Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg
Mathilde und Lydia Harlan die arme kleine Lucie in Hechingen quälten.
Zehn Minuten will ich noch warten, beschloss er, verlängerte aber dann die Frist um weitere fünf Minuten. Schließlich ging er langsam zu seinem Wagen und stieg ein. Aber er brachte es nicht über sich, den Wagen zu starten und wegzufahren. Irgendein Instinkt hielt ihn zurück. Er beugte sich vor, um das Haus, in dem Lydia wohnte, gut im Auge zu behalten.
Seine Stellung war ziemlich verkrampft, und allmählich begann sein Rücken zu schmerzen. Aber Wendelin fühlte das kaum. Alle seine Gedanken waren auf Lucie gerichtet.
Es war inzwischen finster geworden. Die Straße wurde zwar elektrisch beleuchtet, aber die elegant geformten, laternenähnlichen Beleuchtungskörper standen in ziemlich großen Abständen voneinander. Es war eine sehr ruhige Gegend. In der letzten Viertelstunde war kein einziges Auto vorbeigekommen. Vor ein paar Minuten hatte ein älterer Herr einen Hund an der Leine spazierengeführt, aber seitdem war niemand mehr in Wendelins Gesichtskreis aufgetaucht.
Plötzlich richtete sich Wendelin auf und schlüpfte leise aus dem Wagen. Drüben war ein Auto vorgefahren. Es hielt genau vor Lydias Haus.
Wendelin konnte die Farbe des Wagens nicht erkennen. Dazu war es schon zu dunkel. Aber er sah, dass eine Frau ausstieg, die der Größe und Gestalt nach recht gut Lydia sein konnte. Sie öffnete die hintere Wagentür und zog etwas aus dem Wagen, was einem unförmigen Bündel glich. Sie brauchte dazu beide Hände. Der ominöse Gegenstand fesselte ihre Aufmerksamkeit zu sehr, dass sie nicht auf ihre Umgebung achtete.
Wendelin war leise und schnell über die Fahrbahn gelaufen und stand nun hinter ihr, als sie sich aufrichtete und die Wagentür abschloss.
»Dann hat sich das lange Warten also doch gelohnt«, sagte Wendelin.
Beim Klang dieser Stimme fuhr die Frau herum. Es war Lydia. Ihr sonnengebräuntes Gesicht hatte eine fahle Färbung angenommen, doch Wendelin beachtete das nicht. Sein Blick konzentrierte sich auf Lucie, die leblos in Lydias Armen hing. Ihre Augen waren geschlossen. Arme und Beine baumelten herab, wie bei einer Puppe.
»Du hast sie umgebracht«, stöhnte Wendelin. »Aber du irrst dich, wenn du glaubst, ungestraft davonkommen zu können. Ich werde Lucie rächen. Ich werde …«
»Du wirst dramatisch. Mach nicht so ein Theater«, sagte Lydia. Ihre Stimme zitterte, aber sie versuchte trotzdem, ihr einen höhnischen Klang zu geben.
»Du bist eine Mörderin«, zischte Wendelin.
»Nein«, schrie Lydia. »Das bin ich nicht. Beinahe wünsche ich mir, dass ich es wäre. Wozu muss dieser blöde Balg leben? Niemand braucht ihn …«
»Lydia!«
Sie lachte schrill auf. »Verschwinde von hier, oder ich rufe um Hilfe.«
»Ja, tu das. Nichts könnte mir willkommener sein«, erwiderte Wendelin.
Lydia wandte sich um und versuchte die Flucht zu ergreifen. Doch Wendelin packte sie am Arm, sodass sie aufschrie.
Der Mann mit dem Hund war inzwischen zurückgekommen und stehen geblieben, um diese verdächtige Szene zu verfolgen. Bei Lydias Aufschrei kam er näher, in dem Bestreben, ihr zu Hilfe zu kommen.
»Wenn Sie diese Frau hier belästigen, werde ich die Polizei verständigen«, sagte er drohend zu Wendelin.
»Ich habe nicht die Gewohnheit, Frauen zu belästigen«, sagte Wendelin beherrscht. »Und Lydia wäre der letzte … Mein Gott, wäre ich ihr doch nie begegnet.«
»Dann gehen Sie und lassen Sie sie in Frieden«, befahl der Mann.
»Nein!«, rief Wendelin wild.
»Ich muss wohl die Polizei rufen«, wiederholte der Fremde seine Drohung.
»Ja, rufen Sie die Polizei«, sagte Wendelin. »Am besten gleich die Mordkommission …«
»Nein, Wendelin, du bist verrückt. Ich habe Lucie doch nicht ermordet.«
»Aber du hast sie so lange misshandelt, bis …«
»Ich habe sie nicht misshandelt, nur ein wenig mit Äther betäubt. Das kann man doch wirklich nicht als Misshandlung bezeichnen.«
»Mit Äther betäubt?« Der Mann mit dem Hund riss die Augen auf, während sein vierbeiniger Schäferhund knurrte.
