Theorie U - Von der Zukunft her führen. C. Otto Scharmer
Felder als diejenigen, die sie normalerweise erleben. Dies wird sichtbar durch eine veränderte Qualität des Denkens, Sprechens und des gemeinsamen Handelns. Wenn dieser Übergang geschieht, verbinden sich die Menschen mit einer tieferen Quelle der Kreativität und des Wissens und lassen die Muster der Vergangenheit hinter sich. Sie treten in ihr wirkliches Kraftzentrum ein, in die Kraft des authentischen Selbst. Ich nenne diesen Vorgang eine Verlagerung in ein anderes soziales Feld, da dieser Begriff die Gesamtheit und den Typ der Beziehungen kennzeichnet, durch den die Teilnehmenden eines gegebenen Systems sich miteinander verbinden, denken, sprechen und handeln.
Wenn eine Gruppe es schafft, sich einmal in die »Zone« gemeinsamen schöpferischen Handelns zu begeben, wird das zweite Mal gleich einfacher. Es ist, als ob eine unsichtbare, aber nachhaltige gemeinsame Verbindung oder Prägung entstanden wäre. Sie bleibt sogar meistens dann erhalten, wenn einige neue Teilnehmende in die Gruppe kommen. Die folgenden Kapitel beschreiben, was passiert, wenn eine solche Verlagerung oder Umstülpung des sozialen Feldes stattfindet, und wie diese sich manifestiert.
Die Umstülpung eines sozialen Feldes ist mehr als ein bemerkenswerter Augenblick. Wenn sie stattfindet, zieht sie in der Regel eine Reihe von Merkmalen nach sich: die Zunahme der individuellen Energie, die Steigerung der Aufmerksamkeit, die Vertiefung der Authentizität und Präsenz, ein klareres Richtungsverständnis sowie überdurchschnittliche professionelle und persönliche Ergebnisse und Errungenschaften.
Während die Krisendebatte unserer Zeit sich immer mehr verbreitet, werden die Stimmen der Protagonisten dreier unterschiedlicher Positionen hörbar:
•Die der Aktivisten der Retrobewegung oder der Ewiggestrigen: »Lasst uns zur Ordnung der Vergangenheit zurückkehren.« Einige der Rückschrittbewegungen haben eine fundamentalistische Neigung, aber nicht alle. Diese Position geht häufig mit dem Wiederbeleben alter Religionsformen oder glaubensbasierter Spiritualität einher.
•Die der Verteidiger des Status quo: »Macht weiter so.« Der Schwerpunkt liegt auf »mehr desselben«, indem man sich durchwurschtelt: alter Wein in neuen Schläuchen. Diese Position hat ihre Wurzeln im Hauptstrom des zeitgenössischen wissenschaftlichen Materialismus.
•Die der Protagonisten einer transformativen Veränderung: »Wie können wir aus den Mustern der Vergangenheit aussteigen, uns auf unsere höchste zukünftige Möglichkeit einstimmen – und anfangen, von diesem Ort aus zu handeln?«
Ich persönlich bin davon überzeugt, dass unsere aktuelle globale Situation nach einer Veränderung der dritten Position verlangt, die in vielerlei Hinsicht bereits unterwegs ist. Wir alle sind gefordert, uns von dem abgetragenen Körper institutionalisierten kollektiven Verhaltens zu lösen, um das Anwesendwerden unserer höchsten Zukunftsmöglichkeit zu erschließen.
Das Anliegen dieses Buches sowie der Forschung und der Projekte, die zu ihm geführt haben, ist es, eine soziale Technik für transformationale Veränderung zu erarbeiten, die es denen, die Veränderung vorantreiben, und den Führungskräften in allen Bereichen der Gesellschaft, einschließlich unseres persönlichen Lebens, erlaubt, tiefere Felder der gemeinsamen Wahrnehmung, der gemeinsamen Willensbildung, der gemeinsamen Gegenwärtigung und des gemeinsamen Experimentierens zu erschließen. Damit diese Art der Führungsarbeit geleistet werden kann, darf der Blick nicht nur nach außen, sondern muss auch nach innen gelenkt werden.
