Alltagsgeschichte aufzuzeigen, komme ich wieder auf die Tagebücher Erzherzog Carl Ludwigs zurück. Nichts eignet sich besser, das Privatleben einer Familie zu dokumentieren, als in täglich geführten Aufzeichnungen eines Familienmitglieds