Der Geruch von Heu. Giorgio Bassani
mit monoton-klagendem Geräusch weiter aus der Leitung lief, zog er sich rasch aus. Dann warf er den Koffer aufs Bett, entnahm ihm sein Rasierzeug und kehrte an das Waschbecken zurück, um sich den Bart einzuseifen.
Signor Buda schlief und träumte. Er träumte zu schlafen …
Er träumte, daß er drei, höchstens vier Stunden traumlos geschlafen habe. Und daß er schließlich (bam bam bam bam bam bam: sechsmal hatte langsam hintereinander die große Uhr auf dem Platz geschlagen) aufgewacht sei.
Als er die Augen öffnete, lag er noch immer ausgestreckt auf dem Rücken, in derselben Stellung, in der er sich schlafen gelegt hatte. Ein scharfer Geruch, zugleich herb und süßlich (unverwechselbar!), erfüllte das Zimmer. So war es also Zeit, sagte er sich, während er an dem über seinem Kopf hängenden birnenförmigen Griff zog, um Licht zu machen – Zeit aufzubrechen, zu verduften. Auch deswegen. Doch vor allem, in jedem Fall …
Er setzte sich aufrecht, schob die Decken zurück, warf die Beine aus dem Bett und schritt, ohne zu zögern, barfuß auf den Schrank zu.
Er öffnete ihn. Und beim Anblick der Leiche, seiner Leiche, war er nicht etwa verwundert, sondern nickte nur zustimmend mit dem Kopf. Gut. Ausgezeichnet. Ganz nackt, das weiße Zahnfleisch entblößt, verwandelt in diese Marionette – und er wußte ja, daß alles so sein mußte: so kauerte er dort, die längliche, von Bartstoppeln schwarze Wange auf die angezogenen Knie gestützt.
Nachdem er den Schrank mit ungewöhnlich langsamen Bewegungen wieder geschlossen hatte (nur um nicht den Faden seiner Gedanken abreißen zu lassen, nur deshalb, selbstverständlich), fand er sich draußen wieder, im Freien, und wußte selbst nicht mehr, wie er aus dem Hotel herausgekommen war. Die Luft war beißend kalt. Auf der großen, in die Stadt führenden Allee, über der gerade ein kaltes Licht aufging, war keine lebende Seele zu sehen, vom Kastell an bis hin zur alten Zollschranke. Die gleiche Leere auch da unten, als er um die Ecke bog. Am Ende der langen Straße, die er noch zu gehen hatte, tauchte das Bahnhofsgebäude auf: grau, klein, niedrig und doch in vollkommener Klarheit sichtbar.
Er schritt rasch aus, wobei er den Blick starr auf das Bahnhofsgebäude gerichtet hielt, das allmählich größer erschien. Und gerade in dem Augenblick, als er den Bahnhofsplatz erreichte, fielen ihm zwei Dinge ein: erstens, daß er im Hotel Tripolis den großen Vulkanfiberkoffer hatte stehenlassen mit allem, was er enthielt, der Einlage mit den Mustern und, obenauf, seinen persönlichen Dingen, und darunter den verbotenen Druckschriften; zweitens, daß er die Rechnung nicht bezahlt hatte. Er blieb stehen, weniger verlegen als unentschlossen. Aber als er im selben Augenblick das Schnauben einer unsichtbaren Lokomotive hörte, die auf den Gleisen rangierte, so nahe, daß er glaubte, sie sei nur noch ein paar Meter von ihm entfernt, und als er begriff, daß es, von allem anderen abgesehen, bereits zu spät war, um noch einmal umzukehren, da zögerte er nicht länger und ging weiter.
Um so mehr, als es ja nur ein Traum war, sagte er bei sich und lächelte; ein bitterer Trost. Daß er träumte, wußte er im Traum: ein Traum im Traum.
1
Der israelitische Friedhof von Ferrara, ganz von einer alten, etwa drei Meter hohen Mauer umgeben, ist eine weite grasbewachsene Fläche, ja, so weit, daß die Grabsteine, die in einzelnen, weit voneinander entfernten Gruppen stehen, im ganzen als sehr viel geringer an Zahl erscheinen, als sie es tatsächlich sind. Im Osten verläuft die Friedhofsmauer dicht neben den alten Bastionen der Stadt, die heute noch dicht bestanden sind von großen Bäumen: Linden, Ulmen, Kastanien, sogar Eichen, die in doppelter Reihe auf dem Erdwall stehen. Zumindest auf dieser Seite hat der Krieg die schönen alten Bäume verschont. Den roten Turm aus dem sechzehnten Jahrhundert, der noch vor ungefähr dreißig Jahren als Pulverturm diente, kann man, halb versteckt hinter den großen grünen Kuppeln, mehr ahnen als sehen.
