... und eine Prise Wahnsinn. Alexander Herrmann
gemacht.
Nach einigen Monaten intensiver Nachhilfe hatte es Herr Opel hinbekommen, dass ich nach der vierten Klasse auf die Realschule wechseln konnte. Die Jahre dort verliefen eigentlich total unspektakulär. Ich war kein besonders guter Schüler, aber ich geriet dank der weiterhin sehr geduldigen Begleitung durch den guten Gerhard Opel nie mehr in akute Abstiegsgefahr. Parallel auf dem Weg zur Mittleren Reife half ich derweil immer öfter bei Jürgen Beyer und seiner Mannschaft mit. Ich war eine willkommene Verstärkung, da ich zum einen nichts kostete und zum anderen alles, wirklich alles machte, was mir aufgetragen wurde. Ich schälte Kartoffeln, bis ich beinahe unter einem Berg von Schalen begraben war. Ich hackte Zwiebeln, bis ich nicht mal mehr auf einen halben Meter Entfernung sehen konnte. Und ich rührte, stampfte, klopfte oder knetete, bis mir die Arme wehtaten.
Danach lernte ich die ersten filigraneren Handgriffe: Tomaten häuten, Julienne schneiden, Fleisch parieren und solche Dinge. Später ließen mich die Köche an den verschiedenen Posten schon mal mit abschmecken, und ich durfte mich mit dem Segen von Jürgen an kleineren eigenen Kochexperimenten versuchen. Die gingen zwar nicht gleich heraus an die Tische, aber anscheinend bemerkten die Erwachsenen um mich herum, dass ich mich zumindest nicht ganz dämlich anstellte. Nach ein, zwei Jahren, in denen ich alle Stationen unserer Küche ausprobiert und gewissermaßen eine Grundausbildung im Schnelldurchlauf absolviert hatte, durfte ich das erste Mal mit anrichten – und zwar die „echten“ Speisen, die dann auch tatsächlich draußen serviert wurden.
Genau dafür besaß ich offenbar ein Naturtalent. Es machte mir einen riesigen Spaß, die Gerichte so zu drapieren, dass sie nach etwas Besonderem aussahen. Das konnte ein einfaches, blanchiertes Wirsingblatt sein, das am Rand eines kräftigen Fleischstücks als frischer, farblicher Akzent mit auf dem Teller lag. Ein duftender Rosmarinstängel, der passend zum saftigen Lammbraten senkrecht in einem kunstvollen Klecks Kartoffelpüree steckte. Oder ein geschmeidiger Soßenspiegel, der sich schwungvoll um das Hauptgericht herumzog, anstatt es komplett zu ertränken. Die Einzige, die meine – wie ich fand, künstlerisch recht anspruchsvollen – Arbeiten etwas kritischer betrachtete, war meine Oma. Sie war zwar selbst immer eine elegante Erscheinung. Aber sie befürchtete, unsere Gäste könnten sich durch das ungewohnte Aussehen der Speisen abgeschreckt fühlen – immerhin sahen die Forelle, der Schweinerücken oder das Rinderfilet in den vergangenen 30 Jahren ihren Worten zufolge immer recht ähnlich aus. Dass allerdings genau das Gegenteil der Fall war, enthielt sie mir sicherheitshalber vor. Sie lobte mich nur, wenn es gar nicht mehr anders ging, hatte erstaunlicherweise aber auf der anderen Seite eine große Angst davor, dass ich das Posthotel verlassen, meine autodidaktische Kampfausbildung zum Beruf machen und mich bei der Bundeswehr als Zeitsoldat verpflichten würde.
„Bub, du gehst doch nicht wirklich zum Barras und wirst Einzelkämpfer wie dieser Rambo?“, fragte sie mich immer wieder, und ich ließ sie zwei Jahre in dem Glauben.
Als ich gerade 16 geworden war, hatte ich eine halbwegs passable Mittlere Reife hingelegt und war mit der Schule fertig. Nur die Pubertät und die fehlende erzieherische Aufsicht eines Vaters und einer Mutter holten mich immer mal wieder ein. Onkel Werner und Tante Melitta kümmerten sich zwar weiterhin rührend um mich, allerdings erzogen sie mich, abgesehen von der enormen beruflichen Belastung, die sie hatten, angesichts der Umstände mit einer ganz anderen Strenge, als sie meine Eltern an den Tag hätten legen können. Ich genoss also viele Freiheiten. Und so fanden sich meine Kumpels und ich gelegentlich während der Nachmittagsruhe in unserer Hotelbar ein und würfelten so lange um Asbach-Cola, bis wir uns allesamt in einem nicht mehr besonders vorzeigbaren Zustand befanden und uns besser verkrümelten, bevor uns jemand vom Haus antraf oder die Gäste wiederkamen.
Auch mein Trinkgeld investierte ich zu dieser Zeit gerne in Feieraktivitäten, beispielsweise in die in Oberfranken sehr populäre „Gaaßmoss“, auf Hochdeutsch: „Ziegenmaßkrug“, in der in einem Literkrug dunkles Bier, Cola und wahlweise Kirschlikör oder Cognac auf schmackhafte und nachhaltige Weise zusammenfinden. Manchmal wusste ich nicht, wie ich es von der Kerwa oder der Sonnwendfeier nach Hause geschafft hatte, aber am nächsten Morgen stand ich, wie von Jürgen gefordert, trotz der einen oder anderen „Gaaßmoss“ zu viel immer meinen Mann und half aus, wo ich eben eingeplant war – und darauf kam es an.
