Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx. Alfred Schmidt

Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx - Alfred Schmidt


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sie Gestalt annimmt in Staat, Recht, Gesellschaft und Ökonomie, ist ihm »zweite Natur«79, manifestierte Vernunft, objektiver Geist. Dem hält die Marxsche Analyse entgegen, daß die zweite Natur bei Hegel eher zu beschreiben wäre mit den Begriffen, die er selbst auf die erste anwendet, nämlich als Bereich der Begrifflosigkeit, in dem blinde Notwendigkeit und blinder Zufall koinzidieren. Hegels zweite Natur ist selber noch erste. Noch immer sind die Menschen aus der Naturgeschichte nicht herausgetreten80. Diese Tatsache erklärt die vielen Marx­kritikern als unangemessen erscheinende quasi-naturwissenschaftliche Methode der Marxschen Soziologie, die schon wegen der »naturhaften« Beschaffenheit ihres Gegenstandes keine Geisteswissenschaft sein kann. Wenn Marx die Geschichte der bisherigen Gesellschaft als einen »naturhistorischen Prozeß«81 behandelt, so hat das zunächst den kritischen Sinn, daß »die Gesetze der Ökonomie in aller ... plan- und zusammenhanglosen Produktion den Menschen als objektive Gesetze, über die sie keine Macht haben, entgegentreten, also in Form von Naturgesetzen«82. Marx hat die aus der perennierenden »Vorgeschichte« gewonnene Erfahrung im Sinn, daß trotz aller technischen Triumphe im Grund noch immer die Natur und nicht der Mensch triumphiert. Als gesellschaftlich unbeherrschte ist die »ganze ausgetüftelte Maschinerie moderner Industriegesellschaft bloß Natur, die sich zerfleischt«83.

      Uber eine solche kritische Akzentuierung hinaus gebraucht Marx jedoch den Begriff der Naturgeschichte in dem weiteren, sich auf die gesamte Wirklichkeit erstreckenden Sinne der evolutionistischen Theorien des neunzehnten Jahrhunderts. Wenn er dem »abstrakt naturwissenschaftlichen Materialismus« vorwirft, daß er den »geschichtlichen Prozeß«84 ausschließt, so hat er nicht nur den der Gesellschaft, sondern ebensosehr den der Natur im Auge85.

      Wie bei den meisten mechanischen Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts, so gibt es auch in der Philosophie Hegels, die in der Natur das materielle Auseinander gleichgültiger Existenzen sieht, keine Naturgeschichte im strengen Sinne: »Solcher nebulöser im Grunde sinnlicher Vorstellungen, wie insbesondere das sogenannte Hervorgehen z. B. der Pflanzen und Thiere aus dem Wasser und dann das Hervorgehen der entwickelteren Thierorganisationen aus den niedrigeren u.s.w. ist, muß sich die denkende Betrachtung entschlagen.«86

      Für Marx dagegen ist das gesetzmäßige Hervorgehen der Naturformen auseinander eine Selbstverständlichkeit. Sein Entwicklungsbegriff ist nicht nur an Hegel, sondern auch an Darwin geschult. Darauf weist Engels in seiner Rezension des ersten Bandes des »Kapitals« hin, wo er zur Marxschen Methode sagt: »Soweit er sich bemüht, nachzuweisen, daß die jetzige Gesellschaft, ökonomisch betrachtet, mit einer andern, höheren Gesellschaftsform schwanger gehe, insoweit bestrebt er sich, nur denselben allmählichen Umwälzungsprozeß auf dem sozialen Gebiet als Gesetz hinzustellen, den Darwin naturgeschichtlich nachgewiesen hat.«87

      Daß Marx die »Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß«88 auffaßt, bedeutet, daß er die geschichtlichen Abläufe in ihrer strengen Notwendigkeit betrachtet, ohne sich auf aprioristische Konstruktionen oder psychologische Erklärungsprinzipien einzulassen. Die Verhaltensweisen der Individuen versteht er als Funktionen des objektiven Prozesses. In der seitherigen Geschichte sind sie weniger als freie Subjekte denn als »Personifikation ökonomischer Kategorien«89 aufgetreten.

      In seiner für das Verständnis des historischen Materialismus wesentlichen Schrift »Was sind die ›Volksfreunde‹ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?« aus dem Jahre 1894 geht Lenin besonders auf den »naturhistorischen« Charakter der Marxschen Forschungsmethode und ihre Beziehung zum Darwinschen Evolutionismus ein: »Wie Darwin der Vorstellung ein Ende bereitet hat, als seien Tier- und Pflanzenarten durch nichts miteinander verbunden, zufällig entstanden, ›von Gott erschaffen‹, unveränderlich, wie er als erster die Biologie auf eine völlig wissenschaftliche Grundlage gestellt hat, indem er die Veränderlichkeit der Arten und die Kontinuität zwischen ihnen feststellte – so hat Marx seinerseits der Vorstellung ein Ende bereitet, als sei die Gesellschaft ein mechanisches Aggregat von Individuen, an dem gemäß dem Willen der Obrigkeit (oder, was dasselbe ist, der Gesellschaft und der Regierung) beliebige Veränderungen vorgenommen werden können, das zufällig entsteht und sich wandelt, hat er als erster die Soziologie auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt, indem er den Begriff der ökonomischen Gesellschaftsformation als Gesamtheit der jeweiligen Produktionsverhältnisse festlegte und feststellte, daß die Entwicklung solcher Formationen ein naturgeschichtlicher Prozeß ist.«90

