Palliativgesellschaft. Byung-Chul Han

Palliativgesellschaft - Byung-Chul Han


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der heutigen Selfies handele.«8

      Die Kultur der Gefälligkeit hat vielfältige Ursachen. Sie geht zunächst auf die Ökonomisierung und Kommodifizierung der Kultur zurück. Die Kulturprodukte geraten immer stärker unter den Zwang des Konsums. Sie müssen eine Form annehmen, die sie konsumierbar, das heißt gefällig macht. Diese Ökonomisierung der Kultur geht mit der Kulturalisierung der Ökonomie einher. Konsumgüter werden mit kulturellem Mehrwert versehen. Sie versprechen kulturelle, ästhetische Erlebnisse. So wird das Design wichtiger als der Gebrauchswert. Die Konsumsphäre dringt in die Kunstsphäre. Konsumgüter präsentieren sich als Kunstwerke. Dadurch vermischen sich Kunst- und Konsumsphäre, was zur Folge hat, dass nun die Kunst sich ihrerseits der Konsumästhetik bedient. Sie wird gefällig. Ökonomisierung der Kultur und Kulturalisierung der Ökonomie verstärken einander. Eingerissen wird die Trennung zwischen Kultur und Kommerz, zwischen Kunst und Konsum, zwischen Kunst und Werbung. Künstler geraten selbst unter den Zwang, sich als Marken zu etablieren. Sie werden marktkonform und gefällig. Die Kulturalisierung der Ökonomie betrifft auch die Produktion. Die postindustrielle, immaterielle Produktion macht sich die Formen künstlerischer Praxis zu eigen. Sie hat kreativ zu sein. Die Kreativität als ökonomische Strategie lässt aber nur Variationen des Gleichen zu. Sie hat keinen Zugang zum ganz Anderen. Ihr fehlt die Negativität des Bruches, die schmerzt. Schmerz und Kommerz schließen einander aus.

      Als die Kunstsphäre, scharf getrennt von der Konsumsphäre, ihrer eigenen Logik folgte, erwartete man von ihr keine Gefälligkeit. Künstler hielten sich vom Kommerz fern. Adornos Diktum, die Kunst sei »Fremdheit zur Welt«9, hatte noch seine Gültigkeit. Die Wohlfühlkunst ist demnach ein Widerspruch. Die Kunst muss befremden, stören, verstören, ja auch schmerzen können. Sie hält sich anderswo auf. Sie ist zu Hause im Fremden. Gerade die Fremdheit macht die Aura des Kunstwerkes aus. Der Schmerz ist der Riss, durch den das ganz Andere Einzug hält. Gerade die Negativität des ganz Anderen befähigt die Kunst zu einem Gegennarrativ zur herrschenden Ordnung. Die Gefälligkeit hingegen setzt das Gleiche fort.

      Die Gänsehaut ist, so Adorno, das »erste ästhetische Bild«.10 Sie bringt den Einbruch des Anderen zum Ausdruck. Das Bewusstsein, das nicht zu erschauern vermag, ist ein verdinglichtes. Es ist unfähig zur Erfahrung, denn diese ist »in ihrem Wesen der Schmerz, in dem das wesenhafte Anderssein des Seienden gegenüber dem Gewohnten sich enthüllt«.11 Auch das Leben, das jeden Schmerz ablehnt, ist ein verdinglichtes. Allein das »vom Anderen Angerührtsein«12 erhält das Leben lebendig. Sonst bleibt es in der Hölle des Gleichen gefangen.

       Zwang zum Glück

      Der Schmerz ist ein komplexes, kulturelles Gebilde. Seine Präsenz und Bedeutung in der Gesellschaft hängen auch von Herrschaftsformen ab. Die vormoderne Gesellschaft der Marter hat eine sehr innige Beziehung zum Schmerz. Ihre Machträume sind geradezu von Schmerzensschreien erfüllt. Der Schmerz dient als Herrschaftsmittel. Das düstere Fest, das grausame Ritual der Marter, die prunkvollen Inszenierungen des Schmerzes stabilisieren die Herrschaft. Gemarterte Körper sind Insignien der Macht.

      Im Übergang von der Gesellschaft der Marter zur Disziplinargesellschaft verändert sich auch das Verhältnis zum Schmerz. In Überwachen und Strafen weist Foucault darauf hin, dass die Disziplinargesellschaft den Schmerz in einer diskreteren Form einsetzt. Er wird einem disziplinarischen Kalkül unterworfen: »Nicht mehr so unmittelbar physische Bestrafungen, eine gewisse Diskretion in der Kunst des Zufügens von Leid, ein Spiel von subtileren, geräuschloseren und prunkloseren Schmerzen […]: binnen weniger Jahrzehnte ist der gemarterte, zerstückelte, verstümmelte, an Gesicht oder Schulter gebrandmarkte, lebendig oder tot ausgestellte, zum Spektakel dargebotene Körper verschwunden. Verschwunden ist der Körper als Hauptzielscheibe der strafenden Repression.«13 Gemarterte Körper passen nicht mehr in die Disziplinargesellschaft, die auf industrielle Produktion ausgerichtet ist. Die Disziplinarmacht fabriziert gelehrige Körper als Produktionsmittel. Auch der Schmerz wird in die Disziplinartechnik integriert. Die Herrschaft unterhält weiterhin eine Beziehung zum Schmerz. Gebote und Verbote werden mittels Schmerz dem Gehorsamssubjekt eingeprägt, ja in dessen Körper verankert. In der Disziplinargesellschaft spielt der Schmerz noch eine konstruktive Rolle. Er formt den Menschen als Produktionsmittel. Er wird aber nicht mehr öffentlich zur Schau gestellt, sondern in geschlossene Disziplinarräume wie Gefängnisse, Kasernen, Anstalten, Fabriken oder Schulen verschoben.

