Abendlicht. Stephan Hermlin

Abendlicht - Stephan Hermlin


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es ist, das weiß ich erst später, mein eigenes Schreien, denn das Kalenderblatt oder vielmehr die Macht, die es meinem Bruder in die Hand gedrückt hat, will deutlich machen, daß dieses Datum aus der Zeit getilgt ist, es gibt diesen Tag nicht, es wird ihn nie mehr geben, es gibt nur den 21. Juni, auf den der 23. Juni folgt, und der 23. wird sein wie der 21. war, es ist so vereinbart worden, und von nun an werden alle Tage ohne Änderung einander folgen, mit dieser Lautlosigkeit, dieser Windstille, dieser Glut, diesem trägen Schaukeln der Gewässer unter einem tageszeitlosen Licht.

      Die Jahre in den Bergen fielen mir nicht leicht, ich gewöhnte mich nur langsam an die fremden Kinder, nachdem ich so lange allein gewesen war. Mir fehlten meine Hauslehrer, meine Erzieherin, die Mädchen, alle die Menschen, die mich Tag für Tag umgeben hatten, ehe ich in das Internat kam. Sie standen unwandelbar um mich her, voll unergründlicher Weisheit und Erfahrung, stets in Sorge um mich, manchmal streng auf einer Forderung bestehend, aber immer freundlich und Vertrauen spendend. Meine Eltern sah ich die ganze Zeit nicht, nur einmal tauchten sie jung und strahlend auf, sie waren durch Italien gereist, jetzt nahmen sie mich ins Suvretta-House mit, wir aßen unter lauter fremden Leuten, am nächsten Tag war der Nationalfeiertag, als es dunkel wurde, erstrahlten Feuer auf den Berggipfeln, wir mußten vor den Hotelgästen in der Halle singen, ich sah meine Eltern in Abendtoilette unter anderen festlich gekleideten Gästen, wir sangen In Sempach der kleinen Stadt, wir waren im Internat auf drollige Weise patriotisch gesinnt, obwohl wir Zöglinge allesamt Ausländer waren, dann stoben meine Eltern davon und ich sah sie erst viel später wieder.

      Wir wurden gut nach modernen Grundsätzen unterrichtet, ich hatte begonnen die Lehrer zu lieben, wenn auch sie alle mir nicht die abwesenden vertrauten Menschen ersetzen konnten. Am meisten liebte ich ein Fräulein Zehnder. Einmal saß sie im Gespräch mit anderen Lehrern und Lehrerinnen, ich stand zutraulich daneben, es war etwas Ernstes, ja Trauriges in ihren Gesichtern. Fräulein Zehnder wandte sich plötzlich an mich und sagte: »Wie alt bin ich wohl, was glaubst du …« Alle sahen mich erwartungsvoll an. Mir fiel es schwer, das Alter von Erwachsenen zu schätzen, es war ungreifbar; ich zögerte. »Das Seminar hat unsere Jugend verbraucht«, sagte Fräulein Zehnder leise. Zum ersten Mal fühlte ich unklar, daß es in der Welt Versäumtes, Mißlungenes, daß es Reue gab.

      Der Besuch der Sonntagsschule machte mir das größte Vergnügen. Man lehrte uns die schönen Choräle von Paul Gerhardt, man las uns Erzählungen aus dem Neuen Testament vor, die wir nacherzählen mußten. Wer gut lernte, erhielt kleine Bildchen, auf denen Episoden aus der Heiligen Schrift dargestellt waren. Plötzlich schienen mir die bunten, grellen Bilder das Schönste zu sein, was ich je gesehen hatte; sie waren viel schöner als die Bilder, die mich zu Hause umgaben. Ich träumte die ganze Woche hindurch von den Bildchen, die ich am kommenden Sonntag erlangen würde. Am Sonntagnachmittag saß ich in meinem kleinen Zimmer unter dem Dach und betrachtete die Bildchen, die mich so sehr entzückten, ich sah die Stadt Emmaus in der Ferne, und im Vordergrund den Kleophas, wie er Christus begegnet. Darunter stand: Bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneiget.

      Der Winter dauerte zu unserer Freude lange, er begann im Oktober und endete im April. Der Schnee lag so hoch, daß der Pedell an manchen Tagen die Haustür freischaufeln mußte. Wir wurden zum Skifahren angehalten, was die meisten von uns gern und mit wachsendem Geschick taten. Einige der großen Jungen besaßen Skeleton-Schlitten, und wir blickten ihnen lange nach, wenn sie zur Crestabahn zogen.

      Abends im Bett las ich den »Oliver Twist«, die Kerze sorgfältig schirmend, damit kein Lehrer auf seinem Kontrollgang den Lichtschein an der Schwelle wahrnehmen könne. Dann lag ich eine Weile im Dunkel, blickte aus dem warmen Zimmer in die eisige Nacht mit ihren großen Sternen und dachte über Oliver Twists Schicksal nach. Mich erfaßte heftiges Mitleid mit armen Kindern, die es glücklicherweise nur in Büchern gab. Diese Nächte waren fast ohne Laut, nur selten ertönte der Pfiff eines Zuges im Tal. Dann kam der Frühling, und die erstarrten Wasserfälle in den Schluchten begannen wieder zu rauschen. Lawinen donnerten die ganze Nacht durch in meinen Schlaf hinein, wenn man erwachte, bedeckte blauer und gelber Krokus die Wiesen bis hinauf, wo der nackte Fels begann. So schön dies war, traf es mich doch wie ein scharfer Schmerz. Ich war Teil einer Winterwelt geworden, einer einförmigen Weiße, in der alles zur Ruhe kam, was sonst einander widersprach, über der der Himmel tiefer blaute und die Stille unterbrochen, aber nicht gestört wurde von jenen nahen und fernen Stimmen, die hallend und deutlich das Tal hinab wanderten.

