Vom Geist Europas. Gerd-Klaus Kaltenbrunner

Vom Geist Europas - Gerd-Klaus Kaltenbrunner


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das Christentum voraus, die letzte überlebende antike Religion, die sich jedoch grundlegend sowohl von der des Olymps als auch der des Kapitols unterscheidet.

      Es ist hier, wie sich von selbst versteht, nicht der Platz, die Wesensmerkmale der römischen Religion eingehender zu erörtern. Doch wenigstens einige Punkte seien in fast schon unzulässiger Verknappung festgehalten, weil sie uns Ciceros und Cottas Einstellung ein wenig näherbringen können.

       V.

      Das Römertum kennt — anders als die Griechen — keine Göttermythen so wie es auch keine kosmogonischen Mythen kennt. Die römischen Götter zeigen sich nicht in jener plastischen Rundheit und sinnfälligen Evidenz wie die homerischen Olympier. Sie haben im Grunde keine Geschichte, sie vollbringen keine Taten und ihnen widerfahren keine Abenteuer.

      Das Römertum kennt — anders als die Christen — keine Dogmen, kein Credo, keine verbindlichen Glaubensbekenntnisse, keine Lutherschen Thesen, keine Confessio Augustana, keinen Syllabus und keinen Antimodernisteneid. Es kennt, genau betrachtet, keine Orthodoxie, keine rechte und angeblich alleinseligmachende Lehre, und deshalb auch keine Ketzerprozesse, keine Inquisition und keinen theologischen Fanatismus.

      Das Römertum kennt — anders als die Moderne — keine vom profanen Alltag und den Erfordernissen potenter Staatlichkeit abgetrennte oder ihnen gar zuwiderlaufende Religion. Religion ist kein Reservat schwärmerischer Gefühle, kein Asyl mystischer Erleuchtungen, keine exterritoriale Enklave gewissensbedingter geheimer Vorbehalte gegenüber dem, was weltlich nottut.

      Das Römertum kennt — wieder im Unterschied zum Christentum, als dieses noch mächtig war — keinen Glaubenszwang, keinen Begriff vergleichbar dem der „Gedankensünde” und keine Unduldsamkeit gegenüber Meinungen über transzendente Dinge. Römische Religiosität ist — anders als die in mancherlei rivalisierende Schulen zersplitterte griechische Philosophie — grundsätzlich tolerant, liberal und unfanatisch.

      Das Römertum kann hinsichtlich noch so abweichender Lehrmeinungen und philosophischer Theorien großzügig sein, weil seine Religion wesentlich keine Lehre, sondern ein Tun ist: keine Orthodoxie, sondern eine Orthopraxis. Römische Religion enthält sich, von einigen Rudimenten abgesehen, aller Aussagen über Weltschöpfung, Erlösung, Unsterblichkeit der Seele oder Auferstehung von den Toten. Weil sie keine Dogmen kennt, reizt sie auch nicht zu intellektuellem Widerspruch, Sektierertum oder „Entmythologisierung”. Sie kennt deshalb keine Häretiker und Märtyrer, die wegen abweichender theoretischer Überzeugungen von den Priestern des Staatskultes verfolgt werden. Erst das Judentum, vor allem aber das Christentum mit seinem absoluten Ausschließlichkeitsanspruch veränderte die Situation.

      Das Römertum kennt — abermals im Gegensatz zum Christentum — keine Trennung zwischen „geistlicher” und „weltlicher”, zwischen „kirchlicher” und „politischer” Gewalt. Es kennt deshalb keinen „Klerikalismus”, keine Priesterherrschaft. Die römischen Priester bilden keine eigene Kaste. Sie sind kein Staat im Staate, keine Agentur einer ausländischen Macht, keine Fünfte Kolonne, die im Ernstfall die staatsbürgerliche Treuepflicht zugunsten der Loyalität gegenüber einem anderen Souverän verweigern könnte, sei dieser Souverän nun ein Prophet, Guru oder auch das eigene unüberprüfbare Gewissen. Die Priester Roms sind grundsätzlich Beamte gleich den Konsuln und anderen Magistraten. Sie genießen zwar einige Privilegien, übernehmen dafür aber etliche schwerwiegende Pflichten.

      Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die mit drakonischen Strafandrohungen abgestützte Verpflichtung der Vestalinnen zu dreißigjähriger klösterlicher Keuschheit. Desgleichen erwähne ich die vielen Tabuvorschriften, denen die Priester mancher Einzelgötter unterworfen waren. Insbesondere der Flamen Dialis, der sich dem Jupiterkult zu widmen hatte und dem Pontifikalkollegium angehörte, war in seinem alltäglichen Leben von derart strengen Sakralgeboten eingeschränkt, daß sein Posten trotz aller Ehrenvorrechte einmal fünfundsiebzig Jahre frei blieb, weil sich niemand um eine derart beschwerliche Stelle bewerben wollte. Die Priester waren hohe Beamte im Staate, ihnen unterstand die Administration der kultischen Belange, die bürokratische Erfassung und Verwaltung des Götterwesens. Aber die höchste Verantwortung für die Wahrung der pax deorum, den ordnungsgemäßen Frieden mit den Göttern, lag nicht bei den Priestern, sondern bei den gewählten Beamten und Hoheitsträgern des römischen Volkes. Die Priester fungierten weniger als selbsternannte Mittler zwischen Gott und Mensch, Diesseits und Jenseits, Offenbarung und irdischem Gesetz; sie waren Kultsachverständige, Experten für religiöse Altertümer und Fachmänner für Zeremonien, Riten und ehrwürdige Bräuche, die die Konsuln und andern Inhaber staatlicher Gewalt zu beraten hatten. Die Priester sind nicht bevollmächtigt, nach eigenem Ermessen die Götter anzurufen. Zwar muß jeder wichtige Staatsakt durch Einholung eines Auspiziums vorbereitet werden, aber der Konsul ist an die priesterliche Auslegung des Vorzeichens nicht gebunden. Den Auguren stand somit nur die Rolle hoher Berater, nicht aber die einer dem Staate gegenüberstehenden Gewalt zu. Sie hatten auch nicht die Zukunft vorherzusagen, sondern bloß anhand bestimmter Zeichen die ihnen von den Beamten vorgelegte Frage zu beantworten, ob die Götter ein bestimmtes Unternehmen billigen.

       VI.

      Aus dem Gesagten geht wohl genugsam hervor, was römische Religion nicht ist und wie abgrundtief sie sich von der christlichen unterscheidet. Sie hat mit dem altchinesischen Konfuzianismus und dem japanischen Schintoismus mehr gemeinsam als mit dem alten oder gar neueren Christentum.

      Wie läßt sich die Religion der Römer positiv bestimmen? Hören wir Cicero, den Skeptiker und Augur (De haruspicum responsis 9, 19):

      „Wir mögen noch so vernarrt sein in uns selbst, Senatoren, wir müssen doch zugeben, daß wir Römer weder an Zahl die Spanier noch an Kraft die Gallier noch an Verschlagenheit die Punier noch an Geschicklichkeit die Griechen noch endlich an vaterländischem Geist für dieses Land die Italiker und Latiner übertreffen; aber durch Frömmigkeit (pietate ac religione) und durch weise Einsicht, daß durch der Götter Walten alles ausgerichtet und geleistet wird, haben wir alle Völker und Stämme übertroffen und überwunden.”

      Kraft ihrer Religion, so der theologische Agnostiker Cicero, haben die Römer ihnen in vieler Hinsicht überlegene Völker überwältigt und besiegt. Religion ist für ihn etwas durchaus Praktisches. Ähnlich wie Cicero hatte auch sein gelehrter Zeitgenosse Varro betont, „daß die Römer dank ihrer besonders sorgfältigen religiositas so hoch erhoben worden sind, daß sie den Erdkreis beherrschen”:„Diese Gottesfurcht hat den Römern ihr Reich gegeben, gemehrt, begründet, da ihre Stärke nicht so sehr in ihrer Tüchtigkeit (virtus) denn in ihrer Frömmigkeit (religio et pietas) bestanden hat.”

      Diese römischen Selbstzeugnisse sind von Gewicht. Sie bestätigen, was auch andere Dokumente aussagen: etwa Sallust (De coniuratione Catilinae 12,3), der die Römer reliogissimi mortales nennt, „die frömmsten aller Menschen”, oder ein Brief des Senats an die kleinasiatische Griechenstadt Teos, der sich inschriftlich erhalten hat (Dittenberger: Sylloge inscriptionum graecarum II3, 1917, Nr. 601, 13 ff.): „Daß wir überhaupt und immer auf die Frömmigkeit gegenüber den Göttern stärkstes Gewicht legen …”

      Diese erzrömische Frömmigkeit gleicht nicht im geringsten den intimen Herzensergießungen gläubig verzückter Betschwestern. Sie unterscheidet sich grundlegend von aller pietistischen, romantischen oder sentimentalen Religiosität. Jeglicher mystischer Zug fehlt ihr. Ebensowenig bedeutet sie die mit einem sacrificium intellectus verbundene Annahme irgendwelcher Dogmen im Sinne des Credo, quia absurdum. Sie erheischt keine Unterwerfung unter die Autorität eines geoffenbarten Gottesworts, das in inspirierten heiligen Büchern niedergelegt ist. Sie verlangt nicht, daß gewisse Behauptungen über die Erschaffung der Welt oder die Schicksale der Götter und ihrer Sendboten für unbedingt wahr gehalten werden. Sie entbehrt sogar einer bloß embryonalen kanonischen Theologie. Sie stützt sich weder auf eine in kirchlichen Diensten stehende Scholastik noch auf einen volkstümlichen Katechismus.

      Aber was ist dies für eine seltsame Religion, die kaum ein einziges Merkmal dessen aufweist, was wir üblicherweise


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