Sophienlust Box 14 – Familienroman. Aliza Korten
zu Bett.
Die Kinder waren so erzogen, dass sie den Eltern hin und wieder ein ungestörtes Beisammensein gönnten. Sie wussten ja, wie stark ihre Mutter durch das Kinderheim und ihr Vater durch die Leitung der beiden Güter beansprucht waren.
Alexander machte eine neue Flasche auf und setzte sich in einen bequemen Sessel. Auf dem Kaminsims flackerten zwei Kerzen. Es war still und heimelig im Gutshaus.
»Ich bin sehr glücklich, Liebste. Komm zu mir!« Er zog Denise auf seine Knie, und sie schmiegte sich an ihn und ließ sich von ihm küssen.
»Vielen Dank für jeden Tag, den du mir geschenkt hast, Denise.«
»Bin ich es nicht, die dir zu danken hat, Alexander? Mein Leben war einsam geworden, bevor du kamst. Auch kannte ich nichts als harte Arbeit, bevor die große Erbschaft kam. Ich hatte die Sorge um Nick und musste das teure Heim für ihn bezahlen. Aber schlimmer als die Arbeit war die ständige Trennung von meinem kleinen Jungen. Doch dann wurde plötzlich alles anders. Wir konnten in Sophienlust beisammen sein. Trotzdem …«
»Nun, wir haben uns doch gleich am ersten Tag kennengelernt«, warf Alexander ein.
»Ja, Liebster, aber damals hatte ich nicht den Eindruck, dass aus uns einmal das glücklichste Paar der Welt werden sollte.«
»Du hast mein Leben reich gemacht, Denise. Sascha und Andrea bekamen endlich wieder eine Mutter. Ich glaube kaum, dass sie sich im Internat so entwickelt hätten, wie es hier geschehen ist. Meine kleine Andrea – jetzt ist sie schon selbst Ehefrau und in vieler Hinsicht bemüht, dir zu gleichen.« Er lächelte in väterlichem Stolz. »Und Sascha ist fast schon ein Mann geworden. Heutzutage haben viele Eltern Sorgen mit ihren studierenden Söhnen. Bei Sascha stimmt alles, weil du ihm den richtigen Weg gewiesen hast.«
»Warum stellst du dein Licht unter den Scheffel, Alexander?« Denise schlang die Arme fester um den geliebten Mann. »Du bist für deine Kinder ein Vorbild. Das ist es, was den jungen Menschen von heute leider oft genug fehlt. Nicht mit Moralpredigten erzieht man, sondern mit dem vorgelebten Beispiel.«
»Du darfst mich nicht so über den grünen Klee loben, Isi. Das bringt mich in Verlegenheit. Außerdem könnte ich jedes Wort zurückgeben, denn es passt auf dich weit mehr als auf mich.«
Sie plauderten mit gesenkten Stimmen von der Vergangenheit, der Gegenwart und ein wenig auch von der Zukunft. Dazu tranken sie vom besten Wein aus dem Keller und bemerkten kaum, wie die Stunden verstrichen. Endlich brach Denise auf.
»Wir müssen schlafen gehen, Alexander. Wein macht müde, und morgen ist wieder ein Tag. Das hast du vorhin zu den Buben gesagt.«
Der Mann legte die Lippen auf die seiner Frau. »Heute, Isi – denn Mitternacht ist längst vorüber. Gehen wir nach oben.«
Wenig später erlosch das letzte Licht im Gutshaus von Schoeneich.
*
Am nächsten Abend machte Nick, der als zukünftiger Besitzer von Sophienlust auch dort ein eigenes Zimmer besaß, in dem er übernachten durfte, wenn er dazu Lust hatte, wieder einmal von diesem Sonderrecht Gebrauch.
»Ich bleibe heute hier, Mutti, wenn es dir recht ist«, teilte er seiner Mutter mit, die in Sophienlust mit Frau Rennert das große Wirtschaftsbuch durchgesehen hatte.
»Gut. Bist du mit den Schulaufgaben fertig?«
»Nur in Englisch habe ich noch etwas durchzulesen. Das kann ich heute abend machen, wenn die Kleinen schlafen.«
Denise lächelte verständnisvoll. »Vorher möchtest du dich also mit den Kleinen beschäftigen? Schwester Regine wird dir für deine Unterstützung dankbar sein.«
Nick bekam rote Ohren. »Vielleicht sagt sie mir, wie sie heißt, Mutti.«
Natürlich meinte Nick die kleine Fremde mit dem blauen Luftballon, den er ihr nach dem Mittagessen, das er ebenfalls in Sophienlust eingenommen hatte, wunderbar prall aufgeblasen hatte, sodass er wieder aussah wie neu. Nick hatte es sich in den Kopf gesetzt, etwas über das Kind herauszufinden, und seine Mutter ließ ihn gewähren. Er hatte ein erstaunliches Geschick im Umgang mit großen und kleinen Kindern, obwohl das bei einem Jungen in seinem Alter recht ungewöhnlich war.
