Der kleine Bibelcoach. Anselm Grün
zum eigentlichen Kanon, das heißt, zu der vom Judentum und dann später von der Kirche festgelegte Auswahl der heiligen Schriften. Diesen Kanon hat die Kirche zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert festgelegt, das heißt, sie hat entschieden, welche Schriften zur Bibel gehören und welche nicht. Denn außer den jetzigen im Neuen Testament gesammelten Schriften kursierten in den ersten Jahrhunderten noch andere Schriften, zum Beispiel das Thomasevangelium oder das Petrusevangelium. Diese Schriften rechnet man heute zu den sogenannten apokryphen (verborgenen) Schriften. Sie beschreiben das Leben Jesu, sind aber oft auch von gnostischen Gedanken durchzogen. Daher hat sie die Kirche nicht in den Kanon aufgenommen.
Dann geht es um die verschiedenen Übersetzungen der Bibel. In der evangelischen Kirche ist die Lutherbibel beliebt. Sie zeugt von großer Sprachkraft, wurde über die Jahrhunderte in ihrer Übersetzung aber immer wieder auch dem neueren Sprachgebrauch angepasst.
Daneben gibt es die Zürcher Bibel, die auf Huldrych Zwingli, den ersten Schweizer Reformator, zurückgeht und erstmals 1531 erschien. Sie wurde zwischen 1987 und 2007 neu nach dem Grundtext der Bibel übersetzt.
Im katholischen Bereich ist es vor allem die Einheitsübersetzung, die von vielen katholischen Exegeten im Auftrag der deutschen Bischofskonferenz erstellt wurde. Am Neuen Testament und an den Psalmen haben auch die evangelischen Übersetzer mitgearbeitet. In der Einheitsübersetzung finden Sie am Seitenende jeweils Fußnoten und Anmerkungen zu einzelnen Versen. Diese Anmerkungen entspringen den Erkenntnissen der historisch-kritischen Methode. Sie machen deutlich, wie wir den Text verstehen können beziehungsweise in welchem Kontext er zu sehen ist. Sie zeigen in relativ kurzen Anmerkungen Hintergründe.
Die Jerusalemer Bibel, die vom Französischen ins Deutsche übersetzt wurde, liefert dagegen ausführlichere Kommentare.
Neben diesen Übertragungen gibt es Bibelübersetzungen, die mehr dem heutigen Sprachgebrauch angepasst sind, etwa »Die Gute Nachricht« oder die Übersetzung des evangelischen Theologen Jörg Zink. Wenn Sie Zeit und Geduld haben, wäre es sicher gut, zum einen oder anderen Buch der Bibel einen Kommentar zur Hilfe zu nehmen. Manche dieser Anmerkungen geben auch Anregungen, den Text in unser persönliches Leben hinein auszulegen.
Sollten Sie ein Bibelgespräch vorbereiten, ist es sinnvoll, in einem Kommentar nachzulesen, was dort zu der Bibelstelle, die Sie sich herausgesucht haben, an Hintergründen zu lesen ist. Wichtig ist jedoch, dass Sie den Text nicht festlegen auf das, was der Kommentar sagt. Der Kommentar ist nur eine Hilfe, den Zusammenhang zu erkennen, in dem der Text steht, oder die eigentliche Aussageabsicht zu erahnen. Dann geht es jedoch darum, von der historisch-kritischen Methode zur persönlichen Auslegung zu kommen: Wenn ich den Text auf dem Hintergrund all dessen lese, was es darüber zu wissen gibt, was will er mir heute sagen? Was ist seine Botschaft an mich persönlich oder auch an uns als kirchliche Gemeinschaft? Wie verwandelt dieser Text mich und meine Selbstwahrnehmung?
Schriftauslegung
Bevor ich jeweils praktische Hilfen gebe, wie wir heute die Bibel lesen können, möchte ich auf die Tradition der Schriftauslegung eingehen, wie sie in der Geschichte des Christentums praktiziert worden ist. Es gibt nicht die einzig mögliche Weise, die Bibel auszulegen, sondern verschiedene Möglichkeiten, auch wenn das Ringen um die »richtige« Auslegung schon sehr alt ist. Der Blick in die Tradition lässt uns die Freiheit, die Methode auszusuchen, die uns am besten liegt. Das kann sich auch von Text zu Text wandeln.
Die Sprache der Bibel ist eine dichterische und damit eine offene Sprache. Das heißt: Jede große Dichtung – ob »Die Nibelungen« oder »Faust« oder was auch immer man dazu zählt – muss immer neu ausgelegt werden, so auch die Bibel. Und sie hat zu jeder Zeit immer Neues zu sagen und kann die Herzen der Menschen immer wieder neu berühren.
