Vergisst mich Gott, wenn ich Gott vergesse?. Tim van Iersel
Ist es nicht verwunderlich, dass Christen die Liebe und die Macht Gottes infrage stellen? Dass die Welt geschaffen ist, bedeutet doch, dass das Leben einen Grund und ein Ziel hat. Uns gibt es nicht einfach so. Wir sind nicht aus Zufall hier, sondern mit einer Bestimmung. Gott setzt sich dafür ein. Er hat seinen Sohn gesandt, damit wir in Liebe leben, in Liebe zu Gott, zueinander und zu uns selbst.
Es passt zu unserer Kultur nach der Aufklärung anzunehmen, dass jedes Problem durch intellektuelles Denken und wissenschaftliche Erkenntnis gelöst werden kann. So kommt es auch zu der Frage nach dem Warum. Eigentlich ist es eine verblüffende Reihenfolge: Zuerst überlegen wir rational, ob Gott vertraut werden kann, und dann fangen wir an, uns auf Gott zu verlassen. Dann hat man einen Gott, den man voll und ganz mit dem Verstand begreifen und fassen kann.
Man kann aber auch fragen, ob „Warum?“ wirklich eine gute Frage ist.
Nach Swinton dachte die frühe Kirche anders.14 Die frühen Christen suchten nicht nach einer rationalen Erklärung für das Leiden. Ihre Antwort auf die Warum-Frage war nicht eine Infragestellung der Allmacht und der Liebe Gottes. Ihre Antwort war die Gründung von Gemeinschaften. In diesen Gemeinschaften wurden der Glaube und das Leben miteinander geteilt, das Leiden gemeinsam getragen und ihm widerstanden. Man erwartete gemeinsam Jesu Wiederkunft.
Ich finde, wir können viel von diesen frühen Christen lernen. Ihr Umgang mit der Warum-Frage war mehr praktisch als philosophisch. Es ging ihnen um die Beziehung zwischen Gott und Mensch und nicht um einen abstrakten und distanzierten Gott, über den man gepflegt philosophieren kann wie David Hume. Sie glaubten an einen persönlichen Gott, der sich hat ansprechen und anrühren lassen und der sich noch immer berühren lässt. Es geht um Gott, den Vater, der uns seinen Sohn aus Liebe gegeben hat. Und der uns seinen Geist schenkt, um jeden Tag bei uns, ja sogar in uns zu sein. Näher kann er uns nicht kommen. Näher kommt uns niemand.
Psalmen
Das soll nun nicht heißen, dass man die Frage nach dem Warum gar nicht stellen darf. Oder dass eine Klage nicht erlaubt wäre. Im Gegenteil. Wir lesen in Psalm 22 die Worte, die Jesus selbst gesprochen hat in seinen Stunden der Anfechtung: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Immer wieder kann man in den Psalmen ähnliche Wehklagen lesen: Gott, wo bist du? Gott, ich leide, ich habe Angst, warum hörst du mich nicht?
Christa antwortet im Interview auf die Frage, mit welchen Bibeltexten sie nun nichts mehr anfangen kann: mit drei Viertel der Bibel. Aber sie sagt auch: „Die Psalmen finde ich jetzt sehr hilfreich mit all ihren Klagen zu Gott. Sie sprechen mir aus dem Herzen.“ Gott ist so nahe, dass er sich anklagen lässt. Das ist das Besondere am christlichen Glauben. Gott steht in einer Beziehung mit uns, in der er sich befragen lässt, so wie es in den Psalmen häufig geschieht.
Gleichzeitig lesen wir in den Psalmen immer wieder vom Gottvertrauen, ebenfalls in Psalm 22,25 (NGÜ): „Denn der Herr hat sich von der Not des Hilflosen nicht abgewandt und seine Leiden nicht verachtet. Ja, der Herr hat sein Angesicht nicht vor ihm verhüllt, sondern auf ihn gehört, als er um Hilfe rief.“
Das sehen wir in den Psalmen immer wieder: Da werden Fragen gestellt und sogar vor Gott geklagt und gleichzeitig ist da Vertrauen. So wie wir es auch aus unseren menschlichen Beziehungen kennen. Denn auf der Basis von Vertrauen können wir einander infrage stellen und anklagen. Jesus tut das auch: Er verlässt sich auf seinen Vater und ruft doch am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Fragen und Vertrauen. Beides ist möglich, weil Gott uns nahe gekommen ist. Weil er ein persönlicher Gott ist, der sich berühren lässt. An den Psalmen können wir erkennen, wie durch das Klagen und das Herausschreien des Leides das Herz weit wird und ein Mensch schließlich loslassen und Gott loben kann.