Übrigens, wenn ich den Begriff Führung verwende, meine ich damit alle Menschen, die sich für die Schaffung von Veränderung oder die Gestaltung der Zukunft einsetzen, unabhängig von ihrer formalen Position in institutionellen Strukturen. Dieses Buch habe ich geschrieben für Veränderungsaktivisten und Führungskräfte in Unternehmen, Regierungen, gemeinnützigen Organisationen und Gemeinden. Ich war und bin oft tief beeindruckt, wenn ich beobachte, wie Innovatoren und hervorragende Praktiker auf der Basis eines tiefer liegenden Prozesses tätig werden, eines Prozesses, den ich den U-Prozess nenne. Dieser Prozess zieht uns in eine entstehende Möglichkeit hinein – zieht uns gewissermaßen in die entstehende Zukunft – und erlaubt uns, von diesem anderen Zustand aus zu handeln, anstatt lediglich zu reflektieren und uns auf vergangene Erfahrungen zu beziehen. Aber um auf diese entstehenden Möglichkeiten zugreifen zu können, müssen wir uns zunächst eines blinden Flecks in der Führung und im Alltag bewusst werden.
Der blinde Fleck
Um die Herausforderungen, vor denen wir stehen, in Angriff zu nehmen, brauchen wir eine soziale Technik, die es uns als Individuen, Gruppen, Organisationen und auch als Gesellschaft ermöglicht, von unserem höchsten Zukunftspotenzial her zu handeln. Bei der Zusammenarbeit mit Führenden und Gruppen in allen Bereichen der Gesellschaft ist meinen Kollegen und mir im Laufe der letzten 20 Jahre klar geworden, dass es einen blinden Fleck gibt. Doch wenn wir uns dieses blinden Flecks bewusst werden, erlaubt uns dieses Bewusstsein, ein solches Potenzial zu erschließen. Der blinde Fleck ist der Quellort unserer Aufmerksamkeit und unserer Intention. Es ist der Ort, von dem aus wir handeln, wenn wir handeln. Dass dieser Fleck blind ist, liegt daran, dass er eine unsichtbare Dimension unseres gewohnheitsmäßigen sozialen Feldes, unserer alltäglichen Erfahrung in sozialen Interaktionen ist. Diese unsichtbare Dimension des sozialen Feldes bezieht sich auf die Quellen oder Ursprünge, aus denen heraus ein bestimmtes soziales Feld hervorgeht und manifest wird.
Man kann dieses Phänomen damit vergleichen, welchen Zugang man als Betrachter zu der Arbeit eines Künstlers oder einer Künstlerin wählt. Es gibt zumindest drei mögliche Perspektiven:
•Wir können uns auf das Ding konzentrieren, das aus einem kreativen Prozess hervorgeht – sagen wir, ein Bild,
•wir können uns auf den Prozess des Malens konzentrieren, oder
•wir können die Künstlerin beobachten, während sie vor einer leeren Leinwand steht.
Mit anderen Worten: Wir können ihr Werk ansehen, nachdem es geschaffen worden ist (das Ding), während sie es schafft (den Prozess) oder bevor der schöpferische Prozess einsetzt (die leere Leinwand oder die Dimension der Quelle).
Setzen wir dies in Analogie zu sozialen Prozessen und Führung, so können wir auch die Arbeit von Führungskräften aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten (Abb. E.1):
•Erstens könnten wir dabei zusehen, was der Führende (meistens ist es immer noch ein »Er«) tut. Unzählige Bücher wurden aus dieser Perspektive geschrieben.
•Zweitens könnten wir beobachten, wie geführt wird, welchen Prozess Führende in Gang setzen. Das ist der Blickwinkel, den wir seit mehr als zwei Jahrzehnten in der Management- und Führungsforschung eingenommen haben. Wir haben alle Aspekte und funktionalen Bereiche im Zusammenhang mit Managern und Führungskräften aus der Sicht des Prozessparadigmas analysiert. Viele hilfreiche Erkenntnisse sind aus diesem Strom der Forschungsarbeit hervorgegangen.
•Niemals jedoch haben wir systematisch die Arbeit der Führenden von der dritten Möglichkeit her angesehen, der leeren Leinwand. Die Frage, die ungestellt blieb, lautet: Welches sind die inneren Quellen, von denen aus Führende wirksam werden, wenn sie wahrnehmen, kommunizieren und handeln?
Abb. E.1: Drei Perspektiven für die Arbeit von Führungskräften
Dieser blinde Fleck fiel mir zum ersten Mal auf, als ich mit dem früheren Geschäftsführer der Hanover Insurance Group, Bill O’Brien, sprach. Er erzählte mir, seine größte Erkenntnis nach vielen Jahren von Veränderungsmanagement und organisationsweitem unternehmerischem Wandel sei, dass »der Erfolg einer Intervention von der inneren Verfassung des Intervenierenden abhängt«.
Diese Beobachtung schlug bei mir ein wie der Blitz. Bill half mir zu verstehen, dass das, was zählt, nicht nur das ist, was Führende tun