Der einsame Mensch. Rotraud A. Perner
aus Verzweiflung, egal wie alt man ist. Denn auch wenn dem Kleinkind noch die Worte fehlen, so spürt es doch den jeweiligen Zielimpuls in sich – man könnte formulieren: Es hat die Vision seines Ideal-Ichs – und erlebt sein Versagen. Hinsichtlich Patienten mit Alzheimer-Demenz sagte mir einmal ein Allgemeinmediziner: »Zuerst kommt das Versagen – dann kommt der Zorn – und dann kommt das Vergessen.« Wenn aber das Gedächtnis noch völlig funktionstüchtig ist, kommt vielfach Resignation. Kleine Kinder fallen dann oft um und schlafen blitzartig ein. Ältere Menschen pflegen oft Risikosituationen in vorauseilender Scham zu vermeiden und verabsäumen so die nötigen Lernschritte. Sie bräuchten Ermutigung, und diesen Bedarf müssen die möglichen hilfreichen anderen erst erkennen (können). Wer diese Unterstützung nicht selbst erfahren hat – und das sind die meisten Menschen – findet sie unnötig und verweichlichend und wird stattdessen mäkeln, bloßstellen oder strafen.
»Das zwischenmenschliche Erkennen und Anerkennen systematisch zu verweigern, ist ein Akt der Unmenschlichkeit und ethisch verwerflich«36, betont der Neuropsychiater Joachim Bauer. Viele Eltern und Personen, die sich als Experten in Sachen Kindererziehung fühlen, sehen das aber nicht so – sie meinen, »ungehorsame« Kinder könnten nur mit Härte zur Folgsamkeit »motiviert« werden; sie glauben, es sei ein Naturgebot, zwingen zu müssen, zu können und auch zu dürfen. Sie wissen nicht oder ignorieren, dass jegliche Gewalthandlung oder Vernachlässigung eines Kindes seit Ende des 20. Jahrhunderts strafbar ist.
»Es ist ja das Tragische, dass es keine einsamen Kinder ohne einmal in ihrer Kindheit einsam gewesene Eltern gibt«, stellt die Kindertherapeutin Lene Keppler fest. »Diese Eltern waren einst von ihren Eltern ›gebraucht‹ worden, das heißt, sie hatten Teile ihrer Persönlichkeit nicht voll entwickeln können oder fast ganz unterdrücken müssen, weil deren Eltern diese Persönlichkeitsanteile oder Verhaltensweisen, bedingt durch ihre eigene Lebensgeschichte, nicht wahrnehmen oder ertragen konnten.«37 Aber: »Mein Charakter ist nicht mein Schicksal«, wie die Wiener Präventivpsychologin Anneliese Fuchs titelt: Wenn wir erkennen, wen wir nachspielen und welche anderen, salutogeneren, d. h. Gesundheit, insbesonders die soziale Gesundheit, fördernderen, Verhaltensweisen auch wert wären, ausprobiert zu werden, können wir solchen »Familienflüchen«38 entkommen.
Es ist wichtig, dass jemand gegenwärtig
und verfügbar ist, ohne Forderungen zu stellen.
Charakterbildung
»Handlungen und Verhaltensweisen zu imitieren, die wir bei anderen beobachten, ist ein durch Spiegelneurone vermittelter menschlicher Grundantrieb«, weiß der Neurobiologe Joachim Bauer. »Er ist bei Säuglingen und Kleinkindern noch völlig ungehemmt. Was sie bei ihren Bezugspersonen sehen, versuchen sie intuitiv und unwillkürlich nachzuahmen.« Das motiviert dann auch beispielsweise Erwachsene dazu, das Kind mit »Mund-auf-Mund-zu-Spielen« zur Spiegelung zu verlocken. »Das Kind benutzt das Imitationsverhalten nicht nur als eine erste Möglichkeit zur Kommunikation, sondern macht mit dessen Hilfe auch seine ersten Lernerfahrungen.«39 Allerdings, so Bauer, beginnen nach etwa eineinhalb Jahren Hemmungsmechanismen aufgrund der nunmehr erreichten neurobiologischen Reife einzusetzen und die Imitationsneigung zunehmend zu kontrollieren.
Das Kind reproduziert wie später auch Erwachsene zunehmend Verhaltensweisen anderer vor allem dann, wenn es dafür »positive Verstärkung« gibt. Bauer schreibt: »Wir übernehmen, vor allem bei erhöhter Sympathie oder wenn wir auf jemand ›eingestimmt‹ sind, unbewusst körperliche Aktionen anderer Personen. Wir gähnen, wenn andere gähnen, wir spiegeln unwillkürlich den Gesichtsausdruck unseres Gegenübers und ahmen bestimmte Verhaltensweisen nach, etwa indem wir uns am Kopf kratzen, die Beine übereinanderschlagen und Ähnliches. Und ab und zu geraten völlig gesunde Erwachsene in bestimmte ›Zustände‹, in denen die Kontrollmechanismen über die Spiegelneurone nahezu versagen. Ein solcher Zustand ist beispielsweise die Liebe.«40
Befinden sich Liebende – und dazu gehören auch Eltern, die ihre Kinder lieben – in Resonanz, vermittelt der Energiefluss von Herz zu Herz ein Gefühl von Weite und Wärme. Wärme ist eine Form von Energie. Der Volksmund spricht von warmherzigen und kaltherzigen Menschen – dabei wird aber vergessen, wie jemand so oder so geworden ist und auch, dass wir alle an der Aufrechterhaltung oder Veränderung dieser Zustände mitwirken (können), je nachdem, ob wir anderen Angst machen oder Zutrauen einflößen.
