Der Besuch der alten Dame von Friedrich Dürrenmatt: Reclam Lektüreschlüssel XL. Bernd Völkl
gegen die Zachanassian. Doch die bestreiten die Existenz einer Bedrohung und machen ebenfalls auf Pump Anschaffungen für sich und für die Stadt.
Die Zachanassian hat auch einen schwarzen Jagd auf den PantherPanther dabei, den sie als »großes, böses Kätzchen mit funkelnden Augen« bezeichnet (S. 61). Dieses Tier steht symbolisch für Ill, den sie früher ihren schwarzen Panther genannt hat. Dieses Tier bricht aus und wird dann im Ort gejagt und schließlich vor Ills Laden erschossen. Damit werden die Jagd auf Ill und sein späterer Tod vorweggenommen. Die Trauerode des gemischten Chors auf den Panther wird dementsprechend von Ill so interpretiert, dass man ein Lied auf seinen Tod »übt« (S. 77).
In seiner inneren Not hat Ill auch den Pfarrer des Ortes aufgesucht. Der Pfarrer, der ebenfalls der Lockung des Geldes erliegt, rät ihm, aus dem Ort zu fliehen. Als Ill mit einem Koffer am Bahnhof erscheint, tauchen auch die Güllener auf. Sie ermutigen ihn mit ihren Worten, in den Zug einzusteigen, hindern ihn aber durch ihr Verhalten an der geplanten Flucht. Als dieser Vergeblicher FluchtversuchFluchtversuch gescheitert ist, erkennt Ill, dass er »verloren« ist (S. 85).
Dritter Akt
Nach Claires Hochzeit mit dem Gatten VIII im Münster – die Scheidung hat sie unmittelbar danach schon wieder eingereicht – bitten der Arzt und der Lehrer die Zachanassian, ihnen aus ihrer Verschuldung herauszuhelfen, ohne Ill töten zu müssen, etwa indem sie marode Betriebe kauft und in sie investiert. Doch sie macht ihnen unmissverständlich klar, dass sie das Geld nur beim Ills Tod wird unvermeidlichTod Ills bekommen. Außerdem besitzt sie die Betriebe bereits und hat den Niedergang des Ortes bewusst herbeigeführt, um sich dafür zu rächen, wie sie vor 45 Jahren von Ill und den Güllenern behandelt worden ist.
Mit der Verschuldung verändert sich auch die öffentliche Veränderung der öffentlichen MeinungMeinung. Ill, früher der beliebteste Bürger der Stadt, wird nun in den Gesprächen offen abgelehnt und für sein früheres Verhalten kritisiert. Am klarsten erkennt der Lehrer, dass er und die anderen Bürger Güllens wegen der Milliarde zu Mördern werden. Ill zieht sich mit der Zeit zurück und kommt in schweren inneren Kämpfen zu der Einsicht, dass er schuldig ist und Claire zu dem gemacht hat, was sie heute ist. Er erklärt dem Lehrer, dass er nicht mehr um sein Leben kämpfen will.
Der Bürgermeister kommt zu Ill und informiert ihn von der geplanten Gemeindeversammlung, bei der, ohne es direkt auszusprechen, über das Angebot der Zachanassian abgestimmt werden soll. Ill sagt zu, das Urteil der Güllener zu akzeptieren. Er wird weiterhin schweigen, ist aber nicht bereit, Ill soll sich selber umbringenSelbstmord zu begehen, wie es ihm der Bürgermeister nahelegt, um ihnen den Mord zu ersparen. Er erklärt dem Bürgermeister, dass er die Hölle durchgemacht habe, nun aber die Furcht vor dem Tod überwunden hat. Der Bürgermeister nimmt das mitgebrachte Gewehr bedauernd wieder an sich.
Mit seiner Familie unternimmt er noch eine letzte Fahrt im neugekauften Auto und sieht, wie Güllen in Erwartung des Geldes der Milliardärin wieder aufblüht. Überall wird gebaut und investiert. Die Ill nimmt Abschied von der FamilieFamilie verweilt im Konradsweilerwald, nimmt danach aber nicht an der Gemeindeversammlung teil, sondern fährt weiter zum Kino. Sie verabschiedet sich so von Ill, als ob sie ihn bald wiedersehen würde, obwohl alle genau wissen, dass er noch an diesem Abend umgebracht wird.
Ill will zu Fuß zur Gemeindeversammlung laufen und trifft im Konradsweilerwald noch ein letztes Mal mit Letzte Begegnung mit ClaireClaire zusammen. Sie wissen beide, dass es ihre letzte Begegnung ist. Der innerlich veränderte Ill erkundigt sich nach dem gemeinsamen Kind, und Claire erinnert noch einmal an ihre Zeit als Liebespaar und lässt ihm seine Lieblingslieder auf der Gitarre vorspielen. Ill spricht am Ende offen aus, was ihm bevorsteht, und Claire erzählt ihm, wie prächtig sie ihn bestatten wird. Indem sie Ill vernichtet, der ihre Liebe verraten hat, will sie ihren Traum von Liebe »wieder errichten« (S. 117).
