Die Gefangene des Königs. Harry Voß

Die Gefangene des Königs - Harry Voß


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hin hörten sie, wie es in der Wohnung klingelte. Aber niemand öffnete.

      „Es ist keiner zu Hause“, vermutete Timo.

      „Das glaub ich nicht“, sagte Flo. „Herr König geht nie weg!“

      „Ist denn das Mädchen noch oben im Zimmer?“, fragte Lisa. Die drei Kinder entfernten sich leicht vom Haus, um besser nach oben schauen zu können. Aber es war niemand zu sehen.

      „Vielleicht hat Herr König sein Enkelkind zu Besuch“, versuchte Lisa eine Erklärung zu finden. „Und heute ist er mit ihm einkaufen oder spazieren gegangen.“

      „Herr König hat kein Enkelkind“, widersprach Flo sofort. „Das hätte ich doch gesehen. Ich habe noch nie beobachtet, dass Herr König Besuch gehabt hätte.“

      „Vielleicht kommt der Besuch nur, wenn du gerade nicht hinschaust“, sagte Lisa.

      „Das wäre ja ein Zufall!“

      Timo klingelte noch einmal. Er donnerte mit der Faust gegen das Holztor.

      Endlich hörten sie etwas. Die Gardine hinter einem der Fenster wurde zurückgezogen. Der alte Herr König öffnete das Fenster. „Was soll das? Warum klingelt ihr wie Verrückte?“

      „Wir wollten zu dem Kind, das bei Ihnen wohnt“, erklärte Timo.

      „Kind?“ Herr König räusperte sich. „Willst du mich beleidigen?“

      „Da hat doch heute Morgen ein Mädchen oben aus dem Fenster geschaut. Wer ist das?“

      „Wie bitte?“ Herr König beugte sich aus dem Fenster und schaute nach oben. „Wer soll da aus dem Fenster schauen? Ich glaube, ihr spinnt! Verschwindet und hört auf, ältere Menschen zu belästigen!“

      „Aber Moment mal“, schaltete sich Lisa ein. „Als wir heute früh zur Schule gegangen sind, stand da oben ein Mädchen am Fenster und hat zu uns nach draußen geschaut!“

      „Ja“, bestätigte Flo. „Und es hat ‚Hilfe‘ auf die Scheibe geschrieben .Und ‚Hilfe‘ gerufen!“

      „Was?“ Herr König hob wütend seine Faust. „Das wird ja immer frecher! Ich wohne hier alleine, das dürfte ja wohl bekannt sein! Das obere Zimmer steht seit vielen Jahren leer! Da wohnt niemand!“

      „Überzeugen Sie sich selbst!“, rief Lisa. „Wir haben es heute Morgen gesehen! Vielleicht wohnt ja da oben jemand und Sie haben es gar nicht mitbekommen! Schauen Sie doch einfach mal nach!“

      „Ich rufe gleich die Polizei, wenn ihr nicht sofort verschwindet!“ Herr König schlug das Fenster zu.

      Die Kinder schauten sich an. „Mama mia“, murmelte Lisa nach einer Weile. „Ob Herr König gar nicht weiß, dass da oben jemand wohnt?“

      Flo schüttelte den Kopf. „Das kann eigentlich nicht sein.“

      „Vielleicht haben wir uns auch nur geirrt“, sagte Timo, „und waren heute Morgen noch so müde, dass wir geträumt haben.“

      Flo schüttelte den Kopf. „Nee. Ich war vielleicht müde. Aber nicht verrückt.“

      „Und wir haben es ja alle drei gesehen“, stimmte Lisa zu. „Wenn wir müde sind und träumen, dann träumen wir doch nicht alle dasselbe.“

      „Das stimmt. Trotzdem hat Herr König gesagt, da ist niemand.“

      „Sehr merkwürdig.“

      Weil sie sich aber sonst keinen Reim darauf machen konnten, gingen sie erst mal nach Hause. Vielleicht hatten sie ja wirklich nur geträumt.

      3. Dezember

      Als die drei am nächsten Morgen am Haus von Herrn König vorbeikamen, hörten sie es plötzlich wieder klopfen.

