Auf die Liebe kommt es an. Walter Klaiber

Auf die Liebe kommt es an - Walter Klaiber


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oder der Zungenrede. In all diesen Gaben, besonders aber in der zuletzt genannten, sah man ein Geschenk des Heiligen Geistes und nannte sie deshalb Geistesgaben. Die offene Frage aber war: Hat jemand nur dann den Heiligen Geist, wenn er eine solche Gabe hat?

      Mit dieser Frage hatte sich die Gemeinde an den Apostel Paulus gewandt. Manche von ihnen meinten: Vor Gott zählt nur das ganz Besondere, das offensichtliche Wunder. Nicht die Fähigkeiten sind entscheidend, die wir durch unsere Gene oder im Elternhaus erhalten oder die wir uns selbst angeeignet haben, sondern allein die, die uns ohne unser Zutun, gewissermaßen senkrecht von oben, geschenkt worden sind. Nur sie sind Gaben des Geistes Gottes. Und nur die Christen, die besondere Fähigkeiten wie das Reden in „Sprachen“ oder „Zungen“ aufweisen können, haben wirklich den Heiligen Geist.

      Paulus nimmt diese Anfrage sehr ernst. Drei Kapitel widmet er ihr in seinem ersten Brief an die Korinther (Kap. 12–14) und das berühmte Kapitel 13 steht mitten in dieser Auseinandersetzung.

      Was sagt der Apostel zu dieser Frage? Zunächst macht er die Korinther darauf aufmerksam, dass ekstatische Erscheinungen als solche noch lange kein Beweis dafür sind, dass dabei der Heilige Geist am Werk ist. Auch in heidnischen Religionen kommen solche Phänomene vor. Entscheidend ist der Inhalt. An einem extremen Beispiel wird das gezeigt: Wenn jemand sagte sollte: „Verflucht sei Jesus!“, dann hätte das sicher nicht der Heilige Geist eingegeben, so eindrucksvoll die Begleitumstände sein mögen: Umgekehrt: Wenn jemand aus vollem Herzen bekennen kann: „Jesus Christus ist mein Herr!“, dann ist dieses Bekenntnis von Gottes Geist gewirkt (Kap. 12,1-3).

      Paulus führt ein weiteres Argument an: Gott schenkt den Menschen, die zur Gemeinde gehören, ganz unterschiedliche Begabungen. Er hat auch sehr verschiedene Aufgaben für sie und stattet sie dafür mit ganz unterschiedlichen Arten der Kraft aus, die er seinen Leuten verleiht. Im Grunde ist jeder Christ von Gott begabt. Aber jede Begabung soll so genutzt werden, dass sie auch anderen hilft (Kap. 12,4-11).

      Das führt Paulus zu seinem entscheidenden Einwand gegen die Ansicht, nur Leute mit ganz besonderen Gaben hätten Gottes Geist. Er vergleicht die Gemeinde mit einem Organismus. Für ihn sind Kirche und Gemeinde nicht nur ein Zusammenschluss von Gleichgesinnten. Durch das Miteinander der Menschen in der Gemeinde wirkt Christus selbst in die Welt hinein. Die Gemeinde ist gewissermaßen sein Leib, durch den er in dieser Welt gegenwärtig ist und den Menschen innerhalb und außerhalb der Gemeinde begegnet. Die einzelnen Christen sind nicht als Einzelkämpfer an ihre Aufgabe gestellt und in die Welt gesandt. Sie gehören zusammen wie Glieder und Organe eines Leibes und können ihre Aufgabe nur miteinander erfüllen (Kap. 12,12-13).