Der Psychoanalytiker Fritz Riemann (1902–1979) hat in seinem Grundsatzwerk aller psychosozialen Berufe, Grundformen der Angst, vier Typologien gezeichnet, nach denen die einen Angst vor Nähe und die anderen Angst vor Alleinsein haben und wiederum andere Angst vor Chaos oder umgekehrt Angst vor Struktur. Unabhängig von den psychiatrisch klingenden Bezeichnungen, die Riemann für seine Einteilung verwendet, kennt wohl jedermann die Konflikte, die sich ergeben, wenn die jeweiligen Gegensatzpaare aufeinandertreffen: Da will der sogenannte »Schizoide« allein sein und fühlt sich von den Nähebedürfnissen des »Depressiven« bedrängt, während sich der »Depressive« vom »Schizoiden« nicht wertgeschätzt und oft auch übergangen fühlt, wenn dieser seine einsamen Entscheidungen fällt. (Bei dem zweiten Gegensatzpaar, den »Zwanghaften« und den »Hysterischen«, werden Erstere als ordnungsliebend hoch angesehen, auch wenn ihnen oft Spontaneität und Großzügigkeit fehlt, während die Letzteren trotz ihrer Kreativität und Gemütlichkeit als unzuverlässig und unordentlich abgewertet werden.)
Diese sogenannten »Schizoiden« wählen gerne Berufe, in denen sie Nähe zu anderen Menschen vermeiden können: Sie streben Spitzenpositionen an, die ihren Gegenparts viel zu anstrengend wären, weil sie dann, von dienstbaren Geistern abgeschirmt und nur auf Anforderung »versorgt«, »unbehelligt« ihre Vorhaben »autonom« planen und »ungestört« realisieren können. Sie lieben Podien und Bühnen, die sie vom Publikum trennen, Kanzeln, Katheder, Richtertische oder Cockpits. Selbst wenn sie gelegentlich Nähe suchen, wenn sie sich beispielsweise verliebt haben, inszenieren sie Einseitigkeit: Sie wollen alles unter Kontrolle haben und bestimmen können – zu schmerzlich sind ihre vergangenen Erfahrungen von Manipuliertwerden, Ignoriertwerden, Verweigerung und, alles zusammen genommen, Überforderung ihrer Frustrationstoleranz und Resilienz41. Und meist werden sie deswegen sogar noch von Schuldgefühlen geplagt: »Warum bin ich nicht so perfekt, dass ich keine Schuldgefühle habe?« Ich sage dann immer: »Eben weil jemand perfekt – vollkommen – ist, hat er/sie auch Schuldgefühle – sonst würde ja etwas aus der möglichen Vollständigkeit fehlen!«
Zu den von ihm als »schizoide« Charaktere bezeichneten Menschen schreibt Riemann: »Besonders leicht kommt es zu solchen frühen schizoidisierenden Schädigungen auch bei den von Anfang an ungeliebten oder unerwünschten Kindern; weiter bei solchen, die frühen Trennungen, etwa durch längere Klinikaufenthalte wegen Erkrankungen, oder dem Verlust der Mutter ausgesetzt waren. Gleiches gilt bei lieblosen oder zu gleichgültigen Müttern, bei zu jungen Müttern, die für die Mutterschaft noch nicht reif waren, gilt auch für die ›Goldener-Käfig-Kinder‹, die oft lieblosem oder gleichgültigem Personal überlassen werden, weil die Mutter ›keine Zeit‹ für sie hat; auch die Mütter, die nach der Geburt zu früh wieder arbeiten und das Kind zu lange sich selbst überlassen müssen, können ihm nicht das geben, was es hier braucht.«42
Ich möchte im Zusammenhang mit diesen Riemann-Zitaten davor warnen, sie als Schuldzuweisung gegen Mütter zu missbrauchen: Sie zeigen nur Zusammenhänge auf, die oft unvermeidlich sind – denken wir nur an die im Krieg und während Naturkatastrophen geborenen Kinder, vor allem aber an die Mütter, die vom Kindesvater im Stich gelassen fernab ihrer Herkunftsfamilien sich und ihre Kinder existenziell durchbringen müssen. Man muss immer die sozialen Umstände mitberücksichtigen – und sich selbst fragen, was man denn selbst dazu beitragen kann bzw. beigetragen hat, die Belastungen der Nächsten zu vermindern.
Kreuzwege
Helfer gegen unerwünschte Seelenlasten finden sich an einer »Wegkreuzung« wie in der Sage von Herakles, in der dem in einsamer Gegend Zaudernden zwei Frauen begegnen: Die erste, aufgedonnerte, verspricht Lust und Genuss, tut jedoch auf Befragen kund, dass ihre Freunde sie Glückseligkeit, ihre Feinde