Die Verschwundenen. Wolfgang Popp

Die Verschwundenen - Wolfgang Popp


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      Wolfgang Popp

       DIE VERSCHWUNDENEN

      Roman

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      Inhalt

       Alpbacher oder das Mädchen aus der Asche

       Felder oder mit dem Rücken zur Welt

       Philip oder der Weg ist das Spiel

       Heise oder die Sprache unterm Asphalt

       Couvier oder von hier bis zur Ewigkeit

      »People disappear every day.«

      »Every time they leave the room.«

      Beruf: Reporter (R: Michelangelo Antonioni)

      Alpbacher oder das Mädchen aus der Asche

      Ich saß auf der Piazza Torquato Tasso in Sorrent und aß gerade einen Teller Cannelloni al Mascarpone e Ricotta, als ich Alpbacher sah. Auch wenn unsere letzte Begegnung fast zwanzig Jahre zurücklag, war ich mir doch gleich sicher, dass es sich bei dem auf einem schwarzen Waffenrad vorbeifahrenden Mann mit dem weißen Panamahut um meinen ehemaligen Lateinlehrer handelte. Nicht nur war sein Gesicht mit dem sorgfältig gestutzten Schnurrbart seit damals fast unverändert, auch das dunkelbraun karierte Sakko ähnelte auf verblüffende Weise dem, das er im Unterricht immer getragen hatte. Was mir aber letztendlich die Gewissheit gab, Alpbacher vor mir zu haben, war seine Art sich zu bewegen, eine genießerische Langsamkeit, die sich jeder Anstrengung verweigerte.

      Ich verdiente mein Geld als Hotelkritiker. Schon gut acht Jahre ging ich dieser Beschäftigung nach und war in dieser Zeit fast ununterbrochen unterwegs gewesen. Dass ich einmal drei oder vier Tage an demselben Ort verbrachte, geschah nur selten. Meine Bekannten beneideten mich darum, derart viel in der Welt herumzukommen, ich hingegen bemerkte, wie mir mein Leben durch die dauernden Ortsveränderungen zunehmend unwirklich wurde. Oft brauchte ich morgens nach dem Aufwachen einige Momente, bis ich wieder wusste, wo und manchmal auch wer ich war. Letzteres hatte mit Sicherheit auch damit zu tun, dass ich, um unerkannt zu bleiben, unter wechselndem falschen Namen und Beruf reiste.

      Alpbacher war mir immer wie der archetypische Einzelgänger vorgekommen. Wäre er ein Gebäude gewesen, dann eine freistehende Kathedrale. Genauso wirkte er auch auf seine Umgebung. Allein seine Anwesenheit gebot Ruhe, und so ausgelassen die Pausenstimmung auch gewesen sein mochte, sobald Alpbacher den Klassenraum betrat, wurde es augenblicklich still. Niemals musste er sich durch ein lautes Wort oder die Androhung von Strafen Respekt verschaffen. Es reichte sein Gesichtsausdruck, der uns Schüler ernst nahm, schon Jahre bevor wir uns selbst ernst nehmen konnten.

      Meinen richtigen Namen trug ich nur mehr auf dem Weg von einem Hotel zum nächsten, befreit von der eigentlich kindischen Geheimniskrämerei um meine wahre Identität. Immer wichtiger wurden mir daher diese Zeiten unterwegs, und um sie möglichst lang auszudehnen, nahm ich, wann immer es die Entfernungen erlaubten, nicht den Flieger, sondern die Eisenbahn, in diesem Fall den Nachtzug nach Neapel. Oft ergaben sich unterwegs erstaunliche Gespräche. Keiner tauscht sich so offen aus, bemerkte ich erstaunt, wie zwei Fremde im Schutz ihrer Fremdheit. So hoffte ich, dass sich vielleicht auch im Nachtzug nach Neapel vor dem Einschlafen noch das eine oder andere Gespräch ergeben würde, doch als ich dann meine Mitreisenden sah, war keiner dabei, mit dem ich reden wollte, und ihnen schien es nicht anders zu gehen, alle löschten sie schon bald ihre Lichter, zwei von ihnen sogar ohne ein Gute Nacht. Dann atmete einer meiner Bettnachbarn auch noch keuchend und mit langen Unterbrechungen, was auf eine merkwürdige Weise ansteckend wirkte, sodass ich selbst bald das Gefühl hatte, nur schwer Luft zu bekommen. So schlimm wurde mir die Atemnot schließlich, dass ich aufstehen musste und hinausgehen auf den Gang, wo ich dann den Rest der Nacht unruhig vor mich hindösend auf einem Klappsessel verbrachte und in einer langgezogenen Linkskurve fast auf den Boden gerutscht wäre.

