VIREN. Traian Suttles

VIREN - Traian Suttles


Скачать книгу
zu kritisieren, aber nach dem heutigen Stand der Forschung müsste man sie als übermäßig simplifizierend einstufen – wir werden im nächsten Kapitel genauer erfahren, warum die Evolutionsgeschichte der Viren wohl komplizierter verlief.

      Blendet man die Entstehungsgeschichte zunächst aus, lässt sich schon durch ihre Winzigkeit und ihren einfachen Aufbau erklären, warum Viren evolutiv so ungeheuer erfolgreich sind. Als extreme Reduktionsformen kann man sie als «Energiesparer» bezeichnen: Dank ihrer simplen Struktur sind sie vom Stoffwechsel der von ihnen befallenen Zellen schnell und in großer Zahl herstellbar, und zwar, indem ihre Erbsubstanz (das virale Genom) in der Wirtszelle massenhaft kopiert wird (es können bis zu hunderttausend Viruskopien in einer einzigen Wirtszelle angefertigt werden). Für diese «Kopierarbeit» im Dienste des eingedrungenen Virus kommen Zellen aller möglichen Lebewesen, egal ob Ein- oder Vielzeller, Pflanze oder Tier, infrage (auch wenn jede Virenart sich beim konkreten Befall ihrer Wirte bestimmte «Zielzellen» sucht, siehe nächstes Kapitel). Nach unserem Standardverständnis leben Viren nicht, sie «warten» auch nicht auf Opfer oder greifen diese an – erst recht nicht mit irgendwelchen Absichten. Aber sie erscheinen uns so, da sie weltweit verbreitet und strukturell optimiert sind, jeglichen Kontakt mit den ebenfalls global verbreiteten Lebewesen sofort für ihre Vermehrung zu nutzen.

      Ein denkbarer Nachteil ihrer extremen Kleinheit ist zwar, dass sie außerhalb ihrer Wirte recht instabil sind – wir kennen die betreffenden Angaben aus Krisenzeiten wie der Covid-­19-Pandemie, etwa, dass sich das SARS-CoV2-Virus auf trockenen Flächen nur wenige Stunden zu halten vermag, bevor es zerfällt. Bei anderen Viren, die sich größenmäßig praktisch alle im erweiterten molekularen Bereich befinden (eine Länge von etwa hundert Atomen galt früher als grobes Richtmaß), ist es sehr ähnlich – sie sind empfindlich gegenüber Wärme und bestimmten chemischen Einflüssen. Besagte Fragilität und die daraus resultierenden massenhaften Verluste jedoch gleichen sie durch ihr lawinenartiges Reproduktionspotenzial aus, das überall zur Geltung kommen kann – und statistisch betrachtet zur Geltung kommen muss –, wo sich Lebewesen befinden. Viren sind also rein kategorial von der Biosphäre zu unterscheiden, aber bezüglich ihrer Vermehrungsstrategie tief in diese eingebettet und definitiv nicht von ihr zu trennen. Sie repräsentieren die kleinsten replizierbaren Einheiten, die die natürliche Evolution hervorgebracht hat, aber eben auch mutierbare Entitäten: Mit ihrer mutierbaren Erbsubstanz erhalten sie sich die Fähigkeit, im evolutiven Wettrennen mit ihren Wirten nie den Anschluss zu verlieren. Offenbar hat sich ein asymmetrisches Verhältnis etabliert – die Biosphäre würde leidlich gut ohne die Virosphäre auskommen, die Virosphäre jedoch kann keinesfalls ohne die Biosphäre existieren. Aus dem resultierenden evolutiven Dauerkampf werden Viren ganz sicher nicht als Verlierer hervorgehen, denn ihr Angebot an Wirten ist so breit, dass sie immer und überall zum Zuge kommen und z. B. uns Menschen durch unerwartetes «Überspringen» aus dem Tierreich schwer zu schaffen machen. Die vergleichsweise winzigen Genome der Viren evolvieren ebenso wie die großen Genome der «echten» Lebewesen, nur tun sie dies aufgrund ihrer enormen Vermehrungsrate und erheblichen Toleranz für Mutationen weitaus schneller. Die natürlichen Abwehrmechanismen ihrer Wirte vermögen sie daher mit schöner Regelmäßigkeit zu unterlaufen, so dass die (aus vielerlei Gründen naive) Wunschvorstellung einer virenfreien Welt gestrichen werden kann: Viren werden erst dann von der Erde verschwinden, wenn alles irdische Leben erloschen ist. Bis dahin bleiben sie der «ständige Begleiter» der organismischen Evolution, ihr gleichsam folgend wie ein Schatten. Ob Menschen es einmal schaffen können, künstliche Biosphären im Weltall zu errichten und Viren erfolgreich «außen vor» zu lassen, darf man bezweifeln, aber in der Theorie wäre dies wohl die einzige – sehr vage – Hoffnung, Viren jemals wieder loszuwerden. Bis dahin gilt, dass sie uns immer und überall begegnen und wir ihren evolutiven Erfolg zu spüren bekommen, indem wir an ihnen erkranken – oder sogar sterben.

