Die kalte Stadt. Ralph Roger Glöckler

Die kalte Stadt - Ralph Roger Glöckler


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schwebt, unseliges Gestirn, vor den Konturen der Konsumverwaltung. Die Sinnlichkeit Frankfurts ist eine Hure. Du musst sie dir kaufen, dann zeigt sie, was sie gelernt hat.«

      Lassen Sie mich unterbrechen und etwas hinzufügen, das heißt, ich möchte erklären, woher dieses Gefühl nur käuflich zu erwerbender Sinnlichkeit rührt. Natürlich kann er sein Leben in diesem Reifungsprozess nicht lustvoll empfinden, schließlich ist seine Persönlichkeit in Bewegung geraten, sucht nach ihrer Mitte. Das macht ihn orientierungslos, er versinkt in Stimmungen. Günther:

      »Vielleicht rührt dieses Empfinden von dem Problem her, das mich schon so lange umtreibt, mich hier nicht zuhause sein lässt: als würde Frankfurt dem Bankkaufmann nicht erlauben, endlich zu einer Lösung zu gelangen. Woran das wohl liegen mag, frage ich mich so oft, schließlich ist Frankfurt die Stadt der Bankkaufleute, mein eigener Ort – oder bin ich etwa in mir selbst nicht zu Hause?«

      Nicht wahr! Da kann man sehen, in welcher Gemütsverfassung er sich befand.

      Beginnen wir also mit dem Nachmittag des dritten Juli. Ich verarbeite in dieser Rekonstruktion nicht nur Passagen des Tagebuches, sondern auch Auskünfte, die mir Günther auf bestimmte Anfragen erteilt hat. Das Tagebuch ist nicht immer vollständig. Es gibt abgebrochene Sätze, Zusammenhänge, die sich ihm in einer Art von Müdigkeit entziehen …

      Dieser dritte Juli ist wie alle vorangegangenen Sonntage. Das gemeinsame Wochenende ist für Günther zu einem sinnlosen Ritual geworden, hat ihn die innere Auseinandersetzung doch längst aus der Beziehung getragen. Die beiden hatten sich nach dem Mittagessen hingelegt. Richard würde gegen vier Uhr gehen müssen, bis dahin hatte er Zeit, denn Doris, seine Frau, würde nicht das ganze Wochenende alleine verbringen wollen. Das konnte er ihr nicht zumuten. Ach, dachte er, diese ewigen Pflichten. Seine Ehe war doch nur eine Farce. Im Grunde machten sie sich beide etwas vor. Doris wie einen guten Freund behandeln? Das kam nicht in Frage. Sie war seine Frau wie in den ersten Tagen ihrer Ehe, würde einen Rollenwechsel niemals hinnehmen. Dafür war es zu spät. Sie hatte sein vorhergegangenes Leben überdauert, stand nun wie ein altes Erbstück überall im Weg. Ja, sie war ihm lästig. Gab es zu. Aber wenn er an eine Trennung dachte, eine Entflechtung der gemeinsamen Jahrzehnte … da war es besser, während der verbleibenden Stunden in den Duft von Günthers Haut einzutauchen, die Augen zu verschließen. Das würde ihn kräftigen, einige Tage weitertragen.

      Ein Wort zu Richards Entwicklung. Der Autor würde gerne weiterschreiben, aber er muss sich gedulden. Ich habe die Verantwortung für diesen Bericht übernommen, möchte einfügen, dass Richard erst im Alter von zweiundvierzig Jahren angefangen hat, seine Homosexualität zu verwirklichen, was mich an mein eigenes Leben erinnert. Ich war schon fünfzig Jahre alt. Er hat in seiner Jugend, genau wie ich, das eine oder andere intime Erlebnis gehabt, sicher, sexuelle Spielereien zwischen Heranwachsenden. Er wuchs in einer pfälzischen Kleinstadt auf. Vater war im Krieg gefallen, Mutter kompensierte ihre Angst um die Kinder (zwei Söhne, eine Tochter) mit herrischer Zucht und Ordnung. Um es kurz zu machen: sein Wille, den beengten Verhältnissen zu entfliehen, erlaubte es ihm, die Entwicklung seiner sexuellen Identität hinter einer Karriere als Geschäftsmann (Wein-Ex- und Importe) niederzuhalten. Er heiratete. Vielleicht, so hatte er gehofft, würde diese leidige Sehnsucht nach männlicher Zärtlichkeit in einer Ehe versiegen. Auch ich habe mir da etwas vormachen wollen …

      Aber bitte, Herr Autor, sie haben das Wort. Strengen Sie den Erzähler an.

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      Richard ließ von Günther ab, rollte sich heftig atmend auf den Rücken. Er beruhigte sich allmählich, wischte die Feuchtigkeit von seinem Leib. Da war wieder dieses seltsame Gefühl, das er in den letzten Wochen schon öfters gehabt hatte, ein Gefühl der Einsamkeit, der Verlassenheit, als sei er mit Sack und Pack in einem toten Bahnhof ausgesetzt worden. Er blickte Günther an, der sich auf die Seite gelegt hatte, betrachtete den Rücken, die Wölbung des Gesäßes, dessen Anblick ihn eben noch so erregt hatte, betrachtete die Beine. Er hätte sich dieses Gefühl erklären können, was aber bedeutet haben würde, an wesentliche Dinge zu rühren. Das wollte er nicht. Davor hatte er Angst. (Eben. Dieser Wille, die Situation auf andere Weise zu bewältigen, die trügerische, verdrängende Hoffnung. Ach Richard!)

