Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg
dass er mit seinem Kummer allein blieb. Er konnte weder seinen Vater noch seine Mutter zu Hilfe rufen, denn gerade sie war es, die ihn in diese schreckliche Angst gestürzt hatte.
Jochen war wach geworden, als Klaus Magnus abgefahren war, und hatte beschlossen, noch ein wenig zu den Eltern ins Wohnzimmer zu gehen. So war er Zeuge der schicksalhaften Aussprache zwischen seinen Eltern geworden. Hatte er auch nicht alles begreifen können, so war ihm doch klar geworden, dass etwas Schreckliches geschehen sollte.
In seiner Schulklasse war ein Mädchen, Anja, dessen Eltern geschieden waren. Deshalb wusste Jochen sehr genau, was eine Scheidung bedeutete. Bei Anja war es so, dass die Eltern sich wegen des Kindes nicht einigen konnten. So wurde das kleine Mädchen ständig zwischen Vater und Mutter hin und her gezerrt. Sie kam in der Schule nicht richtig mit und war ein nervöses, kontaktarmes Kind geworden. Bei jeder Gelegenheit fing sie bitterlich zu weinen an.
»Geschiedene Eltern zanken sich immer«, hatte Anja einmal gesagt. »Um das Silberbesteck von der Patentante, ums Geld und meistens um mich. Am liebsten möchte ich weglaufen und nie mehr wiederkommen.«
Scheidung – das war für Jochen also ein Schreckgespenst. Niemals hätte er sich träumen lassen, dass seine eigenen Eltern an etwas so Schlimmes denken könnten. Doch er hatte es selbst gehört. Zwar waren sie nett miteinander gewesen, aber das Zanken und Streiten kam wohl erst später, wenn sie nicht mehr zusammen wohnten.
In seiner Angst bekam Jochen unendliche Sehnsucht nach Klaus. Mit ihm hätte er wenigstens über die Sache reden können. Aber Klaus war in Sophienlust und gehörte nicht mehr richtig zur Familie, weil er einen neuen Vater bekommen hatte.
Als der Mond so hoch stand, dass es im Kinderzimmer hell wurde, war Jochens Entschluss gefasst. Er würde dasselbe tun wie Klaus. Sie würden sicherlich auch ihm sagen können, was er tun sollte.
Jochen suchte seine Sachen zusammen, zog sich an und öffnete vorsichtig die Tür seines Zimmers. Im Haus war es still. Treppe und Diele wurden vom Mondlicht matt erhellt. Einmal knackte eine Stufe. Erschrocken blieb der Bub stehen und hielt den Atem an. Doch es rührte sich nichts.
In der Küche musste Jochen sich einen Stuhl holen, um den Türschlüssel am Haken zu erlangen. Endlich war es so weit. Er ließ den Schlüssel von innen stecken und zog die Tür behutsam hinter sich ins Schloss. Dann rannte er davon, so schnell er nur konnte.
*
Severin bellte leise, als die kleine Gestalt am Gartentor auftauchte. Munko blaffte ebenfalls. Er war früher bei der Polizei im Dienst gewesen und fühlte sich für die Sicherheit des Grundstücks verantwortlich.
Andrea erwachte und hob den Kopf. »Du, Hans-Joachim!«
Es war nicht gerade einfach, ihren Mann wach zu bekommen. Endlich begriff er, dass er nachsehen musste, was es draußen gab. Auch Andrea stand auf und schaute vorsichtshalber nach ihrem kleinen Sohn. Doch Peterle schlief ganz fest.
Jetzt kam Hans-Joachim zurück. An der Hand führte er einen verweinten blassen Jungen, den Andrea nicht sogleich erkannte.
»Er stand draußen vor dem Tor«, berichtete der Tierarzt. »Er will zu dir.«
»Kennst du mich denn?«, fragte Andrea liebevoll und legte die Hände auf Jochens Schultern.
»Ja, sie sind Frau von Lehn. Ich war doch einmal mit Klaus hier.«
»Ach so, du bist Jochen Werner. Aber warum kommst du mitten in der Nacht zu mir?«
Jochen rannen schon wieder dicke Tränen über die Bäckchen. Er war müde und unglücklich. Schluchzend und verzweifelt beantwortete er Andreas behutsame Fragen. Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie begriff, was ihn bedrückte.
»Wer weiß, ob du das richtig verstanden hast. Vielleicht wollen sie sich gar nicht scheiden lassen«, tröstete sie ihn. »Jetzt musst du erst einmal schlafen.«
»Kann ich zu Klaus nach Sophienlust?«, bettelte Jochen.
