Letzte Geschichten. Ольга Токарчук
streift dabei ihre Wange. Sie reagiert nicht, und der Hund geht leise davon. Sie bleibt noch eine Weile liegen, langsam fällt ihr wieder ein, wo sie sich befindet. Sie stellt fest, dass sie in Strumpfhose und Bluse geschlafen hat, ihr Rock liegt auf dem Boden. Der Anblick dieses Rocks aus dicker grauer Wolle, ein teurer, schräg geschnittener Rock, der modisch ist und schlank wirken lässt, weckt eine vage unangenehme Erinnerung, ein Gedanke will sich ihr in den Kopf drängen, sie wehrt sich dagegen, schiebt ihn fort und unterdrückt ihn.
Vor dem Haus sitzen ihre Eltern. Der Vater wickelt Garnknäuel auf und schaut sie nicht an. Die Mutter ist jung, sie erinnert an Maja, sie ist wie die erwachsene, fremde, stets abwesende Maja. »Du kommst nie zu uns, wir haben dich schon fast vergessen«, sagt die Mutter vorwurfsvoll. Dann steht sie beleidigt auf und geht ins Haus. Sie geht hinter ihr her, schaut auf ihren Rücken, aber sie hat das Gefühl, dass die Mutter ihr ausweichen will. Sie geht hin und her durch die Zimmer, die unvermittelt zu einer endlosen Flucht werden. Sie bekommt Angst, weil ihr plötzlich einfällt, dass sie Maja, ihre kleine Tochter, draußen vor dem Haus gelassen hat. Sie will zurückgehen, aus diesem Labyrinth herausfinden, aber sie weiß nicht, wie. Alles wird hellblau.
2
Sie hört die Tür quietschen, Flüstern, dann eine leise, an den Hund gerichtete Rüge: »Hier darfst du nicht rein, geh nach unten!« Jemand nähert sich behutsam ihrem Bett und setzt sich auf die Kante. Ihr bleibt nichts anderes übrig, sie muss die Augen öffnen.
An der Tür steht ein Mann. Auf seinem Gesicht liegt ein Ausdruck trauriger Besorgtheit. Olga – sie ist es, die sich auf die Bettkante gesetzt hat – lächelt, ihr Gesicht ist klein, braun gebrannt, runzlig, es hat etwas beunruhigend Asymmetrisches an sich.
»Den ganzen Tag hast du geschlafen, Kind, jetzt wird es dunkel, und Adrian muss fort, aber er möchte dich gern untersuchen. Vielleicht hast du etwas gebrochen. Dann müssten wir nämlich einen Arzt rufen, Adrian ist Tierarzt. Aber das ist ja egal … Darf er hereinkommen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, ruft sie: »Komm rein, Ad.«
Ein junger Mann tritt ein, blond, mittelgroß, ein wenig verschwitzt, als hätte er sich beeilt oder wäre die Treppe hinaufgelaufen. Ungefähr in Majas Alter, um die dreißig. Er trägt einen dicken Pullover aus blau-weiß melierter Wolle. Seine hellen Haare sind schon merklich gelichtet, sie kleben ihm an der Stirn. Er lächelt verlegen, niemandem ähnlich, fremd. Jung. Er sieht sie ruhig an, lächelnd, forschend. Dann betrachtet er fachmännisch ihre Augen und Unterlider, bewegt ihre Hände, betastet ihren Bauch. Er bittet sie, sich aufzusetzen und die Beine zu bewegen. Mit den Augen seinem Finger zu folgen. Ida fühlt sich von der Untersuchung eingeschüchtert, wie immer, alle Ärzte sind junge Männer, die fremdestmöglichen Wesen.
»Ihnen scheint nichts zu fehlen«, sagt der Tierarzt schließlich, er hat eine hohe Stimme. »Sie haben einen Schrecken bekommen, nicht wahr? Stehen Sie nicht auf, bleiben Sie liegen.«
»Ich weiß nicht so recht, wie ich mich fühle. Nicht wohl.«
»Sicher, das ist nicht verwunderlich, das kommt von der Anspannung, es geht von selbst wieder vorüber.«
»Ich würde gern die Polizei anrufen, das Auto ist geliehen.«
»Ja, das muss man erledigen. Vielleicht morgen?«
»Heute nicht? Das Auto muss herausgezogen werden.«
»Heute ist es schon zu spät. Außerdem schneit es die ganze Zeit. Es ist doch nicht so dringend, oder? Morgen bin ich auch hier. Und übermorgen auch.«
»Aber ich bin hier nur auf der Durchreise.«
»Selbstverständlich.«
Der Mann sieht sie lächelnd an, wie ein Kind, mit dem man Doktor spielt. Als glaubte er ihr nicht. Er verneigt sich scherzhaft zum Abschied und geht eilig hinaus. Energisch läuft er die Treppe hinunter, noch draußen hört man seine Schritte, dazu das Knirschen von Schnee, dann das Röcheln des Dieselmotors. Beim dritten Anlauf springt das Auto an. Olga gibt ihr einen alten karierten Morgenmantel, und sie gehen in die Küche hinunter.