In den Sommermonaten wuchs das Gras auf unserem Friedhof immer mit wilder Üppigkeit. Wie es heute geregelt ist, weiß ich nicht, aber wenigstens bis 1938 – bis zur Einführung der Rassengesetze, meine ich – pflegte die jüdische Gemeinde das Mähen des Grases einem landwirtschaftlichen Betrieb aus der Provinz zu übertragen, einer Firma aus Quartesana, Gambulaga, Ambrogio oder sonst einem Ort da unten. Im Halbkreis gingen die Schnitter langsam vorwärts, während sie im gleichen Rhythmus die Sicheln bewegten. Ab und zu brachen sie in gutturale Rufe aus; und wenn die Wachen am nahen Pulverturm die fernen Stimmen hörten, die sich im Dunst der Hundstage verloren (das Schilderhaus, vor dem sie, das Gewehr über der Schulter, standen, das Gesicht zum Friedhof gekehrt, leuchtete dort oben weiß vor einem jahrhundertealten schwarzen Stamm), mußten sie ihre Unfreiheit noch stärker empfinden, noch heftiger ihr Heimweh nach einem Leben ohne Zwang. Am Nachmittag um fünf hörten die Männer auf zu mähen. Bis obenhin mit Heu beladen verließen die Wagen mit ihrer schwankenden Last, von einem Ochsenpaar gezogen, nacheinander den Friedhof. Sie fuhren durch die Via delle Vigne, wo zu dieser Stunde die Menschen, die dort wohnten, fast alle vor ihren ärmlichen Häusern saßen, niedrigen, nur aus einem Stockwerk bestehenden Behausungen. Es waren Pensionisten in Hemdsärmeln darunter, mit der Pfeife oder der Toscana-Zigarre im Mund, doch in der Mehrzahl Frauen, alte, bebrillte Frauen, die ihre Wäsche flickten oder Gemüse putzten. Die Straße war eng, auch damals schon nicht breiter als ein Feldweg. Und wenn es der Zufall wollte, daß gerade hier aus der Gegenrichtung, von der Stadtmitte her, ein Leichenzug sich näherte – nun, dann war Geduld geboten. Der Leichenzug mußte zurückstehen und unten, an der verkehrsreichen Kreuzung des Corso di Porta Mare warten: fünf Minuten, zehn Minuten, ja manchmal eine Viertelstunde …
Sobald der Leichenwagen die Schwelle des großen Friedhofstors überquert hatte – wobei es einen sanften Ruck gab –, wirkte sich ein kräftiger Geruch von frischem Heu belebend auf den von der Hitze erschöpften Trauerzug aus. Was für eine Wohltat! Und dieser Frieden! Sofort trat eine allgemeine, fast fröhliche Bewegung ein. Einige der Teilnehmer zerstreuten sich bereits zwischen den Gräbern in der Nähe des Eingangs. Die meisten aber ließen den Leichenwagen, der inzwischen gehalten hatte und von dem die Totengräber jetzt die Kränze herunternahmen, hinter sich – den Wagen sowie die geschlossene Gruppe der nächsten Angehörigen und Anverwandten, die dort auf die Bahre warteten – und gingen einzeln, rüstig ausschreitend, auf die noch weit entfernte Begräbnisstätte zu.
Nur das beharrliche Drängen seines Vaters (›Der Krebs kennt kein Erbarmen!‹ hatte er unter anderem, mit dem üblichen warnenden und erpresserischen Ausdruck gesagt) hatte Bruno Lattes dazu vermocht, an dem Begräbnis seines Onkels Celio teilzunehmen. Er hatte sich gefügt – natürlich nur, um nicht mit seinem Vater zu streiten. Er war sogar – und er selbst war am meisten davon überrascht – eine ganze Weile sehr brav gewesen. Nicht nur während des ganzen Weges von der Via Voltapaletto bis zum Friedhof, sondern auch danach, inmitten der kleinen Menge von Verwandten und nächsten Vertrauten, die hoch über ihren Köpfen den Sarg von West nach Ost quer über den ganzen Friedhof getragen hatten, auch danach hatte er sich mehr als gut betragen, immer lieb und artig und ganz friedlich.
Aber in einem bestimmten Augenblick hatte er alle Bravheit abgeschüttelt. Als die Totengräber sich anschickten, den Sarg in das Grab hinabzulassen, und sein Blick zufällig dem verwirrten Blick seines Vaters begegnete, da fühlte er wieder den gewohnten dumpfen Zorn in sich aufsteigen.
Was hatte er denn mit ihnen gemein – so fragte er sich wieder einmal –, mit seinem Vater und dessen Verwandten und Anverwandten? Er, Bruno, war groß, hager, von dunklem Teint und dunkelhaarig, während sein Vater und hinter ihm die endlose Reihe der Camaioli, Bonfiglioli, Hanau, Josz, Ottolenghi, Minerbi, Bassani und so weiter, die alle zusammen die ›Sippe der Lattes‹ ausmachten, vorwiegend klein und untersetzt waren und blaue Augen hatten, von einem hellen, verwaschenen Blau (oder auch schwarz, aber dann von einem stumpfen, glanzlosen Schwarz). Außerdem war ihnen eine unverwechselbare Form des Kinns eigentümlich: weich und rund. Und in geistiger Hinsicht? Nun, auch charakterlich bestand, Gott sei Dank, auch nicht die mindeste Ähnlichkeit zwischen ihnen und ihm. Er neigte nicht zu besonderer Erregbarkeit, hatte nichts Labiles und Krankhaftes an sich – nichts von diesen so typisch jüdischen Eigenschaften. Was seinen Charakter betraf, so glich er – wenigstens sah er es so – viel mehr dem seiner vielen katholischen Freunde: aufrecht und offen.