Habt Mut!. Erwin Kräutler

Habt Mut! - Erwin Kräutler


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was er will, was er für menschenwürdig und erstrebenswert hält. Aber diese Haltung kommt nicht als eine von oben daher, als eine nur belehrende und fordernde, eventuell sogar mit erhobenem Zeigefinger.

      Die Kirche war bis weit in das 20. Jahrhundert hinein in erster Linie die Hierarchie. Diese wurde als Mutter und Lehrerin der Gläubigen verstanden. Über die Stellung und Berufung der Laien in der Kirche gab es kaum theologische Abhandlungen. Die Laien waren so etwas wie Konsumenten dessen, was der Klerus ihnen vorsetzte, praktisch ohne Mitspracherecht. Unbedingter, sich unterwerfender Gehorsam der kirchlichen Obrigkeit gegenüber war gefordert.

      Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) sieht nun an erster Stelle das Volk Gottes. In der Dogmatischen Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“ ist nach einem einleitenden Kapitel über das Mysterium der Kirche das zweite große Kapitel dem Volk Gottes gewidmet. Erst im dritten Kapitel geht es um die Amtsträger, die nicht eine isolierte, abgehobene Kaste bilden, sondern im Dienste ebendieses Volkes Gottes stehen. Nach diesem dritten Kapitel über die Amtsträger kommt ein weiteres über die Laien. Es geht also nochmals um das Volk Gottes, denn das Wort Laie kommt ja vom griechischen laós (Volk) bzw. laikós (zum Volk gehörig). In diesem Kapitel steht dann auch der wunderbare Satz: „Wie die Laien Christus zum Bruder haben, der, obwohl aller Herr, doch gekommen ist, nicht um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen (vgl. Mt 20,28), so haben sie auch die geweihten Amtsträger zu Brüdern“ (LG 32).

      Es hat noch Jahrzehnte gedauert, bis diese Umkehrung der Verhältnisse Fuß gefasst hat. Wirklich vollzogen, intensiviert und gelebt wird dieses Kirchenbild von Papst Franziskus. Bereits in seinem ersten programmatischen Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ über die „Freude des Evangeliums“ hat er mit Blick auf die Gläubigen geschrieben:

      „Der heilige Thomas von Aquin betonte, dass die Vorschriften, die dem Volk Gottes von Christus und den Aposteln gegeben wurden, ‚ganz wenige‘ sind. Indem er den heiligen Augustinus zitierte, schrieb er, dass die von der Kirche später hinzugefügten Vorschriften mit Maß einzufordern sind, ‚um den Gläubigen das Leben nicht schwer zu machen‘ und unsere Religion nicht in eine Sklaverei zu verwandeln, während ‚die Barmherzigkeit Gottes wollte, dass sie frei sei‘. Diese Warnung, die vor einigen Jahrhunderten gegeben wurde, besitzt eine erschreckende Aktualität. Sie müsste eines der Kriterien sein, die in Betracht zu ziehen sind, wenn über eine Reform der Kirche und ihrer Verkündigung nachgedacht wird, die wirklich erlaubt, alle zu erreichen. (EG 43)“

      Das erinnert an die Auseinandersetzungen, die Jesus mit den religiösen Autoritäten seiner Zeit geführt hat. „Sie legen den Menschen schwere Lasten auf“ (Mt 23,4), kritisierte er – und hielt sein Evangelium der Freude dagegen: „Meine Bürde ist leicht“ (Mt 11,30). Für Papst Franziskus kommt zuerst die Frohbotschaft. Alles andere folgt daraus, sofern es aus der prinzipiellen und bedingungslosen Heilszusage Gottes an den Menschen ableitbar ist.

      Das Jahr der Barmherzigkeit

      Ein konkreter programmatischer Ausdruck dieser Haltung des Papstes ist das „Jahr der Barmherzigkeit“. Dieses Heilige Jahr begann symbolträchtig am 8. Dezember 2015, dem 50. Jahrestag des Abschlusses des Zweiten Vatikanischen Konzils. Es endet am 20. November 2016. Es ist somit eine Einladung, das mit dem Konzil begonnene Werk fortzuführen, und zwar ausdrücklich unter dem Aspekt der Barmherzigkeit.

      Dieses „Außerordentliche Jubiläum der Barmherzigkeit“ ist ein Mottojahr, das aus den innersten Beweggründen kommt, die Papst Franziskus in seinem Amt leiten. Barmherzigkeit ist für ihn der Kern der christlichen Botschaft und das Schlüsselwort seines Pontifikates. Er will mit dem Jahr der Barmherzigkeit die Kirche dahin führen, in allen Bereichen der Seelsorge Zeichen und Zeugin dieser Barmherzigkeit zu sein.

      Barmherzigkeit ist ein zutiefst biblischer Begriff. Ich erinnere mich gerne an eine Frau, Adriana heißt sie, die ich getraut habe. Ein Jahr nach der Hochzeit habe ich sie getroffen. Sie erzählte mir, sie hätte so gern ein Kind, aber es sei bisher nicht möglich gewesen. Sie war unendlich traurig. Wiederum ein Jahr später habe ich die Frau neuerlich getroffen, und sie war schwanger. Nie mehr vergesse ich das leuchtende Gesicht von Adriana, wie sie mit der Liebe einer jungen Mutter ihre Hände auf ihren bereits sanft gewölbten Schoß legte und mir erklärte, wie sich das Kind rege und bewege.