      Wenn Günther seine Ekstasen nicht teilen wollte, ja, sie scheinbar nur über sich ergehen ließ, versuchte er sich einzureden, dann lag es wohl an der zermürbenden Hitze dieses Sommers. Er war müde. Natürlich. Das Frankfurter Klima lässt ja auch Gäule kotzen … Richard legte sich auf den Bauch. Müdigkeit überschwemmte seine Gedanken. Er schlief ein.

      Günther hatte die Hände unter dem Kopf verschränkt, blickte vor sich hin. Er konnte nicht schlafen, war über die Situation aufgebracht, aus der er sich nicht zu lösen vermochte. War es denn so schwierig, Richard reinen Wein einzuschenken? Was konnte ihn daran hindern? Es war eine Lähmung des Willens, die ihn auf dieses Bett, unter die Schenkel eines Mannes knechtete, vor dem er ein fast körperliches Gefühl des Ekels zu entwickeln begann. Ekel. Ja, ein schlimmes Wort. Alles, was Günther entgegenzusetzen hatte, war Verweigerung. Die Bedürfnisse dieses Mannes schienen sich verselbständigt zu haben, brauten sich über ihm zusammen, prasselten herab. Günther lag da, zur Strecke gebracht von der inhaltslos gewordenen Idee einer Beziehung, ließ die Entladungen über sich ergehen.

      Die Unmöglichkeit eines konstruktiven Dialoges hatte ihm Richard entfremdet. Er hätte sich gewünscht, einmal angesprochen, befragt zu werden. Aber Richard fand wohl genüge daran, ihn zur Ehefrau Nummer zwei zu machen. Abteilung Sex. Er erhob Anspruch auf ihn, ohne sein Leben zu teilen. Das reduzierte ihn, Günther, zu einem in Sekreten zerfließenden Körper …

      Die Stille des Zimmers besänftigte seine Gedanken, geschlossene Vorhänge dämpften das Licht. Die Ösen klickten in der Schiene, wenn der Wind in den Stoff drückte. Das kleine Geräusch band Günthers Aufmerksamkeit, hob die Zeit auf, machte sie schwerelos. Richard atmete ruhig. Er lag auf dem Bauch. Sein Kopf war auf die rechte Hand gelagert, das linke Bein angezogen. Er lag da, meilenweit entfernt von der Wirklichkeit Günthers, schlief wie ein Kind. Eine Fliege lief über seinen nackten Rücken. Er vertrieb sie mit einem Reflex des Schulterblattes. Sie hob ab, kreiste durch das Zimmer, ließ sich auf dem verknäulten Papiertaschentuch neben Richards Knie nieder.

      Gut. Stellen wir uns Günther in diesem warmen, verschatteten Schlafzimmer vor. Er wendet sich um, betrachtet seinen Freund, wenn wir ihn der Einfachheit halber noch so nennen dürfen! Natürlich ist sich Günther in diesem Augenblick nicht bewusst, dass die Lähmung seines Willens von jenen Vorstellungen herrührt, die er aus Kindheit und Jugend in das freiere Leben nach dem Tode der Eltern mit hinübergenommen hat, ist an die Idee der Unverbrüchlichkeit der Ehe bis zum Tode gefesselt, nicht nur das, erwartet von einer Beziehung die Fortsetzung primärer Bindung. Das nur in Parenthese. Verfolgen wir die Szene.

      Und er würde mich nicht verstehen, dachte Günther, der sich aufgesetzt hatte, wenn wir über alles sprächen. Wie sollte er. Für ihn ist ja alles in Ordnung. Er braucht mich. Er liebt mich.

      Günther erhob sich, nahm eine Zigarette aus dem Päckchen, das auf der Wäschekommode lag, steckte sie in den Mund, blickte versonnen vor sich hin. Es war still. Die Hitze des Sommers lagerte im Zimmer, auch wenn der Wind in die Vorhänge drückte.

      Ich langweile mich, dachte er. Dies alles bedeutet mir gar nichts mehr.

      Also?

      Er zuckte mit den Schultern. Sein Blick wanderte zu Richard hinüber, als könne eine unerwartete Antwort von daher kommen.

      Dieser Blick veranschaulicht, dass er die Erfüllung seiner Bedürfnisse von anderen erwartet. Darf er nicht. Darf niemand. Seine Bedürfnisse sind legitim, haben ein Recht darauf, über sich selbst zu verfügen. Aber er selbst, dieser schwierige Mensch in allen seinen Verästelungen, ist ihm immer noch verdächtig. (Irgendwann ist er wohl so grundsätzlich verachtet worden, dass man ihn geopfert hat. Aber aus den Fetzen seines Körpers, die in der Erde vergraben wurden, sind keine Pflanzen erwachsen, wie in gewissen Mythen, nur Zerstörung ist geblieben, Drangabe an ein höheres, nicht zu haltendes Versprechen. Anm. d. Erz.)

      Klavier, dachte Günther. Er würde mit beiden Fäusten auf die Tasten schlagen,


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