      Um fünf Uhr morgens erreichten wir Neapel, und ich überbrückte die Wartezeit auf den Anschlusszug nach Sorrent – es ging um eine knappe Stunde – im bereits geöffneten Bahnhofscafé. Um mich auf den Beinen zu halten, trank ich zwei Espresso und danach noch einen Cappuccino, sodass mir, als ich wieder im Zug saß und die Amalfiküste entlangfuhr, die Hände zitterten. Kurz vor acht kam ich in meinem Hotel an und hätte dort sofort mein Zimmer beziehen können, was ich auch positiv in meinen Aufzeichnungen bemerkte, nur war ich von dem Kaffee so aufgeputscht, dass an Schlaf nicht zu denken war. Ebenso wenig war ich aber in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. In diesem flirrenden und zugleich tranceartigen Zustand wanderte ich ziellos durch Sorrent, entdeckte auf dem Markt männerfaustgroße Zitronen, und in meinem Reiseführer las ich, dass hier vor der Küste die Sirenen einst ihre unendlich verführerischen und deshalb verhängnisvollen Lieder gesungen hatten.

      Seit Alpbachers plötzlichem Fortgang vor knapp zwanzig Jahren hatte ich mir immer wieder gewünscht, ihn wiederzutreffen, und sogar einige, allerdings nur halbherzige und deshalb auch nicht von Erfolg gekrönte Versuche unternommen, etwas über seinen Aufenthaltsort herauszufinden, denn er hatte damals nicht nur seinen Lehrerposten gekündigt, sondern war auch aus Wien weggezogen. Als Alpbacher auf der Piazza Torquato Tasso an mir vorbeiradelte, aus der Richtung des Bahnhofs kommend und anschließend in die Via della Pietà mit ihren mittelalterlichen Wohnhäusern einbiegend, war ich jedoch durch sein plötzliches Auftauchen zu überrascht, um reagieren zu können. Als ich wieder in der Lage gewesen wäre, ihn auf mich aufmerksam zu machen, war er bereits zu weit weg und gleich darauf um eine Straßenecke verschwunden.

      Anna wechselte in der sechsten Schulstufe in unsere Klasse. Am auffallendsten war ihre Unscheinbarkeit, die beinahe an Unsichtbarkeit grenzte. Anna gehörte zu den Menschen, die im Café eine Ewigkeit an ihrem Tisch saßen, ohne vom Kellner bemerkt zu werden. Ihre Haut war auch im Hochsommer von einer Blässe, die an eine frisch geweißte Wand denken ließ. Gerahmt wurde ihr wandfarbenes Gesicht von einem pechschwarzen Pagenkopf. Annas Stimme war ähnlich unscheinbar wie ihr Aussehen. Häufig wusste ich nicht, ob sie gerade etwas gesagt oder ob ich mir das nur eingebildet hatte. Sie trug ausschließlich Kleider, die grau waren oder beige oder die Farbe von Eierschalen hatten. Ich hätte damals nicht sagen können, ob mir Anna gefiel. Dafür war zu wenig von ihr da.

      Bei Alpbacher bewirkte ihr Auftauchen jedoch eine seltsame Wandlung. Mir fiel auf, dass er nach dem Unterricht immer wieder auf sie zuging und sie in Gespräche verwickelte, in den Stunden wirkte er manchmal mit den Gedanken woanders, und seine überwältigende innere Ruhe war dünn geworden und durchscheinend. Hin und wieder kam es jetzt vor, dass Unruhe herrschte in der Klasse.

      Für mich stand damals auf der Piazza Torquato Tasso fest, dass ich Sorrent nicht verlassen würde, bevor ich nicht mit Alpbacher gesprochen hatte. Wie er an mir vorbeigeradelt war, das hatte etwas Gewohnheitsmäßiges gehabt, und so nahm ich an, dass er mit der Stadt vertraut war, ja wahrscheinlich seit geraumer Zeit hier lebte. Möglicherweise hatte er sich auf dem täglichen Heimweg befunden und würde auch morgen wieder hier vorbeikommen, auch weil die Piazza Torquato Tasso wie ein Nadelöhr mitten in Sorrent lag, die einzige wesentliche Verbindung zwischen der Neustadt im Osten und der Altstadt im Westen.

      Etwa ein halbes Jahr nach Annas Wechsel in unsere Klasse verkündete Alpbacher am Ende einer Lateinstunde ganz überraschend seinen Abschied von der Schule. Mit dem heutigen Tag, so Alpbacher damals, werde er nicht nur unserem Gymnasium, sondern dem Lehrberuf überhaupt den Rücken kehren. So tragisch ich damals seinen Weggang empfand, wirkte die Entscheidung auf mich doch folgerichtig, da Alpbacher, als er diese Ankündigung


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