      Genau das will rachamim ausdrücken, das hebräische Wort für Barmherzigkeit. Dessen Wurzel ist rechem, das heißt Mutterschoß. Es ist die Erfahrung einer werdenden Mutter, die ein Kind in ihrem Schoß trägt, die tiefe Verbundenheit, alle damit verbundenen Gefühle selbstloser Liebe, Zärtlichkeit, Sorgfalt, Zuneigung und Güte. Niemand ist einander näher als eine Mutter und das Kind unter ihrem Herzen. Es gibt unter Menschen keine ursprünglichere Erfahrung liebender Verbundenheit als diese zärtliche Einheit. Das Alte Testament schreibt alle diese „Gefühle“ Gott zu. Barmherzigkeit offenbart somit vom Wortstamm her die mütterliche, die weibliche Seite Gottes.

      Genau darauf zielt das Jahr der Barmherzigkeit: dass Menschen die unmittelbare und bedingungslose Zuwendung Gottes erfahren, auch und gerade im Handeln der Kirche. So war beispielsweise die Lossprechung in der Beichte für eine Frau, die eine Abtreibung durchgeführt hatte, immer einem Bischof vorbehalten. Franziskus hat diese Vollmacht für das „Jahr der Barmherzigkeit“ allen Priestern erteilt. Es ist ihm damit etwas gelungen, was der katholischen Kirche zumal in Fragen des Lebensschutzes so schwerfällt: dem einzelnen Menschen in seiner persönlichen Situation mit Liebe zu begegnen und ihm gerecht zu werden, ohne damit den Grundsatz aufzugeben, dass das menschliche Leben von der Empfängnis bis zum Tod unantastbar ist.

      Franziskus unterläuft jenes kirchliche Schwarz-Weiß-Denken, das entweder nur die strenge Sitte und Moral oder den völligen Relativismus und sittlichen Verfall kennt. Er lebt das Wort, das Jesus angesichts der „Sünderin“ gesagt hat, die man ihm vorgeführt hatte: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“ Als sich nach und nach alle widerwillig, aber sozusagen alternativlos, aus dem Staub machen, sagt Jesus: „Dann will auch ich dich nicht verurteilen. Gehe hin und sündige nicht mehr“ (Joh 8,1–11). Diesem Vorbild folgend sagt Franziskus, die Priester müssten für betroffene Frauen „Worte der echten Annahme“ finden – verbunden „mit einer Reflexion, die hilft, die begangene Sünde zu begreifen“.

      Für Franziskus steht an erster Stelle, dass Frauen, die abgetrieben haben, die Vergebung Gottes nicht verweigert werden darf. Er übersieht dabei nicht, dass die veränderte Beziehung moderner Gesellschaften zum Leben – ob am Anfang oder am Ende – aus Sicht der Kirche schwerwiegende Fragen aufwirft. „Das Drama der Abtreibung wird von manchen mit einem oberflächlichen Bewusstsein erlebt“, schreibt er. „Viele andere dagegen, die diesen Moment zwar als Niederlage erleben, meinen, keinen anderen Ausweg zu haben.“ Er denke an die Frauen, die eine Abtreibung vornehmen ließen, und wisse um den Druck, der sie zu dieser Entscheidung geführt habe. „Ich weiß, dass es ein existenzielles und moralisches Drama ist“, sagt Franziskus und betont zugleich, er sei vielen Frauen begegnet, „die in ihrem Herzen die Narben dieser leidvollen und schmerzhaften Entscheidung trugen“.

      Ich habe als Bischof selbst solche Erfahrungen gemacht, wie junge Frauen buchstäblich zur Abtreibung gezwungen wurden, indem man ihnen angedroht hat, sie mittellos auf die Straße zu setzen, wenn sie den Eingriff nicht vornehmen ließen. Sie kamen dann nachher zu mir und baten weinend um Hilfe und wollten, dass ich sie „um Gottes und seiner heiligsten Mutter willen“ von ihrem tief liegenden Schock und ihrer Schuld befreie. Manchmal sagte mir eine Frau, dass sie in der Nacht schweißgebadet aufwache, weil sie Albträume habe und ihr Kind schreien höre. Ein grausames Schicksal, das Frauen nie mehr wegstecken können. Ich habe jedes Mal mit ihnen gebetet und ihnen gesagt, dass Gott sie ganz sicher nicht verdamme und nie aufhöre, sie zu lieben. „Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt; darum habe ich dich an mich gezogen aus lauter Gnade“, lesen wir beim Propheten Jeremia (Jer 31,3). Ich legte ihnen die Hände auf und sprach die sakramentale Lossprechung.

      Ich fragte mich allerdings, in welchem Maße eine solche Frau subjektiv, also in dieser ihrer schaurigen Grenzsituation, tatsächlich Schuld auf sich geladen hat. Es brachte mich jedes Mal in Rage, wenn ich an die


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