Unter Anwesenheit der internationalen Presse, des Fernsehens und Rundfunks findet eine Gemeindeversammlung statt, die über die Annahme der Spende der Milliardärin entscheidet. Was im Namen von Humanität und Gerechtigkeit beschlossen wird, ist in Wirklichkeit ein Todesurteil. Nachdem die Presse den Raum verlassen hat, wird Ermordung IllsIll von den Güllenern umgebracht. Die Presse nimmt es dankbar auf, dass Ill aufgrund der großzügigen Spende einen Herzschlag aus Freude erlitten habe. Kaum ist Ill tot, lässt ihn die Zachanasssian in den mitgebrachten prächtigen Sarg legen und in ein eigens für ihn errichtetes Mausoleum auf Capri bringen. Der Bürgermeister erhält den versprochenen Scheck.
Abb. 3: Überblick über die Handlung des dritten Akts
Am Ende, als die Milliardärin mit ihrem Gefolge und dem Sarg abzieht, ist Güllen zu einem glanzvollen Ort des sichtbaren Äußerer WohlstandReichtums geworden. Der Ort ist geschmückt, erscheint modern, die Bewohner tragen festliche Kleidung. Der D-Zug hält wieder an dem renovierten Bahnhof, wo die Zachanassian in den Salonwagen einsteigt.
3. Figuren
Bei den Figuren des Dramas fällt auf, dass nur die beiden Hauptpersonen Namen tragen. Alle anderen werden im Personenverzeichnis mit ihrem Beruf oder ihrer Funktion bezeichnet Auch wenn bei manchen der Name im Lauf des Stücks einmal erwähnt wird, wird deutlich, dass sie keine Individuen, sondern Teil eines Kollektivs sind, das der Verführung durch die in Aussicht gestellte Milliarde verfällt.
Claire Zachanassian
Die reiche Milliardärin ist in Güllen geboren und aufgewachsen. Ihr Geburtsname »Kläri Wäscher« (S. 17) betont das Kleinbürgerliche ihrer Klaras FamilieHerkunft. Ihr Vater wird am Anfang des Dramas als Baumeister bezeichnet (S. 19). Er war aber keineswegs beruflich erfolgreich. Nur die Bedürfnisanstalt am Bahnhof ist noch vorhanden. Nachdem ihn seine Frau verlassen hat, verfiel er dem Alkohol und starb im Irrenhaus. Klara war eine schlechte Schülerin, auch ihr Verhalten gab immer wieder Anlass zu Klagen (S. 18 f.).
Ill beschreibt sie als besonders Klara – eine attraktive junge Frauattraktiv: »ich sehe sie immer noch, wie sie mir durchs Dunkel der Peterschen Scheune entgegenleuchtete oder mit nackten Füßen im Konradsweilerwald durch Moos und Laub ging, mit wehenden roten Haaren, biegsam, gertenschlank, zart, eine verteufelt schöne Hexe.« (S. 18)
Für Claire war Ill die Liebe ihres Lebens. Einerseits erinnert sie sich gern daran, sie lässt Ill noch einmal die Kosenamen wiederholen, mit denen er ihr damals geschmeichelt hat. Aber andererseits hat man ihr in Güllen ihr Recht verweigert. Ill hat bestritten, der Vater ihres Kindes zu sein, und hat dank falscher Zeugen recht bekommen. Zutiefst gedemütigt und ohne Lebensperspektive musste Klara Güllen verlassen: »Es war Winter, einst, als ich dieses Städtchen verließ, im Matrosenanzug, mit roten Zöpfen, hochschwanger, Einwohner grinsten mir nach.« (S. 90)
Nachdem sie Güllen verlassen hat, wird Klara zur Von der Hure zur MilliardärinDirne. Im Bordell lernt sie den Milliardär Zachanassian kennen, der sie heiratet. Sie wird zur reichsten Frau der Welt. Was ihr in Güllen angetan wurde, hat sie aber tief verletzt und hart gemacht. Sie will Rache: »Frierend saß ich im D-Zug nach Hamburg, doch wie hinter den Eisblumen die Umrisse der Peterschen Scheune versanken, beschloß ich zurückzukommen, einmal. Nun bin ich da. Nun stelle ich die Bedingung, diktiere das Geschäft.« (S. 90) Sie ist skrupellos und erwähnt einmal, dass sie sich alle Teufeleien von Zachanassian, ihrem ersten Ehemann, abgeguckt hat (S. 54), dessen Name an mehrere schwerreiche Unternehmer der Nachkriegszeit erinnert: Zachanoff, Onassis und Gulbenkian.
Deswegen ist sie auch für jede sentimentale Erinnerung vollkommen unempfänglich und hat einen nüchternen Schonungsloser Blick auf die WirklichkeitBlick für die hässliche Realität. Als Ill behauptet, dass er immer noch der schwarze Panther von früher sei, erklärt sie: »Du bist fett geworden. Und grau und versoffen.« (S. 26) Auch sich selbst betrachtet sie schonungslos: »Auch ich bin alt geworden und fett. Dazu ist mein linkes Bein hin.« (S. 26) Die verlogene Begrüßungsrede des Bürgermeisters durchschaut sie und stellt ihr die Wirklichkeit entgegen. Güllen bezeichnet sie bei ihrer Ankunft als trauriges Nest, doch die genaue Kenntnis des Ortes und der Umgebung zeigt, dass die Erinnerung in ihr lebendig ist. Sie hat wirklich nichts von früher