»Er ist Tierarzt«, sagt Olga, während sie ihr einen Becher heiße Milch vorsetzt und mit offensichtlichem Genuss Honig hineingibt. »In der Stadt hat er eine Praxis. Hast du Kinder, Familie?«
Der Honig rinnt in einem dünnen Faden hinunter und verschwindet in dem weißen Strudel.
»Eine Tochter«, antwortet sie und betrachtet die Mischung. Früher hätte sie so etwas niemals getrunken, aber jetzt hat sie Lust zu probieren, wie es schmeckt. »Ich habe eine Tochter, und sie hat schon einen Sohn.«
»Ach, dann bist du auch schon Großmutter«, freut sich Olga.
Stefan kommt herein, er reibt sich die Hände, offensichtlich war er draußen. Er holt Topfen und gelben Käse aus dem Kühlschrank, legt sie auf ein Brettchen, dazu Tomaten. Mit einem großen Messer schneidet er Brot.
»Ich müsste sehr hungrig sein, ich habe seit gestern nichts gegessen«, sagt Ida, sie sieht, dass die Frau ein künstliches Gebiss hat, das zu locker sitzt, ein unangenehmer Anblick, wenn sie spricht.
Beide schneiden ihr Käsebrot in quadratische Stücke, die sie langsam, andächtig in den Mund schieben. Kauend sehen sie sie an. »Ein menschlicher Tierblick«, denkt Ida und wendet verstohlen die Augen ab. Sie schaut auf das Essen, aber verspürt keinen Hunger. Sie geht zum Wasserhahn und trinkt Wasser direkt aus den zu einer Schale zusammengelegten Händen.
Sie erwartet, dass die beiden sie nach dem Unfall fragen werden, aber sie schweigen, essen den weichen Käse mit Tomate und Brot, werfen ihr nur zufriedene Blicke zu. Sie bricht ein Stück Käse ab und schiebt es in den Mund. Sie schmeckt nichts.
»Ich hatte noch nie einen Unfall«, sagt sie, »noch nicht mal einen Blechschaden. Ich fahre immer sehr vorsichtig. Wahrscheinlich klebte Schnee an dem Straßenschild, ich wusste nicht, dass eine Kurve kam. Ich hatte das Auto von einer Freundin geliehen, um endlich den Ort zu besuchen, wo ich als Kind gewohnt habe, bei Lewin.«
»Lewin? Klar«, sagt Stefan mit vollem Mund. »Weißt du noch?«, wendet er sich an seine Frau, sie runzelt die Stirn, als versuchte sie, sich an etwas zu erinnern.
»Dort sind wir hingefahren, um das Pferd zu holen, weißt du noch? Das ist hinter Polanica.«
Olga nickt zustimmend.
»Dann hast du hier in der Nähe gewohnt«, sagt sie verwundert.
»Wir wohnten in einem kleinen Dorf in den Bergen, aber ich bin ziemlich früh von dort weggegangen.« Ida lächelt, ihre Hand zögert vor dem nächsten Stück Käse.
»Und die Eltern?«, fragt Olga.
Ida erzählt bereitwillig. Ihre Eltern leben nicht mehr. Nach dem Tod der Mutter, die ein paar Monate nach dem Vater starb, hat sie das Haus verkauft und nicht mehr daran gedacht. Es war unbequem, hoch in den Bergen, alt und klein. Sie sagt auch, dass sie sich nie danach gesehnt hatte, aber jetzt, vor ein paar Tagen, als sie hier in der Gegend war, bekam sie plötzlich Lust, dort vorbeizuschauen.
»Ich wollte morgens von Jelenia Góra aus losfahren und abends wiederkommen, aber das klappte nicht. Ich hatte vor, irgendwo auf dem Land in einer Pension zu übernachten und am nächsten Morgen weiterzufahren, in das Dorf. Na ja, aber jetzt ist das passiert, und das Auto ist sicher kaputt.«
»So was kommt vor. Iss etwas und mach dir keine Sorgen«, sagt Olga.
Aber Ida hat keinen Appetit. Der fette gelbe Käse schmeckt wie feuchtes Papier. Olga isst und sieht sie mit ihrem leeren Tierblick an. Sie hat ein Gesicht wie eine Katze oder ein Fuchs – wachsam. Als es plötzlich raschelt, richtet sie den Blick auf die Kiste, wo der Hund liegt. Ihr Mann macht dasselbe, wie auf Kommando. Beide schauen starr auf die Kiste.
»Du willst rausgehen, nicht? Du willst rausgehen und schaffst es nicht allein, nicht wahr?«
Der kleine unansehnliche Mann hebt den ziemlich großen Hund hoch und nimmt ihn auf den Arm. Es sieht nicht so aus, als könnte man dem Tier noch helfen. Der schwarze zottelige Hundekopf hängt kraftlos herab.
»Macht