Die Verschwundenen. Wolfgang Popp

Die Verschwundenen - Wolfgang Popp


Скачать книгу
Fresko in der nötigen Ruhe anzusehen.

      Wir trafen uns um fünf Uhr früh im Bahnhofscafé von Sorrent. Im Stehen an der Theke tranken wir unseren Kaffee, ich einen doppelten Espresso und Alpbacher einen Cappuccino, in dessen Milchschaum er immer wieder genüsslich sein Croissant eintauchte. Der Nahverkehrszug der Circumvesuviana-Linie brachte uns in zwanzig Minuten zum Bahnhof Villa dei Misteri, der keine hundert Meter entfernt lag von der Porta Marina, dem Haupteingang zum Ausgrabungsgelände von Pompeji.

      Noch im Zug, mit Blick auf den im Morgendunst zu schweben scheinenden Vesuv, erzählte Alpbacher von den Überlebenden des Ausbruchs vor fast zweitausend Jahren, die von ihren Schiffen aus völlig verstört dabei zugesehen hatten, wie ihre Heimatstadt unter den Lavamassen verschwand. Die Menschen hatten Polster auf ihre Köpfe gebunden, zum Schutz vor den Gesteinsbrocken, die auch weit vor der Küste noch vom Himmel regneten. Ihm, so Alpbacher, war es beim Lesen dieser Berichte aber immer vorgekommen, als wollten die Pompejaner sich mit den Polstern nicht vor Verletzungen schützen, sondern damit die Erinnerung an ihre vor ihren Augen verschwindende Heimatstadt in den Köpfen halten.

      Wir folgten der ehemaligen Ausfallstraße nach Herculaneum. Die Sonne stieg hinter uns in den Himmel und warf uns auf der menschenleeren Via della Tombe unsere Schatten vor die Füße, und wir gingen ihnen nach ins Schattenreich, denn nach etwa hundert Metern deutete Alpbacher nach rechts und erklärte, dass sich hier der Friedhof der Stadt befunden hatte, bevor die ganze Stadt zum Friedhof geworden war. Alpbacher machte aber keine Anstalten, die antike Nekropole zu betreten, sondern blieb auf der Straße, die sich gleich darauf verzweigte, worauf wir uns nach rechts wandten. Wir gelangten zu einem weitläufigen Gebäudekomplex mit unzähligen Räumen.

      Das sei, meinte Alpbacher, die Mysterienvilla, und dann führte er mich ins ehemalige Esszimmer mit dem alle vier Wände umlaufenden Fresko. Hier ist sie, meinte Alpbacher und deutete auf eine ätherische Mädchengestalt, die von einem weißbärtigen alten Mann aus einer im Trompe-l’œil-Stil gemalten Türöffnung heraus beobachtet wurde. Die Darstellung zeigt die feierliche Initiation der jungen Frau, sagte Alpbacher, ihre Aufnahme in den Kreis der Anhänger des Gottes Dionysos. Es war augenscheinlich, warum die Darstellung Alpbacher derart faszinierte. Das blasse Mädchen schien wie nicht von dieser Welt und ihr Gesichtsausdruck wirkte entrückt, als wüsste sie Dinge, die andere nicht einmal ahnten. Wir standen wortlos nebeneinander, und je länger ich die Figur betrachtete, umso mehr erinnerte sie mich an Anna. Dann merkte ich, dass Alpbacher mich beobachtete, und als er auf meinem Gesicht mein stummes Erstaunen entdeckte, nickte er mir zu, so als würden wir jetzt ein Geheimnis teilen.

      Ich hatte gehofft, auch noch den Rest des Tages mit Alpbacher verbringen zu können, als wir jedoch am späten Vormittag wieder in Sorrent ankamen, reichte er mir noch in der Bahnhofshalle die Hand und verabschiedete sich von mir. Ich hatte nur noch Zeit, mich für den Ausflug nach Pompeji zu bedanken, bevor Alpbacher sich umdrehte und davonging, eine schwarze Silhouette vor dem gleißend hellen Viereck des Ausgangs.

      Zurück in Wien machte ich mich auf die Suche nach Anna. Es war einfacher, als ich gedacht hatte, denn ich fand sie im Internet unter ihrem Mädchennamen. Ich notierte die Nummer, es vergingen dann aber etliche Tage, bevor ich tatsächlich zum Telefon griff und sie anrief. Sie meldete sich nicht mit ihrem Namen, sondern mit einem kurz angebundenen Ja, das verärgert klang, so als wäre sie bei etwas gestört worden. Als sie hörte, wer am Apparat war, fragte sie nicht, was ich wolle, sondern schwieg und wartete darauf, dass ich weitersprach. Ein wenig über die alten Zeiten plaudern, sagte ich bemüht beiläufig, und dann meinte ich noch, als wäre es mir gerade eben eingefallen, dass ich zufällig Alpbacher wiedergesehen hätte. Sie schwieg, dann hörte ich, wie sie mehrmals Atem holte, so als wolle sie etwas sagen, es kam aber nichts. Schließlich schlug sie ein Treffen vor, noch für denselben Nachmittag.

