Funkelsee – Flucht auf die Pferdeinsel (Band 1). Ina Krabbe

Funkelsee – Flucht auf die Pferdeinsel (Band 1) - Ina Krabbe


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Ställe, die vor langer Zeit die schönsten Pferde des Landes beherbergt hatten, dienten nur noch Ratten und Spinnen als Dach über dem Kopf. Es fehlte einfach am Geld. Die Schwestern hatten getan, was sie konnten, um das Schloss zu erhalten, aber das Anwesen verfiel zusehends.

      Wenn Malu die Augen schloss, konnte sie noch das Klappern der Hufe in der Stallgasse hören, das Stimmen­gewirr der Stallburschen und der Mädchen, die sich über die Vorzüge ihrer Lieblingspferde unterhielten. Und das un­geduldige Schnauben der gesattelten Pferde, die es nach draußen drängte. Es gab keinen schöneren Ort auf der Welt – jedenfalls nicht für sie!

      »Ich komme nachher noch mal vorbei, Papilopulus«, flüsterte Malu dem Pferd zu, das sie immer noch aufmerksam anschaute. Sie tauchte ihre Hand unter die Mähne und strich über das glatte, warme Fell. »Vielleicht drehen wir dann noch eine Runde? Was meinst du?«

      Papilopulus stampfte unruhig mit dem Vorderhuf und blähte die Nüstern. Sein Kopf schnellte auf und ab.

      »He, soll das heißen, du hast keine Lust?«, fragte Malu verwundert. »Oder ist etwas anderes?« Sie folgte dem Blick des Pferdes, der jetzt starr auf den Waldrand gerichtet war. Etwas Rotes blitzte zwischen den Büschen auf.

      »Das macht dich so nervös? Ein roter Stofffetzen? Papilopulus, du bist vielleicht mal ein schnelles Rennpferd gewesen, aber du bist echt eine alte Schissbuxe«, lachte das Mädchen. Sie gab dem Pferd noch einen Klaps auf den Hals und stapfte dann auf den Waldrand zu. »Ich werde dich retten, Papi. Ich werde dich vor dem bösen Stofffetzen retten!«, rief sie über die Schulter zurück.

      Der morsche Holzzaun war kein wirkliches Hindernis. Weder für Malu, noch für Papilopulus. Aber scheinbar hatte der alte Wallach sowieso keine Lust mehr auf Ausflüge in die Umgebung und blieb lieber auf der Weide in der Nähe seines Futtertrogs.

      Malu quetschte sich zwischen den alten Holzbohlen hindurch und sah sich suchend um. Irgendwo hier in den Büschen hatte sie den roten Fetzen gesehen. Sie bog die Äste zur Seite und kämpfte sich etwas tiefer ins Gestrüpp. »Autsch!« Ein Zweig peitschte ihr ins Gesicht und hinterließ einen schmerzhaften Striemen. Aber da war er, jetzt hatte sie den roten Fleck hinter den Blättern erspäht.

      Ein paar Schritte noch. Malu griff in den dichten Busch, um das Ding herauszuziehen, als der rote Stoff plötzlich aufsprang und sich ihr entgegenwarf. Zweige schnellten hoch und Äste brachen. Mit einem erstickten Schrei strauchelte Malu zurück, stolperte und fiel rückwärts ins Gebüsch. Der alte Fetzen entpuppte sich als roter Kapu­zen­pullover, aus dem zwei Arme und ein Kopf ragten, die zu einem etwa fünfzehnjährigen Jungen gehörten. Zornige Augen blitzten unter seinen blonden strubbeligen Haaren hervor. Malu starrte ihn erschrocken an, sie fühlte ihr Herz bis zum Hals pochen und war unfähig sich zu bewegen.

      Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte der Junge, dann drehte er sich um und stürmte davon. Mit einem Satz sprang er über den Zaun und rannte an dem verblüfften Papilopulus vorbei in Richtung Schlosshof. Malu hing reglos wie ein Käfer auf dem Rücken in den Zweigen und sah ihm hinter­her, wie er über den Platz sprintete und dann durch das große Eingangstor vom Schlossgelände verschwand.

      Wer war das? Was hatte der Junge hier gemacht? Immer noch völlig perplex rappelte Malu sich auf. Ihre Beine waren wie aus Gummi. Warum sollte jemand in einem Busch hocken und auf eine Wiese mit einem alten Pferd und einem zerbröselten Schloss starren? Für einen Ein­bruch war Schloss Funkelfeld nun wirklich kein lohnendes Objekt mehr. Das sah selbst ein Blinder! Ob er Papilopulus stehlen wollte? Oder ...? Wie ein heißer Blitz schoss es ihr durch Kopf und Bauch. Oder ob er ihm etwas antun wollte? Malu hatte schon von Leuten gelesen, die Pferde oder Kühe quälten. Einfach so! Sie begann zu schwitzen. Und das kam in diesem Mo­ment nicht von der Sonne, auch wenn die jetzt gnadenlos auf sie herunterbrannte. Eine plötzliche Angst ergriff sie, Angst davor, dass Papilopulus etwas passieren könnte. Dass ihm jemand weh tun könnte und sie wäre nicht da, um ihm zu helfen. Nein, das würde nicht geschehen. Das durfte nicht geschehen!

