Rom, Träume. Maike Albath
aus Triest an und belagerte den Kranken, sogar die amerikanische Verlobte des Bruders kam mit einem Chauffeur aus Paris; dauernd gab es Abwechslung. Als es den beiden jungen Männern endlich besser ging, Alberto nach Bressanone ins Hotel übersiedelte und nur noch tagsüber zu Behandlungen ins Krankenhaus musste, bestellte der Triestiner eine Droschke und dirigierte sie zu einem, wie es damals hieß, »Haus der Toleranz« am Stadtrand. Auf Krücken humpelten die Freunde in die Villa, und der Ältere suchte für Alberto eine geeignete Frau aus. Die diensthabende Dame wunderte sich, dass ihr Kunde zuerst einen orthopädischen Apparat von der Hüfte schnallen musste, aber dann verlief alles nach Plan. Es dauerte nur ein paar Tage, da schrieb er morgens im Liegen einen Satz auf ein Blatt Papier. Er lautete: »Entrò Carla«, »Carla kam herein«. Es war der Anfang seines Romans Die Gleichgültigen. Drei Jahre später war der junge Mann berühmt. Er nannte sich jetzt Alberto Moravia.
VIA VENETO
Das Leben der Boheme
Vier Delphine stemmen in Gian Lorenzo Berninis Brunnen auf der Piazza Barberini die Muschelschalen mit dem stolzen Tritonen in die Höhe. Dass Bernini keinen Sockel baute, sondern eine offene Struktur aus vier Tierleibern bevorzugte, war 1642 eine gewagte Innovation. Überhaupt ist dies eine Gegend, in der sich die Stadt für Neuerungen öffnete. Von der Piazza Barberini zieht sich die Via Vittorio Veneto in zwei großen Kurven gemächlich bis zur Porta Pinciana einen Hügel hinauf, in Richtung Villa Borghese. Die platanengesäumte Straße, die zwischen 1886 und 1889 eröffnet wurde, hat etwas von einem ruhig dahinströmenden Fluss, trotz des Verkehrs, der zu Stoßzeiten regelmäßig ins Stocken gerät. Nach ein paar Schritten kommt man am rundlich gewölbten Hotel Majestic vorbei, das sich der Straßenbiegung anpasst. Es wurde 1896 von dem Südtiroler Architekten Gaetano Koch gebaut, der viele Spuren in Rom hinterließ, sich auf der Via Veneto gleich mehrfach verewigte und auch beim Altare della patria, dem beeindruckend hässlichen Ehrenmal der italienischen Einheit, seine Finger im Spiel hatte. Es folgt das Palace mit luftigem Art déco. Im Albergo Ambasciatori aus den zwanziger Jahren, das wie ein mächtiges Tortenstück daliegt, kündigt sich, wie in der etwas früher erbauten Banca Nazionale mit ihrem strikten Liktoren-Stil, die Phase des Faschismus an. An der zweiten Kurve gibt es wieder einen Wechsel: Das Excelsior wirkt mit seiner Kuppel sehr weltstädtisch und stammt aus der Entstehungszeit der Straße. Muskulöse Atlanten zieren die Fassade. Der Zuckerbäckerbau könnte ebenso gut in Montecarlo oder an einem Badeort stehen, meinte Alberto Moravia. Der Palazzo Boncompagni an der Via Boncompagni mit seinen drei Bögen und dem ausladenden Balkon diente als Residenz der Königin Mutter, weshalb man ihn auch Palazzo Margherita nennt. Er gilt als wichtigstes Werk von Gaetano Koch, wurde 1890 fertig und beherbergt heute die amerikanische Botschaft. Kehrt man stadteinwärts zur Piazza Barberini zurück, kann man in der Kapuzinerkirche S. Maria della Concezione seine Sünden beichten. Im Untergeschoss befindet sich eine Krypta. Die Bestandteile von viertausend Kapuzinerskeletten sind in mehreren Nischen zu makabren Rosetten, Kreisen und Schleifen arrangiert: Es gibt Muster aus Totenköpfen, Becken, Schienbeinen und Oberschenkelknochen. Ein Memento mori an einer Straße, die sich so sehr der Gegenwart und dem Vergnügen verschrieben habe, so deutete es Moravia.
Denn es sind die Bürgersteige von La dolce vita: Marcello Mastroianni alias Marcello Rubini parkte hier seinen Sportwagen, immer mit seinem Fotografen im Schlepptau. Ein echter Fotograf hatte Federico Fellini, Tullio Pinelli und Ennio Flaiano zu ihrem Film inspiriert: Tazio Secchiaroli, ein abgefeimter Typ, der jeden Tratsch aufschnappte und sofort mit seiner Kamera loszog. Secchiaroli brüstete sich vor dem Regisseur mit einem Schnappschuss des aus seinem Land verjagten ägyptischen Königs Faruq im Café de Paris. Aus Wut über die Indiskretion warf der König a. D. einen Tisch um. Die Fotografen standen enorm unter Druck. Ihre Auftraggeber waren bunte Illustrierte, die von Sensationen lebten und möglichst spektakuläre Bilder erwarteten. Die Meute entwickelte regelrechte Techniken, um Schauspieler mit Blitzlichtgewittern zu provozieren. Immer wieder kam es zu Handgreiflichkeiten. Einen solchen Fotografen wollte Fellini auch für seinen Film. Gemeinsam mit seinem Drehbuchautor, dem Schriftsteller Ennio Flaiano, suchte er nun noch nach einem Namen. Sie kamen auf »Paparazzo«, nach einem Wirt aus Catanzaro, der Coriolano Paparazzo hieß und von dem Briten George Giesing 1896 in seinem Reisebericht By the Jonian Sea erwähnt wird, allerdings mit der Anmerkung, es handele sich um einen reizenden Menschen. Flaiano schilderte später in Die Einsamkeit des Satirikers, wie sie das Buch aufschlugen und sofort Gefallen fanden an dem Klang des Namens: Paparazzo. Eine Figur existiere eben erst durch ihren Namen, Flaubert habe sogar zwei Jahre nach Madame Bovary gesucht, und dass man unter »Paparazzo« fortan eine eher unehrenhafte Ausprägung der Fotoreporter-Spezies verstand – nun gut, dies sei das Schicksal von Namen, sie führten ein Eigenleben, entschuldigte sich Flaiano schulterzuckend. Für die Dreharbeiten im Frühling und Sommer 1959 ging Fellini allerdings in die Studios von Cinecittà, wo die Via Veneto nachgebaut wurde; Aufnahmen auf der echten Straße wären nur bei vollem Tageslicht möglich gewesen. Aber alles Wichtige geschah nachts: Seit Ende der vierziger Jahre war die Via Veneto mit ihren Cafés, Buchhandlungen und Hotelbars ein Treffpunkt der Schriftsteller, Drehbuchautoren, Schauspieler, Regisseure und Journalisten. Einer von ihnen war Raffaele La Capria.