»Versuch’s, Nick. Ich habe heute früh ein bisschen mit ihr gespielt. Sie ist freundlich, aber schüchtern. Es kommt mir so vor, als hätte sie nicht viel Berührung mit anderen Menschen gehabt. Auf der Polizei liegt keine Suchmeldung vor, und der Zettel, den Vati geschrieben hat, ist nicht fortgenommen worden.«
»Bis jetzt haben wir noch bei jedem Kind herausgekriegt, woher es kommt und wie es heißt. Ich setze sie nachher auf ein Pony. Das macht ihr bestimmt Spaß.«
»Sie ist noch sehr klein, du musst vorsichtig sein.«
Nick trollte sich. Denise aber ging durchs Haus, um hier und da nach dem Rechten zu sehen. Die größeren Kinder saßen über ihren Schulaufgaben. Sie erledigten diese teils in ihren eigenen Zimmern, teils aber auch in einem großen Raum. Überall wurde ›Tante Isi‹ mit strahlenden Gesichtern begrüßt. Pünktchen wollte ihr unbedingt die letzte Klassenarbeit in Deutsch zeigen, in der das begabte Mädchen eine blitzblanke Eins bekommen hatte.
Denise nahm das Aufsatzheft und begann zu lesen. Es handelte sich um eine Tiergeschichte. Da war Pünktchen natürlich in ihrem Element gewesen. Denn Tiere spielten im Leben der Sophienluster Kinder eine wichtige Rolle – nicht nur die Tiere, die zum Gutsbetrieb gehörten, oder die Ponys, auf denen sie reiten durften, sondern auch Kleintiere aller Art, die persönliches Eigentum der Kinder waren. Habakuk, der sprechende Papagei, der im Wintergarten residierte, war im Laufe der Jahre zu einer gewichtigen Persönlichkeit des Heims geworden. Die genaue Zahl von Hunden, Katzen, Meerschweinchen, Wellensittichen, Kanarienvögeln, Goldhamstern und Kaninchen, die zum Heiminventar gehörten, war Denise nicht immer bekannt.
So war Pünktchens Aufsatz über einen hartherzigen Bauern, der einen Wurf junger Katzen hatte ertränken wollen, ein kleines Meisterwerk geworden. Die vier Kätzchen wurden in Pünktchens Erzählung glücklicherweise in letzter Minute auf dramatische Weise gerettet. Der Junge, der die Tierchen aus dem Wasser fischte, wurde als Held geschildert und hatte deutliche Ähnlichkeit mit Pünktchens geliebtem großen Freund Nick. Denn Pünktchen war einst als unglückliches kleines Kind von Nick aufgefunden worden und hing seitdem mit echter, verehrungsvoller und manchmal sogar ein wenig eifersüchtiger Liebe an ihm.
Die kleinen Katzen in Pünktchens Klassenaufsatz führten den Leser in vier gänzlich verschiedene Familien, wo sie – wie hätte es anders sein können? – nur Segen stifteten. Vielleicht war die Erzählung ein wenig idealisiert, doch Denise freute sich, dass Pünktchen die positiven Seiten des Lebens aufzuzeigen versuchte. Sogar das Tierheim, das Andrea und Hans-Joachim von Lehn für kranke Tiere gegründet hatten, erschien in abgewandelter Form in Pünktchens Aufsatz.
»Fein hast du das gemacht, Pünktchen«, lobte Denise das Mädchen und gab ihr das Heft zurück. Dann ging sie weiter.
Im Park spielte Schwester Regine mit den Kleinsten. Das neue Kind hockte im Sand und backte Kuchen, sorgsam und mit noch ungeschickten Händchen. Der Luftballon war an der Rückenlehne einer Bank festgebunden.
»Tante Isi«, sagte das Kind leise, als Denise ihm über das weiche Haar strich, das frisch gewaschen war und in der Sonne glänzte wie Silber.
»Ja, mein Kleines? Wer bekommt denn die vielen guten Kuchen?«
»Die liebe Tante.«
War die ›liebe‹ und die ›böse‹ Tante ein und dieselbe Person? Denise seufzte. Es war schwer, ja, fast unmöglich, aus einem so kleinen Kind genaue Angaben über Herkunft und Namen herauszufragen. Um den kleinen Findling nicht zu verschüchtern, drang sie nicht weiter in das Kind und überließ alle Nachforschungen zunächst Nick.
Eben überlegte Denise, ob noch mehr in Sophienlust zu tun sei, als Isabel im Laufschritt in den Park kam. »Tante Isi, Telefon! Tante Ma schickt mich.« Damit meinte das Mädchen Frau Rennert, die von den Heiminsassen, ob groß oder klein, Tante Ma genannt wurde.
Denise