      Von frühen Leseerlebnissen sind mir zwei, aus gänzlich verschiedenen Gründen, merkwürdig geworden. Das erste bezieht sich auf ein Buch oder einige Bücher, das oder die ich in der Tat ganz früh, also zwischen dem sechsten und achten Lebensjahr las. Ich denke an »Tausendundeine Nacht«, daneben schieben sich aber Andersens »Bilderbuch ohne Bilder« und der »Lederstrumpf«. Daß die Grenzen, die Ränder dieser ganz unterschiedlichen Werke undeutlich werden, daß sie ineinander überzugehen versuchen, muß damit zusammenhängen, daß dargestellte Personen und Handlungen nicht so sehr wichtig waren für mich, sondern vielmehr eine vorgestellte Landschaft, eine Tageszeit, eine Aura, in denen sich Personen bewegten, ihre Handlungen vollbrachten.

      Unterstützt wurde die Neigung, Atmosphärisches über das eigentlich Berichtete zu stellen, oder, wie man auch sagen könnte, in einem gegebenen Text einen zweiten, anderen zu lesen, durch beigegebene Illustrationen, deren Urheber ich vergessen, wenn ich sie überhaupt je gekannt habe. In meiner Ausgabe der Grimmschen Märchen, die ich ständig las, befand sich das Bild eines ansteigenden Wiesenhanges, über dem ein blaßblauer, mit weißen Wolken betupfter Himmel stand. Über diesen Wiesenhang stiegen, an ihm lagerten die Märchenfiguren in einer Lautlosigkeit, nach der ich mich sehnte. Als Erwachsener kam ich in einige orientalische Städte (Bagdad war nicht unter ihnen) – überall suchte ich nach den Gassen, den Basaren, in denen langsam ein heiteres und unheimliches Leben verging. Seit ich zum erstenmal »Tausendundeine Nacht« gelesen hatte, drang immer die gleiche rubinene Glut aus der Nacht der Basare, lief der gleiche kleine Wasserverkäufer durch die schweren Schlagschatten, stand die gleiche unsichtbare Sonne an einem tiefblauen Himmel über der Morgenkühle in den Häuserschluchten. Umgeben von Armut und Verfall und dem Einbruch einer widerwärtigen Technik stand ich lange neben den Märchenerzählern an den Straßenecken. Ihre Sprache verstand ich nicht; nur in den Augen ihrer zerlumpten Zuhörer lebten die Bilder und Gestalten meiner Kindheit. Lange suchte ich nach einem Licht, das ich einmal deutlich gesehen hatte. Ich habe es nicht gefunden.

      Mit dreizehn Jahren las ich zufällig das »Kommunistische Manifest«; es hatte später Folgen. Mich bestach daran der große poetische Stil, dann die Schlüssigkeit des Gesagten. Zu den Folgen gehörte, daß ich es mehrmals las, im Laufe der Jahre sicher zwei dutzendmal. In drei Ländern hörte ich bei meinem Lehrer Hermann Duncker Vorlesungen über das Manifest; Duncker, der das Werk vom ersten bis zum letzten Wort hätte auswendig hersagen können, gehörte zu jenen nicht mehr Lebenden, die noch mit Tränen der Ergriffenheit in den Augen über marxistische Theorie sprachen. Das berühmte Werk führte mich zu schwierigeren, umfangreicheren Schriften der marxistischen Literatur, aber ich kehrte immer wieder auch zu ihm zurück. Längst schon glaubte ich, es genau zu kennen, als ich, es war etwa in meinem fünfzigsten Lebensjahr, eine unheimliche Entdeckung machte. Unter den Sätzen, die für mich seit langem selbstverständlich geworden waren, befand sich einer, der folgendermaßen lautete: »An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung aller die Bedingung für die freie Entwicklung eines jeden ist.« Ich weiß nicht, wann ich begonnen hatte, den Satz so zu lesen, wie er hier steht. Ich las ihn so, er lautete für mich so, weil er meinem damaligen Weltverständnis auf diese Weise entsprach. Wie groß war mein Erstaunen, ja mein Entsetzen, als ich nach vielen Jahren fand, daß der Satz in Wirklichkeit gerade das Gegenteil besagte: »… worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.«

      Mir war klar, daß ich auch hier gewissermaßen in einem Text einen anderen Text gelesen hatte, meine eigenen Vorstellungen, meine eigene Unreife; daß aber, was dort erlaubt, ja geboten sein konnte, weil das Wort auf andere Worte, auf Unausgesprochenes hinwies, hier absurd war, weil in meinem Kopf eine Erkenntnis, eine Prophetie auf dem Kopf stand. Dennoch mischte sich in mein Entsetzen Erleichterung. Plötzlich war eine Schrift vor meinem Auge erschienen, die ich lange erwartet, auf die ich gehofft


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