»Was hätte ich denn machen sollen?«, sagte Lydia mürrisch zu Wendelin. »Sie hat immerzu geschrien und wollte nicht sitzen bleiben. Da habe ich eben ein Taschentuch mit ein paar Spritzern Äther auf die Nase gepresst.«
»Das Taschentuch hast du vorsorglich bereitgehalten«, meinte Wendelin zu Lydia und dann auf Lucie.
»Das Kind …, es bewegt sich aber nicht …, es …«, stotterte er.
»Sie haben doch gerade gehört, dass dieses …, dieses gewissenlose Weib es mit Äther betäubt hat«, fuhr Wendelin ihn an. »Gehen Sie endlich und rufen Sie die Polizei, damit Lydia festgenommen wird.«
»Nein!«, rief Lydia. »Ich lasse mich nicht festnehmen. Ich habe nichts getan. Man kann mir nichts nachweisen.«
»Du hast Lucie entführt. Die Huber-Mutter hat dich erkannt und wird es bezeugen.«
Der Mann mit dem Hund stand noch immer da und starrte wie benommen auf die Streitenden. Er wusste nicht, was er von der Sache halten sollte.
»Ich kenne keine Huber-Mutter«, sagte Lydia kalt. »Und was deinen Balg betrifft – hier hast du ihn und werde glücklich damit. Aber wenn du meinst, dass du damit ein Anrecht auf Vaters Vermögen erworben hast – dagegen werde ich mich mit Händen und Füßen wehren.«
Sie legte die Bewusstlose in Wendelins Arme, der das Kind ängstlich an sich drückte und nach seinem Atem horchte. Ja, Gott sei Dank, Lucie lebte. Ihre Augenlider zuckten, sie seufzte leise, ohne jedoch zu Bewusstsein zu kommen.
»Na, bist du jetzt beruhigt, und zufrieden, weil dein kostbarer Liebling noch am Leben ist?«, fragte Lydia spöttisch und wollte sich entfernen.
»Halt! Du bleibst hier!«, rief Wendelin und wandte sich dann an den unbeholfen dastehenden Zuschauer. »So rennen Sie doch endlich zum nächsten Telefon und rufen Sie die Polizei. Sie müssen sich doch mittlerweile davon überzeugt haben, dass ich die Dame nicht belästigen wollte, sondern ihr nur das Kind abnehmen wollte, das sie entführt hat.«
»Die Polizei wird zu spät kommen«, sagte Lydia verächtlich. »Ich gehe jetzt in meine Wohnung. Niemand kann mich zurückhalten.«
Doch sie hatte nicht mit dem Hund gerechnet. Auf ein Kommando seines Herrchens, das endlich aus seiner Betäubung erwachte und begriff, dass es sich um eine ernste Angelegenheit handelte, knurrte er Lydia an und nahm einen Zipfel ihres Rockes zwischen seine scharfen Zähne.
Lydia war nie eine Tierfreundin gewesen und hatte sich nie um Hunde gekümmert. Um so größer war jetzt die Furcht vor dem großen schwarzen Schäferhund, dessen Besitzer endlich die nächstgelegene Telefonzelle aufsuchte.
Lydia stand da und wagte es nicht, sich zu bewegen. Sie sah voll Abscheu auf den Hund und überlegte, wie sie sich dem bevorstehenden Polizeiverhör entziehen könnte. Ihr fiel jedoch nichts ein. Für gewöhnlich war sie um einen Ausweg nicht verlegen, doch ihre momentane Lage verhinderte jeden klaren Gedanken.
Allmählich dämmerte es Lydia, dass sie das Spiel verloren hatte. All ihre Ränke waren vergeblich gewesen. Die Wahrheit würde nun ans Tageslicht gezerrt werden. Mit Lucies Entführung hatte sie nur einen Beweis ihrer Schuld geliefert. Der einzige Ausweg, den sie sah, war der, sich auf striktes Leugnen zu verlegen. Flüchtig streiften ihre Überlegungen Mathilde Harlan. Der Gedanke an ihre Mutter bewirkte, dass sie angewidert das Gesicht verzog. Sie wusste, ihre Mutter würde den Polizeiverhören nicht gewachsen sein, sondern zusammenbrechen und ihre und Lydias Schuld gestehen. Wenn sie noch in ihre Wohnung gelangt wäre, hätte sie Mathilde Harlan warnen können. Aber der abscheuliche Hund, der unverdrossen ihren Rocksaum festhielt, vereitelte jeglichen Fluchtversuch. Sie war gefangen. Man würde sie verurteilen