      Die Disziplinargesellschaft hat grundsätzlich ein affirmatives Verhältnis zum Schmerz. Als »Disziplin« bezeichnet Jünger jene »Form, durch die der Mensch die Berührung mit dem Schmerze aufrechterhält«.14 Gerade Jüngers »Arbeiter« ist eine Figur der Disziplin. Er härtet sich am Schmerz ab. Das heroische Leben, das »ununterbrochen mit ihm [dem Schmerz] in Fühlung zu bleiben strebt«, ist auf »Stählung« gerichtet.15 Das »disziplinierte Gesicht« ist »geschlossen«. Es besitzt »einen festen Blickpunkt«, während das »feine Gesicht« eines empfindsamen Individuums »nervös, beweglich, veränderlich« und »den verschiedenartigsten Einflüssen und Anregungen« unterworfen ist.16

      Ins heroische Weltbild gehört notwendig der Schmerz. In einem mit Der Gegenschmerz betitelten futuristischen Manifest von Aldo Palazzeschi heißt es: »Je größer die Menge an Lachen ist, die ein Mensch im Schmerz zu entdecken vermag, um so tiefgründiger ist dieser Mensch. Man kann nicht aus innerstem Herzen lachen, wenn man nicht vorher tief im menschlichen Schmerz gegraben hat.«17 Der heroischen Weltanschauung zufolge ist das Leben so einzurichten, dass es jederzeit für die Begegnung mit dem Schmerz »gerüstet« ist. Der Körper als Ort des Schmerzes wird einer höheren Ordnung unterworfen: »Dieses Verfahren setzt freilich eine Kommandohöhe voraus, von der aus der Leib als ein Vorposten betrachtet wird, den der Mensch aus großer Entfernung im Kampf einzusetzen und aufzuopfern vermag.«18

      Jünger setzt die heroische Disziplin der Empfindsamkeit des bürgerlichen Subjekts entgegen, dessen Körper kein Vorposten, kein Mittel zum höheren Zweck ist. Sein empfindsamer Körper ist vielmehr ein Selbstzweck. Er verliert jenen Bedeutungshorizont, der den Schmerz als sinnvoll erscheinen ließe: »Das Geheimnis der modernen Empfindsamkeit beruht nun darin, daß sie einer Welt entspricht, in der der Leib mit dem Werte selbst identisch ist. Aus dieser Feststellung erklärt sich das Verhältnis dieser Welt zum Schmerz als zu einer vor allem zu vermeidenden Macht, denn hier trifft der Schmerz den Leib nicht etwa als einen Vorposten, sondern er trifft ihn als die Hauptmacht und als den wesentlichen Kern des Lebens selbst.«19

      Im postindustriellen, postheroischen Zeitalter ist der Körper weder Vorposten noch Produktionsmittel. Der hedonistische Körper, der ohne jeden Bezug zum höheren Zweck sich selbst gefällt und sich selbst genießt, entwickelt im Gegensatz zum disziplinierten Körper eine ablehnende Haltung gegenüber dem Schmerz. Ihm erscheint der Schmerz ganz sinn- und nutzlos.

      Das Leistungssubjekt von heute unterscheidet sich grundsätzlich vom Disziplinarsubjekt. Es ist auch kein »Arbeiter« im Jüngerschen Sinne. In der neoliberalen Leistungsgesellschaft weichen Negativitäten wie Gebote, Verbote oder Bestrafungen Positivitäten wie Motivation, Selbstoptimierung oder Selbstverwirklichung. Disziplinarräume werden durch Wohlfühlzonen ersetzt. Der Schmerz verliert jeden Bezug zur Macht und Herrschaft. Er wird zu einer medizinischen Angelegenheit entpolitisiert.

      Sei glücklich heißt die neue Herrschaftsformel. Die Positivität des Glücks verdrängt die Negativität des Schmerzes. Als positives emotionales Kapital hat das Glück für eine ungebrochene Leistungsfähigkeit zu sorgen. Selbstmotivation und Selbstoptimierung machen das neoliberale Glücksdispositiv sehr effizient, denn die Herrschaft kommt ohne jeden großen Aufwand aus. Der Unterworfene ist sich nicht einmal seiner Unterworfenheit bewusst. Er wähnt sich in Freiheit. Ohne jeden Fremdzwang beutet er sich freiwillig in dem Glauben aus, dass er sich verwirkliche. Die Freiheit wird nicht unterdrückt, sondern ausgebeutet. Sei frei erzeugt einen Zwang, der verheerender ist als Sei gehorsam.

      Im neoliberalen Regime nimmt auch die Macht eine positive Form an. Sie wird smart. Im Gegensatz zur repressiven Disziplinarmacht schmerzt die smarte Macht nicht. Die Macht wird gänzlich


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