Der Versuch, die Warum-Frage rein rational zu beantworten, scheint also vor allem eine Folge des postaufklärerischen Denkens zu sein. Darum kann man fragen, ob es wirklich eine sinnvolle Frage ist. Denn Gott ist kein abstrakter Gott, sondern einer, der persönlich da und ansprechbar ist.
Gottes Antwort
Es ist besser zu fragen: Was ist Gottes Antwort auf das Leiden?
Die Menschwerdung und die Auferstehung Jesu sind lebendige Beweise für Gottes Liebe und seine Macht. Hier lässt Gott erkennen, wie er uns liebt und mit uns sein will. Diese Liebe motiviert uns, Glaubensgemeinschaften zu bilden, wie es in der frühen Kirche geschah. In solchen Gemeinschaften können wir klagen, Fragen stellen, aber auch Vertrauen wagen und einander in Krankheit und Leid tragen.
In diesen Gemeinschaften teilen wir Brot und Wein. Gerade dabei erfahre ich immer öfter die Liebe und die Macht Gottes, der uns so nahe kommt.
Als Kind konnte ich wenig mit dem Abendmahl anfangen. Wenn mein Bruder und ich zu Hause, bevor wir in die Kirche gingen, vier anstelle von drei Süßigkeiten auf der Anrichte liegen sahen, sagten wir uns: „Heute gibt es also Abendmahl.“ Wir bekamen eine extra Süßigkeit, um den (längeren) Gottesdienst zu überstehen. Als Kinder durften wir nicht teilnehmen und das Abendmahl bedeutete nur Langeweile.
Heute ist das anders. Das Abendmahl zu feiern ist für mich zu einer intensiven Erfahrung geworden. Jetzt bin ich selbst Pfarrer und darf das Brot mit den Bewohnern in Pflegeheimen teilen. Nach den Worten Jesu bei seinem letzten Mahl und nach dem Brechen des Brotes darf ich zu jedem Anwesenden gehen und das Brot reichen. Das berührt mich tief. Ich muss mich dabei im wahrsten Sinne des Wortes hinunterbeugen zu den Menschen, die in einem Rollstuhl sitzen oder nicht mehr aufstehen können. Das Hinabbeugen geschieht, um einander auf Augenhöhe zu begegnen, in liebevoller Verbundenheit. Das Abendmahl ist das Zeichen der Verbundenheit mit Jesus, der sich uns schenkt. Und das Zeichen der Verbundenheit miteinander als Gemeinschaft.
Da kann es geschehen, dass wir Gott begegnen und ihn sehen inmitten von Krankheit und Trauer. Manchmal wird uns das erst im Nachhinein bewusst, so wie den Emmausjüngern15, die erst spät erkennen: Er ist da. Als Jesus nach dem Teilen des Brotes verschwunden war, sagen die zwei Emmausjünger, die traurig mit Jesus unterwegs gewesen waren und ihn nicht erkannt hatten: „Brannte nicht unser Herz, da er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete?“16 Erst da erkannten sie ihn!
Gott ist groß, manchmal unbegreiflich, mächtig und Ehrfurcht gebietend – und gleichzeitig unbegreiflich nahe. Immanuel, Gott mit uns, den wir fragen und vor dem wir klagen dürfen. Er sieht und hört und kennt uns.
Ich habe keine Antwort auf die Frage nach dem Warum.
Aber ich will diesem persönlichen Gott vertrauen und seine Liebe mit anderen teilen, in einer Gemeinschaft, die Trauer und Leid aufnimmt und trägt als Leib Christi. Und die um seine Wiederkunft bittet: Komm, Jesus, schnell: Maranatha!
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.