Auwald. Jana Volkmann
besten Willen nichts mehr gab, das noch poliert oder geschliffen werden musste; sie hätte sich freuen müssen, als der Tisch in ihrer Küche stand, ein paar Tage vor Lins Ankunft mit dem Möbelwagen. Zumal er gut geworden war, richtig gut, dreimal besser als ihr Gesellenstück. Aber sie vermisste den unfertigen Tisch, das wurmstichige Holz, das so viele Jahre lang den Alltag fremder Menschen eingeatmet und aufgesogen hatte. Es hatten mit Sicherheit einige Familien an dem Tisch gegessen, womöglich Bauern, die es nicht allzu schlecht erwischt hatten, mit ihren Kindern und Katzen und den Kindern von nebenan. Oder ernste, verschlossene Menschen, die ihre Mahlzeiten, ohne vom Teller aufzusehen, zu sich nahmen und so viele Bäume vor der Haustür hatten, dass sie kein Holz mehr riechen konnten. Manche beteten vor dem Essen, andere stritten, schwiegen oder erzählten einander von ihren Tagen. Sie aßen Suppen und Sonntagsbraten, Weihnachtsessen und Geburtstagskuchen. Mittlerweile war der Tisch ganz und gar Teil von Judiths und Lins Wohnung geworden, er fügte sich in die Küche, als habe er nie anderswo gestanden, und er mischte sich nicht ein, wenn es so still wurde wie jetzt.
Krähenfrühstück
Da, wo Lin gelegen hatte, war das Laken noch schlafwarm. Judith hatte die Augen geschlossen und die Handfläche auf der Abwesenheit neben sich abgelegt, die Finger weit gespreizt. Sie spürte ihre Hand in die Matratze sinken, mit jedem Atemzug ein Stück tiefer. Vielleicht würde sie im Ganzen darin verschwinden, die Fingerspitzen voran. Aus dem Inneren einer Federkernmatratze betrachtet, war sicher alles leichter. Noch dazu war das Bett neu überzogen. Es ging nichts über den sanften Waschmittelduft frischer Laken. Im Zimmer dagegen roch es nach einem Sommer, der sich kurz vor dem Kipppunkt befand und bereits von sich selbst genug hatte. Sie ließ sich noch einmal in einen schweren Morgenschlaf sinken.
Als sie die Augen öffnete, lagen Hand und Bett noch genauso da, nichts brachte die Ordnung des Raumes in Ungleichgewicht. Lins Lakenseite hatte die Temperatur der Umgebung angenommen. Judith war schon wach, doch ihr Körper merkte wenig davon. Sie schaute ihre Hand an wie etwas, das man gern auseinandernähme, aber nicht konnte, da das richtige Werkzeug fehlte.
Dienstbeflissen klapperte im Nebenzimmer die Computertastatur. Lin hatte die Angewohnheit, nach dem frühen Aufwachen direkt mit ihrer Arbeit zu beginnen, sie mochte die Morgenstunden und das, was der frische Tag mit ihr machte. Sie saß meist bei offenem Fenster da, die Tür nur angelehnt, so dass die Luft, das Vogelzwitschern und die Stadtgeräusche durch sie hindurchzogen. Duschen und Frühstücken verschob sie bis zu dem Punkt, an dem sie beim Schreiben ins Stocken geriet, als hätte sie nie Hunger oder fettige Haare. Tatsächlich sahen ihre Haare nie wirklich schlimm aus, und ihr Hunger wirkte immer sehr beherrscht, als sei es ihm egal, ob er sofort oder erst in einer Stunde gestillt wurde. Meist war sie am Mittag, spätestens am frühen Nachmittag fertig mit ihrem Pflichtprogramm, und ihr Tag franste aus, sie ging zwischen zwei E-Mails einkaufen, erledigte den unliebsamen Kleinkram, die Rechnungen und Telefonate, blätterte durch ihre zahllosen Zeitungen oder schaute sich unter dem Vorwand der Recherche auf YouTube zehn Videos am Stück an. Sie hatte für ihre Arbeit keine Anfangs- und Abschlussrituale, war also in einer Art permanentem Bereitschaftsdienst, und sie wäre mit Sicherheit empört gewesen, hätte man ihre Nachmittage einfach als Freizeit abgetan. Wenn es ungewöhnlich viel zu tun gab oder Vernissagen, Vorträge und Veranstaltungen anstanden, machte sie in der zweiten Tageshälfte eben den Rücken wieder gerade, schob die Brille zurecht und ließ sich von Neuem elektrisieren. Solche Tage waren allerdings die Ausnahme. In der Regel hatte sie viele Stunden für Sachen, die sie interessierten, oder für Menschen, die sie gut fand, vor allem aber Stunden, in denen nichts sich bewegte, nichts entstand und nichts geschah. Judith hingegen konnte sich solch lange Tage kaum vorstellen. Dabei fing sie ebenso gern so früh wie möglich mit der Arbeit an, und sie mochte die Morgenstunden mindestens so sehr wie Lin. Aber gerade deshalb kamen ihr freie Nachmittage ganz sinnlos und nutzlos vor und sie vermied es, mit ihrer Arbeit fertig zu werden, zumindest solange, bis die nächste Aufgabe anstand. Am liebsten mochte sie fließende Übergänge: ein Stück fertigstellen, während sie ein neues begann, da den letzten Firnis auftragen und dort den ersten Sägestich ansetzen.