      An die Stelle aller Räsonnements über die Gesellschaft und den Fortschritt im allgemeinen tritt bei Marx die konkrete Analyse einer Gesellschaft, nämlich der bürgerlich-kapitalistischen. Der Marxsche Materialismus ist so wenig wie Darwins Theorie eine inhaltliche Totalerklärung, sondern der Versuch, den geschichtlichen Prozeß sachgerecht, ohne metaphysische Dogmen, zu begreifen: »Genau so, wie ... der Transformismus keineswegs den Anspruch erhebt, die ›gesamte‹ Geschichte der Entstehung der Arten zu erklären, sondern nur den, die Methoden dieser Erklärung auf die Höhe der Wissenschaft zu bringen, hat auch der Materialismus in der Geschichte nie den Anspruch erhoben, alles erklären zu wollen, sondern nur den, die nach einem Ausdruck von Marx (›Das Kapital‹) ›einzig wissenschaftliche‹ Methode der Erklärung der Geschichte herauszuarbeiten.«91

      Marx selbst ist sich übrigens der Beziehung seiner Theorie zu Darwin, bei aller Anerkennung der Spezifität sozialer Gesetze, bewußt: »Darwin hat das Interesse auf die Geschichte der natürlichen Technologie gelenkt, d.h. auf die Bildung der Pflanzen- und Tierorgane als Produktionsinstrumente für das Leben der Pflanzen und Tiere. Verdient die Bildungsgeschichte der produktiven Organe des Gesellschaftsmenschen, der materiellen Basis jeder besondren Gesellschaftsorganisation, nicht gleiche Aufmerksamkeit? Und wäre sie nicht leichter zu liefern, da, wie Vico sagt, die Menschengeschichte sich dadurch von der Naturgeschichte unterscheidet, daß wir die eine gemacht und die andre nicht gemacht haben?«92

      Ganz ähnlich unterscheidet Engels in der »Dialektik der Natur« die Natur- von der Menschengeschichte: »Jetzt auch die ganze Natur in Geschichte aufgelöst, und die Geschichte nur als Entwicklungsprozeß selbstbewußter Organismen von der Geschichte der Natur verschieden.«93

      Natur- und Menschengeschichte bilden für Marx eine Einheit in der Verschiedenheit. Dabei löst er weder die Menschengeschichte in pure Naturgeschichte auf noch die Naturgeschichte in Menschengeschichte.

      Auf der einen Seite ist zwar die Geschichte der Gesellschaft ein »wirklicher Teil der Naturgeschichte«94, setzen sich in ihr die für die vormenschliche Geschichte charakteristischen Sachverhalte fort, so daß Marx die Produktionsinstrumente, durch deren Herstellung und Anwendung die Menschen sich wesentlich von den Tieren unterscheiden, als »verlängerte Leibesorgane«95 bezeichnen kann. Wie die Tiere, so müssen auch die Menschen sich ihrer Umgebung anpassen. Dazu bemerkt die »Dialektik der Aufklärung«: »Das Gehirnorgan, die menschliche Intelligenz, ist handfest genug, um eine reguläre Epoche der Erdgeschichte zu bilden. Die Menschengattung einschließlich ihrer Maschinen, Chemikalien, Organisationskräfte – und warum sollte man diese nicht zu ihr zählen wie die Zähne zum Bären, da sie doch dem gleichen Zweck dienen und nur besser funktionieren – ist in dieser Epoche le dernier cri der Anpassung.«96

      Demgegenüber ist auf der anderen Seite die spezifische Differenz zwischen geschichtlichen Abläufen in der Natur und in der Gesellschaft nicht zu vernachlässigen. Sie läßt es nicht zu, daß, wie bei den verschiedensten Spielarten des Sozialdarwinismus, Naturgesetze einfach auf gesellschaftliche Verhältnisse übertragen werden. In einem Brief an Kugelmann kritisiert Marx scharf den Versuch F. A. Langes, sich über den Reichtum der menschlichen Geschichte auf abstrakt-naturwissenschaftliche Art hinwegzusetzen: »Herr Lange hat ... eine große Entdeckung gemacht. Die ganze Geschichte ist nur unter ein einziges großes Naturgesetz zu subsumieren. Dies Naturgesetz ist die Phrase (der Darwinsche Ausdruck wird in dieser Anwendung bloße Phrase) ›struggle for life‹, ›Kampf ums Daseins‹, und der Inhalt dieser Phrase ist das Malthussche Bevölkerungsoder rather Übervölkerungsgesetz. Statt also den ›struggle for life‹, wie er sich geschichtlich in verschiedenen bestimmten Gesellschaftsformen darstellt, zu analysieren, hat man nichts zu tun, als jeden konkreten Kampf in die Phrase ›struggle for life‹ und diese Phrase in die Malthussche ›Bevölkerungsphantasie‹ umzusetzen.«97

      Von Naturgeschichte läßt sich im Grunde nur


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