      Schnell schlug sie sich zurück durch die Büsche, schlüpfte zwischen den Zaunbrettern hindurch und rannte zu Papi­lopulus, der sich inzwischen wieder dem saftigen Gras zugewandt hatte und genüsslich einen Büschel nach dem anderen ausrupfte.

      Sie musste den Funkelfeld-Schwestern Bescheid sagen, dass sich jemand am Schloss herumtrieb, der hier absolut nichts zu suchen hatte. Bestimmt würden sie die Polizei rufen.

      Malu kontrollierte noch schnell, ob Papilopulus frisches Wasser im Trog hatte, dann rannte sie über den Schloss­platz auf den Wohntrakt neben dem Hauptgebäude zu. Ihre Mutter wollte heute zuerst bei Gesine von Funkelfeld nach dem Rechten sehen, also hielt sie auf die alte Holztür mit der abblätternden blauen Farbe zu. Aber schon als sie den Flur betrat, merkte sie, dass etwas nicht stimmte. Putz­eimer und Lappen lagen achtlos auf der Treppe und aus der Küche hörte sie einen erstickten Laut, als ob jemand sich bemühte, nicht laut loszuschreien, obwohl er es am liebsten tun wollte.

      2. Kapitel

      Vorsichtig drückte Malu die Küchentür auf. Ihre Mutter stand mit dem Rücken zu ihr an der Spüle und schüttete eine Kanne Tee auf. Sie war groß und schlank und hatte halblange braune Haare. Wie immer, wenn sie arbeiten ging, bändigte sie ihre Locken mit einem bunten Tuch, aus dem jetzt einige Strähnen heraushingen. Als sie den Kopf zu Malu wandte, sah sie, dass ihre Mutter ganz bleich im Gesicht war.

      »Was ist passiert?«, fragte Malu erschrocken.

      Rebekka Baumgarten kniff die Lippen zusammen und nickte zum Tisch hinüber und jetzt erst sah Malu, dass Gesine von Funkelfeld zusammengesunken in dem Lehn­stuhl am Ofen saß und sich ein Taschentuch vor den Mund presste.

      Normalerweise war Gesine von Funkelfeld eine äußerst imposante Erscheinung, sie war groß und wirkte immer so stark und unerschütterlich wie ein alter Baum. Malu mochte die grauhaarige Dame gerne. Sie freute sich immer, wenn Malu ins Schloss kam, um nach Papilopulus zu sehen und hatte dann ein paar Kekse und etwas zu trinken für sie. Ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester Sybill. Sybill von Funkelfeld war eine kleine, schmale Person mit verkniffenem Gesicht. Sie flößte Malu immer ein bisschen Angst ein mit ihrem strengen Blick und der herrischen Stimme, mit der sie das Mädchen manchmal durch das Schloss scheuchte, um dieses und jenes zu erledigen. Aber das war eben der Preis dafür, dass sie bei Papilopulus ein- und ausgehen durfte, wie sie wollte.

      »Zu spät, zu spät, wer Böses sät«, krächzte Rosa. Die rosafarbene Kakadudame trippelte auf ihrer Stange herum, die neben dem Sessel stand, in dem Gesine von Funkelfeld saß. Der Papagei war schon sehr alt, Gesine hatte mal er­zählt, dass Rosa schon ihrem Vater (einem echten Baron!) gehört hatte und von ihm hatte sie auch die ganzen Reime, die sie immer vor sich hinplapperte. Gesines Vater war nicht nur Baron, sondern scheinbar auch ein begnadeter Hobbydichter gewesen, er hatte sogar ein Buch mit seinen Gedichten herausgegeben, aber leider besaß Gesine kein Exemplar mehr davon. Malu mochte die kleine Kakadu­dame gern, doch diesmal beachtete sie den Papagei nicht weiter, sondern betrachtete besorgt die alte Frau im Lehn­stuhl. Ihre kurzen grauen Haare standen wirr um ihr faltiges Gesicht herum und ihre Augen blickten starr geradeaus. Malu bekam eine Gänsehaut. Obwohl draußen bestimmt 30 Grad herrschten, war es kalt hier in der Küche. Am liebsten hätte sie ein paar Holzscheite im Ofen angezündet.

      Ihre Mutter stellte eine Tasse mit dampfendem Tee vor der alten Dame ab und drehte sie so, dass der Henkel auf der rechten Seite stand. Dabei strich sie ihr beruhigend über den Rücken.

      »Setz dich, Malu«, sagte sie dann zu ihrer Tochter. »Und nimm dir auch einen Tee.«

      Wortlos schüttete sich Malu Tee in eine Tasse und setzte sich an den Küchentisch. Ein schwerer Kloß hatte sich in ihrem Magen breitgemacht und lag wie ein Felsbrocken da­rin. Irgendetwas Schlimmes war passiert und sie wollte am liebsten gar nicht wissen, was es war.

      Aber einen Moment später war es schon heraus. »Sybill ist heute Morgen gestorben. Es kam eben ein Anruf aus dem Krankenhaus«, erklärte Frau Baumgarten ihrer Tochter.

      »Was ...?« Malu blickte erschrocken von ihrer Mutter


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