      Dieser Vergleich von Kirche und Gemeinde mit einem lebendigen Organismus gibt Paulus das Anschauungsmaterial für das, was er den Christen in Korinth als Antwort auf ihre Frage sagen möchte. Da ist zunächst die Feststellung, dass ein Organismus nur lebensfähig ist, wenn er unterschiedliche Organe hat. Hier wäre Gleichmacherei tödlich. Klar ist weiter, dass kein Glied oder Organ allein existieren kann; alle sind aufeinander angewiesen. Und das führt zum letzten wichtigen Argument: So groß die Unterschiede zwischen den Gliedern sein mögen, muss man sich doch hüten zu meinen, die Unscheinbaren unter ihnen seien unwichtig. Alle werden gebraucht (Kap. 12,14-26).

      Was das für die Anfrage der Korinther bedeutet, leuchtet unmittelbar ein: Alle Begabungen in der Gemeinde sind wichtig, die spektakulären ebenso wie die unansehnlichen. Gott gibt sie nicht, damit sich Leute vor anderen großmachen, sondern um durch sie in der Gemeinde Hilfe und Halt füreinander zu bieten. Gerade dafür sind unterschiedliche Gaben nötig.

      Am Schluss dieser Ausführungen macht Paulus noch einmal an einer Reihe von Beispielen deutlich, wie unterschiedlich die Aufgaben und Begabungen sind, die es in der Gemeinde gibt. Sie reichen von der Beauftragung eines Apostels bis zur Fähigkeit, in Zungen zu reden. Aber so wenig alle Apostel sein können und müssen, so wenig müssen alle in Zungen reden (Kap. 12,27-30).

      Dann aber setzt Paulus noch einmal neu an: Strebt aber nach den größeren Gaben (Kap. 12,31)! Wie kommt es zu diesem überraschenden Neuansatz? Offensichtlich will Paulus die Korinther anleiten, ihren Eifer an der Frage zu orientieren, welches die wichtigsten Gaben für ihr Leben als Gemeinde sind (vgl. Kap. 14,1). Man kann den Satz aber auch anders verstehen: Aber ihr strebt ja nach höheren Gaben, übersetzt die BasisBibel, oder: Ihr strebt nach den größeren Gaben? die Zürcher Bibel. So verstanden spielt der Apostel noch einmal auf das Bemühen der Korinther um „bessere“ Geistesgaben an und will ihm ein anderes Ziel geben. Doch gleich, ob wir den Satz so oder so verstehen, klar ist: Paulus will dieses Bemühen von der Gefahr des Konkurrenzdenkens frei machen und zu einer positiven Einstellung führen. Deshalb schreibt er: Und ich will euch einen noch besseren Weg zeigen. Wie dieser bessere Weg aussieht, beschreibt Paulus in einem ausführlichen und sehr sorgfältig gestalteten Loblied auf die Liebe, dem Hohelied der Liebe. Denn die Liebe ist das Vorzeichen, die jeder Begabung von uns Menschen erst ihren wirklichen Wert verleiht.

      1 Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete

      und hätte die Liebe nicht,

      so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.

      2 Und wenn ich prophetisch reden könnte

      und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis

      und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte,

      und hätte die Liebe nicht,

      so wäre ich nichts.

      3 Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe

      und ließe meinen Leib verbrennen

      und hätte die Liebe nicht,

      so wäre mir’s nichts nütze.

      4 Die Liebe ist langmütig und freundlich,

      die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen,

      sie bläht sich nicht auf, 5 sie verhält sich nicht ungehörig,

      sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern,

      sie rechnet das Böse nicht zu,

      6 sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit,

      sie freut sich aber an der Wahrheit;

      7 sie erträgt alles, sie glaubt alles,

      sie hofft alles, sie duldet alles.

      8 Die Liebe hört niemals auf,

      wo doch das prophetische Reden aufhören wird

      und das Zungenreden aufhören wird

      und die Erkenntnis aufhören wird.

      9 Denn unser Wissen ist Stückwerk

      und unser prophetisches Reden ist Stückwerk.

      10 Wenn aber kommen wird das Vollkommene,

      so wird das Stückwerk aufhören.

      11 Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind

      und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind;

      als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war.

      12 Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild;

      dann


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