„Alexander, du musst mal hier raus“, sagte mein Opa kurz nach dem Abschluss zu mir. „Ich hab da auch schon eine Idee.“
Inzwischen war ich mir wieder halbwegs sicher, dass sich meine berufliche Zukunft zwischen Herd und Pass befinden würde. Zu sehr hatte mir das imponiert, was ich in den vergangenen Jahren bei Jürgen Beyer und den anderen Kollegen sehen und ausprobieren konnte. Außerdem gehörte das Posthotel seit immerhin vier Generationen meiner Familie: Meine Ururgroßmutter hatte das alte Bauernhaus einst zu einer Wirtsstube umbauen lassen, und mein visionärer Urgroßvater machte daraus eine Herberge, nachdem er in London und Monte Carlo gesehen hatte, wie moderne Hotels Ende des 19. Jahrhunderts funktionierten. Dann kamen Opa und Oma, bauten den Betrieb weiter aus und veredelten die Gastronomie. Da durch den Unfall meiner Eltern allerdings eine komplette Generation ausgefallen war und sowohl meine Großeltern als auch mein Onkel und meine Tante das Haus nicht ewig weiterführen konnten, war klar, dass diese Tradition in nicht allzu ferner Zukunft aussterben würde. Es sei denn, ich würde mich eben doch gegen den Bund oder die Karriere als Veterinär und für eine Ausbildung zum Koch entscheiden. Wenn man es jedoch genau betrachtete, wäre ich ganz schön doof gewesen, etwas anderes zu machen. Denn ich hatte es hier schon verdammt gut.
Allerdings hielt mich mein Großvater für zu jung, um mich gleich ganz ins kalte Wasser zu schmeißen, sprich, um eine richtige Lehre in einem anderen gastronomischen Betrieb anzufangen. Das aber war notwendig, denn wer ein guter Koch werden wollte, der musste raus in die Welt, um neue Sicht- und Arbeitsweisen kennenzulernen. Opa hatte recht mit seiner Einschätzung, denn jeder im Posthotel fasste mich bewusst oder unbewusst mit Samthandschuhen an. Das freilich wäre anderswo sicher nicht der Fall gewesen, im Gegenteil: Man wusste ja, dass der Ton in der Küche oft laut und ruppig war – und das war ich nicht gewohnt. Deshalb beschloss er, mich für ein Jahr in die Hotelfachschule nach Neuötting zu schicken, wo ich zumindest noch ein bisschen schützende Umgebung um mich herum haben würde. Erst im Nachhinein begriff ich, welche enorme finanzielle Tragweite diese Entscheidung für unsere gesamte Familie hatte: Die Fachschule war weit über die Grenzen Bayerns hinaus anerkannt, weshalb die Ausbildung dort stattliche 25.000 DM kostete, die nicht mal eben in einer Geldschublade an der Rezeption herumlagen – und von denen keiner wusste, ob sie gut angelegtes Geld waren. Allerdings bekam ich davon nichts mit. Stattdessen freute ich mich, mal aus Franken rauszukommen und nach Oberbayern zu dürfen, wo die Kirchturmdächer wie Zwiebeln aussahen.
Die privat geführte Einrichtung mit dem klangvollen Namen „Bavaria“, die sich im sehr ländlichen Neuöttinger Ortsteil Alzgern befand, war ein eher schmuckloser grauer 70er-Jahre-Bau, an dessen Eingang ein bayerischer Messinglöwe darüber wachte, dass die knapp 250 Schüler nicht zu viel Unsinn trieben. Die Schule war aufgebaut wie ein richtiges Hotel, sodass wir alle Stationen eines professionellen Betriebs durchlaufen konnten, von der Zimmerreinigung über den Service bis zum Küchendienst. Die Einteilung wechselte wöchentlich, nach sieben Tagen Theorie folgten sieben Tage Praxis. Fachlich, das stand schon nach kurzer Zeit fest, kam ich hier jedoch nicht wirklich weiter: Das meiste, das uns dort in den Praxiswochen beigebracht werden sollte, kannte ich längst. Und die Theorie machte mir keinen Spaß, weil ich gehofft hatte, nach der Mittleren Reife die ganze Lernerei erst mal hinter mir lassen zu können. Aber zumindest war ich das erste Mal in meinem Leben länger weg aus dem beschaulichen Wirsberg, insofern konnte mir der Aufenthalt eigentlich nur guttun.
Knapp die Hälfte meiner Mitschüler kam erkennbar aus einem reichen Elternhaus, teilweise aus dem Ausland, und war wahrscheinlich nur hier, weil zu Hause jeder froh war, die kleinen Besserwisser mal für eine längere Zeit los zu sein. Mit der anderen Hälfte aber verstand ich mich gut, obwohl ich mit Abstand der Jüngste von allen war. Wir wurstelten uns gemeinsam durch die Wochen und halfen uns gegenseitig. Um richtige Freundschaften zu schließen, blieb leider keine Zeit, aber wir „Normalos“ hielten auf jeden Fall zusammen.
Höhepunkte für mich waren jene Einsätze, die außerhalb des Schulkomplexes anfielen. Der Direktor hatte gute Kontakte zu renommierten Betrieben, und so konnte es schon mal vorkommen,