      2) Evolution der Virodiversität – eine unaufhaltsame Erfolgsgeschichte

      Da die Evolutionsgeschichte der Viren sich über einen extrem langen Zeitraum erstreckt – je nach Modell könnte ihre Entstehungszeit mehrere Milliarden Jahre zurückliegen – ist es wenig überraschend, dass sich eine beachtliche Vielfalt ausgebildet hat. Trotzdem kann man diese «Virodiversität», also Mannigfaltigkeit der Viren, in relativ einfache Haupttypen unterteilen. Einmal ist dies anhand der Erbsubstanz möglich: Viren können entweder DNA oder RNA als Erbmaterial verwenden – zwei Sorten von Nukleinsäuren, wie sie auch in Zellen zum Einsatz kommen –, um die genetische Information auf geordnetem Wege (nämlich von genomischer DNA via «abgeschickter» Boten-RNA) in Proteinbausteine zu übertragen. Eine andere simple Möglichkeit der Klassifizierung liefert die Frage, wie diese virale Erbsubstanz, also das Virengenom, «verpackt» ist. Normalerweise befindet sich das virale Genom in einer oder mehreren «Umverpackungen», die aus Proteinen bestehen. Ein solcher Proteinmantel wird als Capsid bezeichnet. Das Capsid bildet in seinem Inneren einen Stauraum, der neben dem zwingend benötigten viralen Erbgut auch katalytisch wirksame Proteine (Enzyme) beherbergen kann: In der Regel helfen diese Enzyme dann bei der Erbgutvermehrung, sobald das Eindringen in eine Wirtszelle gelungen ist.

      Trotz der Proteinumhüllung nennt man solche Viren aber nicht «Hüllviren». Ein Hüllvirus weist zusätzlich zum Capsid eine weitere Außenumgrenzung auf, die aus einer Lipiddoppelschicht besteht: einer feinen Membran aus Fettsäuren, die man genau so von der äußeren Umgrenzung sämtlicher Zellen kennt. Dieser Virentyp ist also, was man als sehr bemerkenswert bezeichnen muss, mit einer Zellmembran ausgestattet. Wie Hüllviren zu diesem charakteristischen Bestandteil kommen, werden wir in den beiden nächsten Kapiteln erfahren; vorerst sei festgehalten, dass die Übereinstimmung dieser «Virenmembran» mit einer Zellmembran sich auf weitere Details erstreckt. Vor allem sind spezielle Proteine (normalerweise Glykoproteine, also Eiweiße mit Zuckerseitenketten) in diese Lipiddoppelschicht integriert – es handelt sich um jene keulen- oder saugnapfähnlichen Fortsätze, wie man sie aus massenmedial verbreiteten Abbildungen bestimmter Hüllviren verinnerlicht hat (das in dieser Hinsicht lange Zeit populärste Virus, HIV1, wurde neuerdings von SARS-CoV2 überholt). Jene meist «Spikes» genannten Proteinfortsätze – der Fachbegriff lautet Peplomere – spielen bei der Interaktion mit der Wirtszelle eine entscheidende Rolle. Generell kann man sagen, dass beide Bautypen von Viren mittels Proteinbestandteilen den Kontakt zur Wirtszelle herstellen: die «einfachen» Viren mit Proteinen des Capsids (manchmal auch mittels spezieller Vertiefungen auf der Proteinaußenfläche), die Hüllviren mit den aus der Membran herausragenden Proteinspikes. Diese für die virale Invasionsstrategie entscheidenden Außenproteine und Oberflächenstrukturen hat man anschaulich als Türöffner bezeichnet, derer sich die Viren bedienen, um ins Zellinnere zu gelangen, und tatsächlich spielen Schlüssel-Schloss-Mechanismen eine Rolle: In der Zellmembran der Wirtszelle müssen bestimmte Rezeptorproteine auf die «Türöffner-Proteine» der angedockten Viren reagieren. Nur wenn dies der Fall ist, wird das Eindringen durch die Zellmembran möglich. Da die äußere Rezeptorzusammensetzung von Zellen insgesamt sehr verschieden ausfällt, wird auch verständlich, warum Viren nicht in jede beliebige Zelle gelangen können: Jede Virussorte ist auf bestimmte Zelltypen spezialisiert, in grundsätzlicher Abhängigkeit von den genannten Schlüssel-Schloss-Mechanismen (fachsprachlich Ligand-Rezeptor-Reaktionen). Nur bei Zielrezeptoren, die auf vielerlei Zelltypen anzutreffen sind, kann ein Virus sich eher unspezifisch verhalten und alle betreffenden Zelltypen invadieren.

      Das AIDS-Virus HIV1 in modellhafter Darstellung. Das Erbgut in seinem Inneren (blaue Stränge) besteht aus zwei identischen einsträngigen RNA-Genomen. AIDS-Viren sind Retroviren: Sie lassen ihr RNA-Genom in DNA übersetzen, sobald sie in eine Wirtszelle eingedrungen sind. Hierfür bringen sie das Enzym Reverse Transkriptase mit (hellgrün im Modell), das in den Wirtszellen nicht vorhanden ist.

      Wenn man vom enormen evolutiven Erfolg der Viren redet, ist einerseits ihre Befähigung zur «flexiblen Antwort» gemeint – sie können durch äußerst zahlreiche Variationen ihrer Außenproteine und ihrer eigenen Enzymausstattung immer wieder auf Abwehrmaßnahmen ihrer Wirte reagieren. Andererseits geht es bei ihrer evolutiven Erfolgsgeschichte natürlich auch um ihre Herkunft. Hierzu legte man verschiedenste Modelle vor; einige davon muten recht fantasievoll an: etwa die Vorstellung, dass sie von Kometen auf die Erde eingeschleppt wurden (was leider unerklärt lässt, ob oder


Скачать книгу