»Das weiß ich nicht, Jochen. Wir überlegen es morgen früh, wenn die Sonne scheint.«
Andrea ging mit Jochen ins Gastzimmer und brachte ihn zu Bett. Der Junge war so erschöpft, dass er sofort einschlief. Dann legte sie sich wieder hin.
Hans-Joachim sah sie vorwurfsvoll an. »Du hast uns etwas eingebrockt. Es scheint Mode zu werden, dass die Kinder aus dem Hause Werner sich nachts zu dir auf den Weg machen«, meinte er. »Haben sie noch mehr von der Sorte?«
Andrea seufzte.
»Es ist ziemlich traurig mit dieser Familie. Ich weiß nicht, was man da machen kann.«
Es wollte ihr auch bis zum Morgen keine Lösung einfallen. In ein fremdes Eheproblem konnte sie sich nicht einmischen. Auch war sie nicht sicher, ob Jochen Werner das Gespräch richtig verstanden hatte.
Früher als gewohnt erhob sich Andrea und bat Marianne, für das Peterle zu sorgen. Dann weckte sie Jochen und gab ihm eine Tasse Kakao.
»Ich muss dich nach Hause bringen, Jochen«, sagte sie leise. »Deine Eltern sorgen sich sonst um dich. Du weißt, dass sie dich lieb haben. Sicherlich irrst du dich. Warum sollten sie sich denn plötzlich scheiden lassen? Hast du das vielleicht nur geträumt?«
Jochen trank seinen Kakao. »Geträumt? Nein, ich habe es richtig gehört. Trotzdem kann ich es nicht glauben.«
»Siehst du! Wir fahren jetzt gleich hin. Hoffentlich haben sie noch nicht bemerkt, dass du fortgelaufen bist.«
»Wenn sie noch schlafen, klettere ich durchs Küchenfenster«, erklärte der Junge, der sein nächtliches Unternehmen bereits bereute.
Andrea sah auf die Uhr, die erst halb sieben anzeigte. Sie holte ihr Auto aus der Garage und brachte Jochen zu seinem Elternhaus.
Vorsichtig spähte Jochen durchs Küchenfenster. »Mutti ist noch nicht unten. Sie steht immer erst kurz nach sieben auf«, flüsterte er.
Andrea half ihm, durchs Fenster zu steigen. Dann wartete sie noch ein paar Minuten, wobei ihr das Herz so laut schlug, als habe sie etwas Unrechtes getan. Da drinnen alles still blieb, kam sie zu der Überzeugung, dass Jochens Abwesenheit unbemerkt geblieben war. Vielleicht war es so am besten.
Dass der kleine Jochen sogar schlau genug war, den Türschlüssel umzudrehen und wieder an seinen Platz zu hängen, wusste sie nicht. Der Bub brachte es eben noch fertig, sich auszuziehen und unter die Decke zu schlüpfen, als auch schon im Schlafzimmer seiner Eltern der Wecker ertönte.
*
Klaus Magnus hatte Denises Einladung nach Sophienlust mit einigem Zögern angenommen. Er befürchtete neue Schwierigkeiten.
Nun saß er bei Tee und Gebäck im Biedermeierzimmer und hörte der schönen Herrin von Sophienlust aufmerksam zu. Sie berichtete von Klaus und flocht ein, dass es allerlei Anzeichen dafür gebe, dass sich der Junge mit seinem neuen Vater und mit der Aussicht, in ein fremdes Land zu reisen, intensiv beschäftigte.
»Sie haben keinen einzigen Versuch unternommen, seine Abwehr und sein Misstrauen abzubauen, Herr Magnus«, schloss Denise. »Möglicherweise wartet Klaus nur darauf, dass Sie ihm entgegenkommen.«
Klaus Magnus verteidigte sein Verhalten. »Frau Werner hat mir immer wieder erklärt, dass Klaus besonders schwierig sei, Frau von Schoenecker. Auch Frau Dr. Frey bat mich, nichts erzwingen zu wollen.«
Denise lächelte. »Klaus ist nicht schwierig. Ihm hat die Liebe einer Mutter gefehlt.«
»Lilo Werner ist die Schwester seiner Mutter. Sie gleicht ihr sogar. Warum sollte sie Klaus nicht ebenso viel Liebe gegeben haben wie ihrem eigenen Jungen?«
Denise sah ihn traurig an. »Frau Werner erinnert Sie stark an ihre verstorbene Schwester?«
»Ja. Es ist, als hätte ich sie wiedergefunden«, erwiderte Klaus Magnus versonnen.
Denise las in seinem Gesicht wie in einem offenen Buch. »Sie möchten sie nicht wieder verlieren? Sie haben plötzlich den Wunsch, diese Frau für sich zu gewinnen?«
Betroffen