Nibelar - Die Gruft. Christine Troy
aufgebaut worden. Und dort, um den Tisch herum, saßen sie, die Oberhäupter des Selatog-Gebirges.
Am Kopf der Tafel saß Ranon, das Gesicht vor Wut gerötet, die Augen zu Schlitzen verzogen. Zu seiner Rechten saß Grimmbard – Oberhaupt von Felsstadts Königswache und treuer Berater Algars. Der rothaarige Grimmbard hatte die Brauen streng zusammengezogen und die Lippen unter dem gepflegten Vollbart zu einem wütenden Strich verkniffen. Den Sessel Ranon gegenüber besetzte der fischäugige Horgard, welcher seinen Gastgeber mit geringschätzigem Blick maß. Die vier Gefolgsleute – gut gebaute junge Zwergenmänner, die Horgard zum Treffen mitgebracht hatte – standen lässig und mit abfälligem Grinsen hinter ihrem rundlichen Herrn, der sich soeben das kinnlange, fettige Haar aus der Stirn strich. Die Stimmung am Tisch schien zum Zerbersten angespannt.
Einzig Terdan, Zwergenruhs Ältester, schien der ganze Trubel kaltzulassen. Er starrte gelangweilt in die Runde, während seine beiden Begleiter – ein hochgewachsener schlaksig wirkender Mann und ein krummnasiger grau melierter Zwerg – in gespannter Haltung das Gespräch am Tisch verfolgten.
„Nun ...“, sagte Ranon schließlich gezwungen höflich und schob eine vergilbt aussehende Pergamentrolle von sich. „Ich kann mich nur wiederholen. Auch wenn dieses Schriftstück etwas anderes besagt, so bin ich mir dennoch sicher, dass die gesamte Summe bezahlt wurde. Es muss sich also um ein Missverständnis handeln. Abgesehen davon wage ich zu behaupten, dass jeder hier König Algar gut genug kennt, um zu wissen, dass er seine Handelsschulden seit Gedenken stets und ohne Aufschub beglichen hat.“
Der fischäugige Horgard stemmte die geballten Fäuste auf den Tisch, beugte sich über die Platte und knurrte: „Es scheint mir, junger Herr Ranon, dass Ihr den alten Algar nicht annähernd so gut kennt, wie Ihr denkt. Er ist nämlich ein übles Schlitzohr, ein ausgefuchster ...“
„Halt!“, donnerte Rajas vor Wut bebende Stimme durch die Halle. „Wie könnt Ihr es wagen, in Abwesenheit des Königs, noch dazu in dessen eigenen Hallen, so über ihn zu sprechen?“ Mit zornrotem Gesicht schritt die Zwergin auf den verdattert dreinblickenden Horgard zu. „Dass Ihr es wagt! Dass Ihr, Horgard von Selatog, Euch dessen erdreistet! Wo es doch Algar selbst war, der Euch in Eurer schwersten Stunde treu zur Seite stand.“ Kochend vor Wut hatte sich Raja vor dem schmerbäuchigen Zwerg aufgebaut. Für einen kurzen Moment hüpfte ihr Blick zu ihrem Gatten und entschuldigend sagte sie zu ihm: „Tut mir leid, Ranon, mein Liebling. Du hattest recht, wir hätten diesen schmierigen Abkömmling einer wild gewordenen Wemarin nicht einladen sollen. Bitte entschuldige, ich hätte auf dich hören sollen.“ Dann schwenkte Rajas Blick zurück auf den Fischäugigen. Sie biss die Zähne zusammen. „Du ...“, zischte sie und Horgards Gefolgsleute wichen einen Schritt zurück. „Ich rate dir und deinem Gesindel, so schnell wie möglich Felsstadt zu verlassen.“
Da der Schmalzhaarige keinerlei Anstalten machte sich zu erheben, schnippte Raja mit den Fingern. Ein leises, metallisches Geräusch erklang, und im nächsten Moment schritten zwei in dicke Rüstungen gehüllte und mit langen Schwertern bewaffnete Wachen aus einem benachbarten Raum in den Saal.
„Und was Eure sogenannte Restschuld betrifft“, ergänzte die Zwergin kühl, „betrachte ich sie als damit beglichen, dass ich Euch und Euer Pack am Leben lasse.“ Sie schwieg einen Augenblick, setzte ein gestelltes Lächeln auf und sagte dann mit honigsüßer Stimme: „Und nun, Horgard, wünsche ich Euch eine angenehme Heimreise.“ Noch bevor die beiden Königswachen den untersetzten Stadtherren erreicht hatten, erhob sich dieser und eilte, gefolgt von seinen Anhängern, in Richtung Ausgang.
„Ach, Horgard!“, rief Raja ihm nach. „Ihr habt noch etwas vergessen.“ Sie schwenkte das vergilbte Pergament durch die Luft.
„Behaltet es“, knurrte er.