      Ich machte eine Runde durch das Café, ohne Anna zu entdecken, und setzte mich schließlich an einen Tisch am Fenster, von dem aus ich den Eingang im Blick hatte. Kaum dass ich saß, trat jemand von hinten zu mir. Es war Anna, die schon im Lokal gewesen sein musste. Dass sie mir nicht aufgefallen war, hatte aber nichts mit ihrer früheren Unscheinbarkeit zu tun. Anna hatte sich völlig verändert, und von ihrem ätherischen Wesen war nichts mehr zu bemerken. Ihre Haut war grobporig und glänzte ungesund, ihr Gesicht zeigte die ersten Falten, und die Haare hatte sie kurz geschnitten und rot gefärbt, was ihr überhaupt nicht stand. Zwischen den Fingern, die gelb waren vom Nikotin, hielt sie eine Zigarette. Es war offensichtlich, dass sie zu viel rauchte und zu wenig schlief.

      Auf meine Frage, was sie so mache, gab sie nur zurückhaltende Antworten. Dass sie viel unterwegs und im Musikgeschäft tätig sei, sagte sie. Nein, sie sei keine Musikerin, sie könne weder singen noch spiele sie ein Instrument. Als ich sie drauf ansprach, dass sie in der Schule ganz hervorragend Klavier gespielt habe, winkte sie ab, nahm einen Schluck von ihrem kleinen Bier und sagte, das sei vorbei. Schließlich erzählte sie, dass sie mit Musikgruppen auf Tour gehe und verantwortlich sei für Aufbau und Tontechnik, und da fielen mir auch die Kratzer auf ihren Handrücken auf und wie rau ihre Finger waren. Sie sagte, sie liebe es zuzupacken, und ich glaubte ihr kein Wort.

      Dann fragte sie mich nach meinem Beruf, es klang aber wie eine Floskel. Als ich ihr sagte, dass ich als Hotelkritiker mein Geld verdiente, meinte sie, das sehe mir ähnlich und dass ich mich seit der Schulzeit gar nicht verändert habe, und ich wusste, dass sie es abschätzig meinte.

      Schließlich begann ich zu erzählen, von meiner Italienreise und wie ich in Sorrent Alpbacher getroffen hatte, und so sehr sie sich bisher bemüht hatte, teilnahmslos zu wirken, bekam ihre Ruhe jetzt Sprünge wie eingetrocknetes Make-up nach einer durchgemachten Nacht. Ich sah Anna an, dass sie plötzlich nicht mehr wusste, wohin mit ihren Gedanken. Ich fürchtete schon, sie würde aufstehen und sich davonmachen, sie blieb aber sitzen und fitzelte sich abstehende Haut vom Rand ihres Zeigefingernagels, und dann begann sie mit gänzlich veränderter Stimme zu erzählen, einer Stimme, die mich zum ersten Mal an die frühere Anna erinnerte.

      Sie sprach von den Blicken Alpbachers und dem darin liegenden Staunen.

      Ein leidenschaftliches Interesse, sagte Anna, aber frei von jedem Begehren. Immer wieder suchte er das Gespräch mit mir, stellte dann aber kaum Fragen, sondern wartete meist ab, dass ich von mir aus zu reden begann. Oft standen wir uns deshalb schweigend gegenüber, und dabei kam es mir nicht nur einmal so vor, als würde er in mir jemand anderen sehen. Jemand, der ich nicht war oder noch nicht war, als gäbe es ein verstecktes Wesen in mir, das geweckt werden müsse.

      Ich kann Alpbacher jedoch nichts vorwerfen, denn er hat sich mir gegenüber immer völlig korrekt verhalten. Nichtsdestotrotz hat mich sein Blick aber nicht mehr losgelassen, so Anna abschließend. Diese stumme Forderung, zu sein, was er in mir gesehen hat, dieses rätselhafte Wesen, von dem ich nichts wusste, das aber irgendwo in mir schlummern musste, war gleichzeitig Fluch und Versprechen. Einerseits wollte ich wie jede andere Jugendliche auch mich selbst entdecken, andererseits war ich natürlich neugierig auf dieses unbekannte Wesen in mir und hatte außerdem das ungute Gefühl, dass mein eigener Lebensentwurf niemals heranreichen würde an die Vorstellungen, die Alpbacher von mir hatte. Und auch die Männer, denen ich von da an begegnete und die ich hätte lieben wollen: Ihre Blicke kamen nicht heran an die Blicke von Alpbacher. Was sie in mir sahen, kannte ich schon längst. Zumindest kam mir das so vor.

      Die Worte waren nur so aus Anna herausgesprudelt wie etwas, das schon die längste Zeit den Weg ins Freie gesucht hatte. Jetzt schien ihr bewusst zu werden, dass sie ihr wahrscheinlich größtes und intimstes Geheimnis gerade mir erzählt hatte, einem ehemaligen Klassenkollegen, von dem sie nie besonders viel gehalten hatte.

      Gleich darauf stand Anna auf und ging aufs Klo. Als sie zehn Minuten später nicht wieder zurück war, zahlte ich und verließ das Lokal. Ich schlief schlecht in dieser Nacht und schreckte frühmorgens auf aus einem Traum. Anna war darin vor dem Fresko im Esszimmer der Mysterienvilla gestanden und hatte mit einem Schraubenzieher dem blassen Mädchen Stück für Stück das Gesicht weggekratzt. Der weißbärtige Alte war in meinem Traum zu Alpbacher geworden. Er beobachtete Anna, bis sie ihr Werk vollendet hatte, und verschwand dann rückwärts im Dunkel der gemalten Türöffnung. Alpbachers Gesichtsausdruck war dabei unbestimmt, sodass ich nicht hätte sagen können, ob er bedrückt war oder froh über das endgültige Verschwinden


Скачать книгу