      „Schon wieder!“ Flo zeigte nach oben. Sie schauten zum oberen Fenster und sahen dasselbe Mädchen wie gestern dort stehen. Sie winkte und machte Mundbewegungen, als wollte sie ihnen etwas mitteilen. Sie schmierte Buchstaben an die beschlagene Scheibe.

      „Was soll das heißen?“, fragte Flo.

      Timo zögerte nicht lange. Er ging an das Hoftor und klingelte zwanzigmal hintereinander. Herr König riss das Fenster auf: „Hört sofort auf! Seid ihr verrückt geworden?!“

      „Das Mädchen ist wieder in Ihrem Zimmer!“, rief Timo aufgeregt. „Schauen Sie schnell nach!“

      „Ihr freches Pack! Da ist niemand! Und wenn ihr noch einmal klingelt, rufe ich die Polizei!“

      Lisa sah nach oben: „Das gibt’s doch gar nicht! Jetzt ist das Mädchen weg!“

      Timo und Flo schauten auch nach oben. Das Fenster war leer. Aber wenn man genau hinschaute, dann sah man, dass die Scheibe noch beschlagen war. Da hatte eindeutig jemand gestanden!

      „Mama mia“, hauchte Lisa, als die drei weitergingen. „Ein Mädchen winkt aus dem oberen Fenster im Haus eines alten Mannes. Und wenn man klingelt, ist das Mädchen weg. Da stimmt doch was nicht.“

      „Vielleicht ist es ein Geist“, sagte Timo und bekam sofort ein ängstliches Gesicht.

      „Du spinnst“, gab Lisa grob zurück. „Geister und Gespenster gibt es nicht!“

      Sie gingen weiter und grübelten stumm vor sich hin.

      „Oder es ist das Christkind“, überlegte Flo.

      „Das Christkind?“ Lisa lachte laut auf. „Soll das ein Witz sein?“

      „Das Christkind gibt es in echt!“, beharrte Flo. „Das singen wir jedes Jahr in der Adventszeit: „Freue dich: s Christkind kommt bald!“

      Lisa schaute Flo mit großen Augen an. „Das glaubst du aber nicht ernsthaft. Oder?“

      „Na ja … denkst du denn, meine Eltern singen mit mir Lügenlieder?“

      Lisa kratzte sich am Kopf. „Tja. Die Eltern erzählen einem ja schon manchmal irgendeinen Blödsinn, wenn sie uns Kinder für dumm verkaufen wollen.“

      „Ehrlich?“

      „Ja, als ich klein war, haben meine Eltern behauptet, wenn ich nicht brav bin, dann kommt der Weihnachtsmann nicht zu mir.“

      „Ja, das haben mir meine Eltern auch erzählt“, stimmte Timo zu. „Sie haben aber nicht Weihnachtsmann, sondern Nikolaus gesagt. Sie haben gedroht, wenn ich nicht artig bin, dann kommt der Nikolaus und steckt mich in den Sack!“

      „Das ist aber gemein!“, fand Lisa.

      „Boah“, sagte Flo. „Da hätte ich aber voll Angst bekommen!“

      „Hab ich auch“, sagte Timo. „Total! Aber als ich dann irgendwann kapiert habe, dass das mit dem bösen Nikolaus nur leere Drohungen sind, habe ich ihnen nicht mehr geglaubt.“

      „Aber das mit dem Christkind“, fing Flo noch mal an, „das ist, glaube ich, was anderes. Denn vom Christkind in der Krippe hören wir ja auch in der Kirche.“

      „Aber das ist doch nicht dasselbe wie das Christkind, das die Geschenke bringt“, belehrte ihn Lisa.

      „Warum nicht?“

      „Das Christkind kann doch nicht an Weihnachten als Baby in der Krippe liegen und gleichzeitig alle Geschenke an alle Kinder dieser Welt bringen!“

      „Doch, klar! Meine Eltern haben mal gesagt, das Christkind lebt auch heute noch.“

      „Die wollen nur, dass du brav bist“, grinste Lisa.

      „Echt?“

      „Und wenn schon“, sagte Lisa, „dann steht das Christkind bestimmt nicht bei Herrn König hinter dem Fenster und schreibt ‚Hilfe‘ an die Scheibe!“

      Flo schüttelte den Kopf. „Da muss ich nachher mal meine Eltern fragen.“


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