„Na schön, wie Ihr wollt. Ach ... und Horgard?“, rief die Zwergin, noch ehe sich dieser umdrehen und davongehen konnte. „Ich rate Euch, es nie wieder zu wagen, in solch einem Ton über meinen Onkel zu sprechen. Sollte mir dennoch anderes zu Ohren kommen, so seid versichert, dass ich mich nicht davor scheuen werde, Euch die Königswache auf den Hals zu hetzen.“
Horgards Miene verfinsterte sich. Einer seiner Begleiter, ein äußerst aggressiv wirkender Zwerg mit struppigem schwarzem Haar und buschigen Augenbrauen, griff nach seinem Schwert. Doch noch ehe er es aus der Scheide ziehen und zum Streich ausholen konnte, erhob der Stadtherr die Stimme.
„Nein, Torgram, noch nicht ... noch nicht.“
Torgram ließ mit einem unwilligen Knurren von seinem Schwert ab, bedachte Ranon mit einem hasserfüllten Blick und folgte dann seinem Herrn und dessen restlichen Gefolgsleuten aus dem Saal.
„Hmm“, meldete sich Terdan, kaum dass Horgards Schritte verhallt waren, zum ersten Mal zu Wort. „Wenn ich das so sagen darf: Das war nicht gerade schlau von Euch. Ich dachte, Ihr hättet diese Versammlung einberufen, um ein wichtiges Anliegen vorzubringen und Selatogs und Zwergenruhs Unterstützung zu erbitten. Nun, um was auch immer es sich bei Eurem Anliegen handeln mag, Horgards beziehungsweise Selatogs Mithilfe diesbezüglich wäre schon mal auszuschließen.“
„Was? Was sagt Ihr da? Ranon hat noch gar nicht erwähnt, um was es geht?“, fragte Raja ungläubig.
„Nein. Wie sollte ich auch?“, rechtfertigte sich ihr Gemahl sogleich. „Die Versammlung hatte noch gar nicht recht begonnen, da fing Horgard schon von dieser Restschuld an.“
„Ja, aber ich dachte ... Warum hast du mir denn nichts gesagt? Ranon, du hättest mich aufhalten müssen! Du weißt, wie wichtig es ist, dass alle Zwergenvölker von den jüngsten Ereignissen unterrichtet werden. Auch Horgard, wir brauchen Selatogs Unterstützung.“
„Wenn ich Euch kurz unterbrechen dürfte“, mischte sich der kahlköpfige Terdan in das Gespräch des jungen Ehepaars. „Um was genau geht es hier eigentlich? Wenn man Euch zuhört, könnte man ja glauben, dass ganz Nibelar vor dem sicheren Untergang steht.“
Raja seufzte unterdrückt und ließ sich auf einen der Sessel nieder. Als sie sich Zwergenruhs Ältestem zuwandte, wich der besorgte Ausdruck auf ihrem Gesicht einer strengen Miene. „Nun ...“, begann sie. „Wie Ihr wahrscheinlich wisst, wurde unser geliebter König Algar vor wenigen Wochen von einem Fabelwesen heimgesucht, einem Mooswürger ...“ Raja erzählte dem Alten und seinen Männern die ganze Geschichte. Wie sie sich mit den Waldelfen-Geschwistern Saruna und Gweldon auf die Reise in die Genusischen Sümpfe begeben hatte, von den Feuerelfenbrüdern Zemeas und Azarol, die sie auf ihrem Weg begleitet hatten, und vom Angriff auf Walgerad, ihrem Bündnis und Nalajs Prophezeiung. Auch dass das Geschöpf Jarkodas mit seinen Schattenhexern über Nibelar herfallen, das Land dem Erdboden gleichmachen und eine jede Seele an sich und somit an die Dunkelheit binden wollte, erzählte sie.
Terdan und seine Männer lauschten Rajas Bericht aufmerksam. Als sie fertig war, schwiegen sie eine Weile bedächtig.
Schließlich ergriff Ranon das Wort. „Wir hier in Felsstadt haben nicht vor, dem Feind unbewaffnet oder unvorbereitet entgegenzutreten, deshalb wurden bereits die wichtigsten Maßnahmen ergriffen. Es wurden neue Waffen geschmiedet, Vorräte in den Stollen und Minen angelegt und auch das Volk wurde über die Situation unterrichtet.“
Terdan nickte, rieb sich das stoppelige Kinn und fragte: „Und was genau erwartet Ihr jetzt von uns?“
„Ich würde empfehlen, dass Ihr Euch Eurerseits auf das Unvermeidliche vorbereitet. Da wir nicht wissen, wann dieser Angriff stattfinden wird, müssen wir stets wachsam sein und unser Volk zu jeder Tages- oder Jahreszeit zu verteidigen wissen.“
Terdan gluckste belustigt. „Also, wenn ich das richtig verstanden habe, so wisst Ihr weder wann dieser Angriff stattfinden wird, noch mit was genau wir es zu tun haben. Abgesehen davon sollen wir uns auf das Gewäsch eines alten, wie mir scheint, recht verwirrten Elfenweibs verlassen?“
„Nalaj ist nicht verwirrt!“, entfuhr es Raja.
„Verzeiht mir, Teuerste, Eure Nalaj in allen Ehren. Doch werdet Ihr gewiss verstehen, dass ich keine derart kostspieligen Maßnahmen ergreifen werde, solange ich nichts Handfesteres als die Aussage