In seinem Alter gehe er bei Eis und Schnee nicht mehr aus dem Haus, meint der hochbetagte Neapolitaner an einem überraschend kalten Februartag 2012 am Telefon und lädt mich ein, ihn zu besuchen. Zum ersten Mal seit fünfundzwanzig Jahren versinkt Rom im Schnee. Der Verkehr ist zusammengebrochen, Verabredungen trifft man nur von Stunde zu Stunde, jetzt fahren Räumfahrzeuge über den Largo Argentina und streuen Berge von Salz. Fünf Straßenfeger stochern ratlos in einem großen Schneeberg herum, bis sie ihn in ihre Mülltonnen schaufeln. La Capria, Jahrgang 1922, seit 1950 in Rom beheimatet, Verfasser von Romanen, Erzählungen, Feuilletons und Drehbüchern, verkehrte in den fünfziger Jahren in den einschlägigen Lokalen und gehörte zur römischen Boheme. Die neu gegründete RAI (Radiotelevisione Italiana), wo auch der stilistische Revolutionär Carlo Emilio Gadda unterkam, stellte damals Schriftsteller und Intellektuelle ein; La Capria war für Radiosendungen über Theater zuständig. Unser letztes Treffen liegt einige Jahre zurück, aber La Capria, der in Neapel im Palazzo Donn’Anna aufwuchs, wo er in den Sommermonaten aus dem Fenster direkt ins Meer sprang und täglich kilometerweit schwamm, hat sich die fließenden Bewegungen eines Schwimmers bewahrt. Liebenswürdig nimmt er mich in Empfang und führt mich in einen kleinen Salon. An den Stirnseiten reichen die Bücherregale bis unter die Decke. Die Meridiani, die große Klassikerreihe von Mondadori, die auch La Capria einen Band gewidmet hat, scheint vollständig versammelt. Die Wände sind grün tapeziert. Ich entdecke Gemälde von Ardengo Soffici und Arnaldo Spadini, Erbstücke vom Großvater seiner Ehefrau. Noch bevor La Capria sein Jurastudium abschloss und bei der RAI eingestellt wurde, hatte er im Sommer 1946 Alberto Moravia und dessen Frau Elsa Morante auf Capri kennengelernt. Damals begeisterte er sich für T. S. Eliot und veröffentlichte erste Prosastücke in Zeitschriften. »Elsa Morante mochte junge Leute, ich war damals noch sehr jung, also gefiel ich ihr«, erinnert sich La Capria. »Und wenn ihr jemand gefiel, riss sie sich ein Bein aus, sie feierte mich, stellte mich allen vor, es war mir fast peinlich, denn sie sagte: ›Dies ist der Dichter Raffaele La Capria‹, nur hatte ich noch kein einziges Gedicht geschrieben … ›Dichter‹ war für sie ganz einfach jemand, der eine Seele besitzt, und das waren die Menschen, die ihr die liebsten waren. Auf Capri lebte damals ein berühmter englischer Schriftsteller, Norman Douglas, ein Schwuler mit einer Vorliebe für Heranwachsende, er gehörte zur Kultur-Elite der Insel. Früher galten solche Leute nicht als pädophil, sondern waren ganz einfach Künstler mit bestimmten Neigungen. Wir waren gemeinsam in einer Villa zu Gast: Norman Douglas, Elsa Morante, Moravia und noch ein Engländer. Norman Douglas band sich Weinlaub um den Kopf, so wie ein Satyr, und lief Elsa durch den Garten hinterher. Sie lachte wie von Sinnen. Ich habe diese Szene vor Augen: Norman Douglas mit seinem gekrönten Haupt, Elsa, die halb erschrocken, halb belustigt vor ihm davonlief. Ich habe sie nie wieder so ausgelassen erlebt. Im Laufe der Jahre wurde Elsa dann unduldsamer, manchmal fast böse, weil sie vieles nicht ertrug.«
1951 war Rom noch eine überschaubare Stadt. Während der Kriegsjahre hatte es einen Zustrom aus Süditalien gegeben, die Einwohnerschaft war von 1155722 im Jahr 1936 auf 1651754 gewachsen, aber die meisten Zugezogenen wohnten in den armseligen Vorstädten, den borgate. Im Zentrum war davon nichts zu merken. Raffaele La Capria fand zuerst eine Bleibe in der Via Margutta, wo auch Truman Capote