Sie drehte sich auf den Rücken und hielt ihre Hände in den breiten Lichtstreifen, der an der Gardine vorbei ins Zimmer fiel. Dass Menschen überhaupt Hände hatten, überhaupt Finger. In solchen Momenten musste sie sich sehr beherrschen, dass ihr die Gedanken nicht davongaloppierten. Im Großen und Ganzen sahen ihre Hände, genau wie der Rest ihres Körpers, normal aus. Zumindest merkte man ihnen nicht an, was sie machten, die Schleif- und Bohrarbeiten, die Lackarbeiten und das viele Fräsen und Sägen. Vielleicht waren sie etwas groß geraten, das hatte allerdings nichts mit ihrer Arbeit zu tun, große Hände sah man überall, auch an Pianisten und Neurologinnen. Die Fingernägel konnten etwas Zuwendung gebrauchen, aber wer konnte das nicht.
Den ersten Kaffee trank sie in ihrem Zimmer auf der Fensterbank, die Beine angewinkelt, die nackten Füße auf der Heizung abgestellt. Diese breiten Simse machten den Mangel an Balkonen in Wiener Mietshäusern beinahe wett. Sie waren auch nicht unbequemer als die Klappstühle, die die Leute auf ihren raren Veranden, Dachterrassen und Balkonen stehen hatten, und man konnte leicht auch hier Tomaten oder Erdbeeren züchten, oder ganze Sommer verbringen, wenn einem daran gelegen war. Es war auch ein guter Platz, um zu lesen. Vor allem war die Aussicht hervorragend. Judith war es etwas unangenehm, dass sie über die Gewohnheiten der Menschen im Haus gegenüber so genau Bescheid wusste. In knapp zehn Minuten würde in der dritten Etage ein Fenster aufgehen und ein Mann im Bademantel würde sich die erste Zigarette des Tages anstecken. Er und Judith würden so tun, als sähen sie einander nicht. Tatsächlich waren sie sich in all der Zeit, die sie beide in derselben Straße wohnten, draußen nie begegnet, zumindest hatten sie einander nicht erkannt. Womöglich existierte er nur innerhalb seines Fensterrahmens, nur in den zigarettenkurzen Momenten, wenn sich ihrer beider Rituale kreuzten. Judith hoffte, dass er sie wirklich nicht wahrnahm. Wenigstens trug sie nie einen Bademantel, sondern einen anständigen Pyjama. Seit es jeden Werktagmorgen diese Minuten des Aneinandervorbeischauens gab, achtete sie darauf, was sie zum Schlafen trug, und sie hatte sich nach und nach eine ganze Kollektion ansehnlicher Pyjamahosen und -oberteile zugelegt, eine Bekleidungsart, die bis dahin völlig an ihr vorbeigegangen war. Manchmal bügelte sie sie, doch nur, wenn sie allein zuhause war. Lin hatte diese Erweiterung ihrer Garderobe nicht kommentiert.
In der Wohnung schräg unter der des Frührauchers hatte der Tag wie immer schon im Morgengrauen begonnen. Auf dem äußeren Fensterbrett hatte jemand ein üppiges Frühstücksbankett für die Krähen angerichtet, wahrscheinlich Essensreste, unmöglich zu erkennen, was genau es war. Klumpen für Klumpen verschwand die Mahlzeit. Die Krähen schnappten sie im Vorbeiflug, keine von ihnen nahm auf dem Sims Platz. Sie drehten gleich wieder ab, und Judith konnte manchmal unter ihre Bäuche schauen, wenn sie zum Essen das Dach ihres Hauses ansteuerten. Das Gefieder am Bauch war heller, nur mehr ein blasses Grau, und sah weich aus, weich und schutzlos. Die Krähen flogen steil nach oben, so als tauchten sie aus einem tiefen Gewässer auf. Lin hatte erzählt, dass eine Frau jeden Vormittag nach dem Krähenfrühstück die Fensterbank schrubbte. Judith selbst hatte nie jemanden in der Wohnung gesehen, nur manchmal gespensterte ein Schatten durch die Räume.
Lin behauptete dagegen steif und fest, dass sie gegenüber nie einen Raucher im Bademantel bemerkt habe und nicht wisse, wer da schräg über der Krähenfrau wohne. Sie ging sogar so weit darüber zu spekulieren, ob die Wohnung vielleicht leer stehe. Tatsächlich hingen keine Gardinen vor den Fenstern, es zeichnete sich jedoch in den hinteren, dunklen Teilen der Wohnung etwas ab, das nach dem Umriss einer Zimmerpflanze aussah. Judith reichte das als Gegenbeweis. Wenn sie am Abend hinüberschaute, brannte nie Licht. Aber das konnte auch Zufall sein. Sie sah nie zu lange hin.
Mitternacht
Das erste Feuer, das sie je gesehen hatte, vergaß Judith nie wieder. Es war nicht das erste Feuer überhaupt, sondern das erste richtige Feuer, das erste, das etwas bedeutete. Ein unromantisches Feuer ohne mildernde Umstände. Kein Kamin- oder Lagerfeuer, kein Osterfeuer.
Sie waren damals über Silvester in Berlin gewesen, sie und Lin, die ihre alten Freundinnen aus dem Studium wiedersehen wollte.
»Ich will, dass du meine Leute kennenlernst«, so lautete