Als ich die Pflaumen des Riesen klaute. Ulf Stark

Als ich die Pflaumen des Riesen klaute - Ulf Stark


Скачать книгу
nicht«, sagte ich. »Riesen sind doch echt unheimlich, oder?«

      »Das Unheimlichste an ihnen ist, dass es sie gar nicht gibt«, sagte Papa.

      Was wusste er schon? Er las ja keine Märchen.

      Mama dagegen machte das.

      So wie sie überhaupt das meiste bei uns machte, bis auf die Zahnarztpraxis.

      Sie kaufte das Essen ein.

      Sie räumte auf.

      Sie hatte sämtliche Krankheiten und Geburtstage der Verwandten im Kopf, sie wusch unsere Kleider, backte Kuchen und tröstete uns, wenn wir traurig waren.

      Das alles machte sie, ohne sich zu beklagen. Sie stellte nur zwei Bedingungen. Jeden Abend musste sie zwanzig Minuten ungestört Klavier spielen dürfen. Und jedes Wochenende brauchte sie einen freien Nachmittag, um auf ihrem grünen Fahrrad hinaus zur »Einsamkeit« zu radeln.

      Die »Einsamkeit« war nichts anderes als eine Hütte im Wald. In der Hütte gab es ein Fenster, einen Sessel, in dem man sitzen konnte, und einen Ofen, in dem man Feuer machen konnte, wenn es kalt wurde.

      Sie hatte die Hütte von einem Onkel geerbt, der vorgehabt hatte, dort ein Buch zu schreiben. Aber er hatte es nie getan.

      Aus dem Fenster hatte man eine schöne Aussicht, weil die Hütte hoch oben auf einem Hügel lag. Man konnte den Himmel betrachten und die Baumwipfel und die Wolken, die vorüberzogen. Man konnte den Wind in der hohen Kiefer rauschen hören, die gleich neben der Hütte stand. Das Rauschen sei die Art des Baumes zu denken, sagte Mama.

      Einmal fragte ich Mama, was sie in der Hütte machte.

      »Eigentlich gar nichts«, sagte sie. »Ich sitze nur da und finde zu mir selbst. Jeder Mensch hat das Recht auf ein paar Stunden Einsamkeit.«

      Das fand ich auch.

      Manchmal hatte ich selbst auch so einen Faulenzertag. Dann lag ich bloß im Bett und tat überhaupt nichts.

      Mein Bruder schloss sich in seinem Zimmer ein, um seine Ruhe zu haben und Zeitschriften zu lesen, die ich nicht angucken durfte. Papa setzte sich ab und zu auf sein Moped und machte einen kleinen Ausflug.

      Und weil er so eine komplizierte Verdauung hatte, schloss er sich immer mal wieder im Klo ein und kam ewig lang nicht heraus.

      Aber vielleicht konnte man auch zu viel Einsamkeit abbekommen.

      Der Riese Oskarsson schien zu einsam zu sein.

      Wenn wir hinter ihm her spionierten, um uns zu gruseln, war er immer irgendwie beschäftigt. Er bastelte Nistkästen für die Vögel und hängte sie in die Bäume. Bernt behauptete, damit wolle er nur die Vögel anlocken, die er dann auffraß.

image image

      Was machte er sonst noch? Er stutzte die Hecke an der Straße mit einer unheimlichen Schere, verbrannte trockenes Reisig und nagelte Gartenstühle zusammen, die er kaputt gesessen hatte.

      Er war praktisch und energisch.

      Aber was er auch tat, immer sah er einsam aus.

      Einsam und wütend.

      »Vom Einsamsein wird man wütend«, erklärte Bernt, als wir am nächsten Tag über die Hecke des Riesen linsten. »Hier gibt es ja nicht viele Riesen, mit denen er sich treffen könnte.«

      »Nein«, sagte ich. »Weil die meisten in den Bergen und Wäldern leben.«

      Ich wollte zeigen, dass ich auch das eine oder andere wusste.

      Bernt schien nicht sonderlich beeindruckt zu sein.

      »Ja klar«, sagte er. »Aber jetzt gehen wir zu Nygårds, Eier kaufen.«

image

      3.

      Die Familie Nygård hielt hinterm Haus eine Menge Hühner. Die Hühner waren illegal, weil man eigentlich in einer Wohngegend keine Hühner halten durfte, sagte Bernt. Aber das war der Familie Nygård egal. Die scherten sich um überhaupt keine Gesetze und machten nur, was ihnen selbst passte.

      Bernt kaufte dort jeden Tag frische Eier. In seiner Familie gab es nämlich Omelett zum Frühstück. Das gab es sonst nirgends bei meinen Freunden. Da frühstückte man Grütze oder Kakao und Marmeladebrot. Wir wussten kaum, was das war, ein Omelett.

      Als wir dort ankamen, wollte Bernt mir etwas zeigen. Wir gingen zum Hinterhof, wo die illegalen Hühner herumscharrten und gackerten.

      Sie waren nicht eingezäunt. Darum irrten sie manchmal auf die Straße hinaus, genau wie die verwirrten alten Leute aus dem Altersheim, die den Weg zurück nicht mehr fanden.

      Bernt lockte ein Huhn mit einer Handvoll Sonnenblumenkerne zu uns her. Dann packte er es rasch, drehte es auf den Rücken und legte es vorsichtig auf den Boden. »So, Hühnchen«, sagte er. »Jetzt darfst du schlafen.«

      Vor dem Schnabel der Henne zog er einen Strich in den Kies. Als er das Huhn losließ, blieb es regungslos still liegen.

      »Heiliger Bimbam«, sagte ich. »Hast du es umgebracht?«

      »Nein«, sagte er. »Ich hab’s hypnotisiert.«

      Dann stupste er das Huhn, und gleich fing es wieder an herumzurennen und zu gackern. Es war die pure Zauberei.

      »Kann man so was auch mit Menschen machen?«

      »Ja«, sagte er. »Aber nicht auf dieselbe Art. Meistens lässt man etwas vor ihren Augen hin und her pendeln. Dann schlafen sie ein und man kann ihnen sagen, was sie machen sollen. Und das machen sie dann.«

image

      »Wie denn?«, fragte ich. Das hätte ich nämlich gern gekonnt.

      »Das erzähl ich dir später«, sagte Bernt. »Jetzt holen wir erst mal die Eier.«

      Bernts Mutter hatte Lindenblütentee mit Honig für uns gekocht, als wir mit den Eiern ankamen. Wir saßen in Bernts Zimmer und tranken den Tee. Er schmeckte ungewohnt, aber gut.

      »Hypnose«, sagte ich. »Wie funktioniert das eigentlich?« Bernt erklärte, man müsse die Person, die hypnotisiert werden sollte, in einen hypnotischen Schlaf versetzen. Dann würde sie alles tun, was man wollte.

      »Man sagt, die Person soll ruhig und langsam atmen, während man auf zwanzig zählt. Und dann wiederholt man: Du wirst müde, ganz, ganz müde«, erklärte Bernt.

      Das sagte er sehr langsam.

      Fast sofort spürte ich, dass ich müde wurde. In letzter Zeit hatte ich nicht besonders gut geschlafen, weil ich so viel an den Riesen Oskarsson gedacht hatte und daran, was er mit »bald blüht dir was« gemeint hatte. Und ich war mir so gut wie sicher, dass ich den Riesen abends vor unserem Haus gesehen hatte, während Mama Klavier spielte. Einmal hatte ich ihn hinter dem großen Stein entdeckt, wo sonst die alten Männer aus dem Altersheim saßen, wenn sie Bier trinken wollten.

      Bei einer anderen Gelegenheit glaubte ich, hinter einer dicken Kiefer auf unserem Grundstück den Umriss seiner riesigen Gestalt erkannt zu haben.

      »Ich wüsste zu gern, ob man Riesen auch hypnotisieren kann?«, sagte ich.

      »Wer will das schon versuchen?«, sagte Bernt. »Überleg mal, was passiert, wenn es nicht klappt?«

      »Dann kann man die Radieschen von unten angucken«, sagte ich mit düsterer Stimme.

      »Genau«, sagte Bernt.

      Ich erzählte Bernt, dass ich Oskarsson abends vor unserem Haus gesehen hätte. Wenigstens nahm ich an,


Скачать книгу