Ich möchte sieben verschiedene Weisen der Auslegung hier anführen, wie sie uns die spirituelle und theologische Tradition anbieten. Dabei geht es nicht um die Frage, welche Auslegung die beste ist. Jede ist möglich und gut und erfüllt bestimmte Bedürfnisse. Sehen Sie selbst, lieber Leser, liebe Leserin, mit welcher Auslegung Sie sich wohlfühlen und welche Ihnen eher fremd bleibt. Und dann entwickeln Sie Ihre eigene, ganz persönliche Auslegung. Viele meinen, das sei Willkür. Es müsse doch die einzig richtige Auslegung geben, die von der Kirche autorisiert wurde. Doch diese hat in ihrer Geschichte alle sieben Auslegungsmethoden autorisiert. Die Texte der Bibel bleiben offen, sodass viele Leseweisen möglich sind.
Am Schluss jedes Kapitels möchte ich zudem noch ein paar Anregungen geben, wie wir die jeweilige Leseweise für uns persönlich praktizieren können.
1. Historisch-kritische Schriftauslegung
Die Bibelkommentare, die uns zur Verfügung stehen, orientieren sich meistens an der historisch-kritischen Methode. Es ist eine wissenschaftliche Herangehensweise an die Bibel. Die Bibelwissenschaft hatte vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts und dann das ganze 20. Jahrhundert hindurch ihre Hochzeit. Es wurde sehr viel über die Entstehungsgeschichte der Bibel geforscht, in welchem kulturellen Umfeld sie entstanden ist, welche Parallelen es in der jüdischen und außerchristlichen Tradition für manche Bibelstellen gibt und was die einzelnen Texte uns wirklich sagen wollen.
Die historisch-kritische Methode zeigt, dass wir mit unserer Vernunft die Bibel durchleuchten können und dass wir keine Angst haben müssen, diese Methodik auf die Texte anzuwenden, die vielen von uns heilig sind. Die historisch-kritische Methode vermittelt Wissen: einmal über die Entstehung der Bibel, über die einzelnen Bibelhandschriften und die Textvariante, die am wahrscheinlichsten dem Urtext entspricht. Zudem zeigt sie den geschichtlichen Hintergrund der Ereignisse, die uns in der Bibel erzählt werden. Dabei hat die Wissenschaft erkannt, dass die Bibel durchaus historisches Geschehen reflektiert. Aber wir dürfen keine objektive Geschichtsschreibung von ihr erwarten. Die Bibel deutet im Erzählen immer schon das Geschehene. Doch wir erfahren auch heute: Die reinen Fakten helfen uns nicht weiter. Von Fakten allein kann man nicht leben. Nur wenn ich sie deute, bekommen sie für mich eine Bedeutung. Dann erkenne ich den Sinn des Geschehens. Und nur dann kann der Sinn des vergangenen Geschehens auch meinem Leben heute Sinn verleihen.
Die historisch-kritische Schriftauslegung hat verschiedene Methoden entwickelt, um an die Texte der Bibel heranzugehen. Da gibt es einmal die formgeschichtliche Methode. Sie betrachtet die Texte unter dem Aspekt, um welche Art von Text es sich bei den verschiedenen Büchern handelt, ob es also ein Brief ist oder sich um eine Legende handelt oder eine Erzählung. Und jede Art von Texten muss auf ihre Weise ausgelegt werden. Da gibt es in der Bibel zum Beispiel mythische Texte. Die Schöpfungsgeschichte ist ein solcher. Dieser mythische Text hat seine eigene Wahrheit. Aber es ist eben keine naturwissenschaftliche Wahrheit. Die Schöpfungsgeschichte erzählt uns den Anfang der Schöpfung in wunderbaren Bildern. Diese Bilder haben alle eine Wahrheit in sich. Aber wir können daraus keine naturwissenschaftlichen Schlüsse ziehen. Das wäre eine Verkennung dessen, was die Bibel uns sagen möchte. Sie will uns sagen, dass Gott die Welt geschaffen hat und dass sie wunderbar geschaffen wurde. Und auch, dass der Mensch darin eine zentrale Rolle spielt. Es sind wunderbare Bilder, mit denen die Bibel die Erschaffung der Welt beschreibt. Allein schon der erste Satz: »Gott sprach: Es werde Licht« (Genesis 1,3). Josef Haydn war von diesem Wort so fasziniert, dass er in seinem Oratorium »Die Schöpfung« dieses Licht musikalisch erstrahlen lässt. Der Musiker hat genau verstanden, was die Bibel mit dem Schöpfungsbericht meint.
Dass wir diese Erzählung nicht naturwissenschaftlich deuten dürfen, zeigt schon die Tatsache, dass uns die Bibel zwei Schöpfungsgeschichten bietet:
Die erste (Genesis 1,1–2,4a) erzählt uns, wie Gott in sechs Tagen die Welt erschafft: Zunächst scheidet er das Licht von der Finsternis, den Tag von der Nacht, dann den Himmel von der Erde und die Erde vom Wasser. Dann schafft er die Pflanzen, die Tiere und schließlich den Menschen. Und er sieht, dass alles sehr gut und sehr schön ist. Am siebten Tag ruht er und gewährte auch den Menschen den siebten Tag als Ruhetag.
Die zweite Schöpfungsgeschichte (Genesis 2,4b–25) erzählt dagegen, dass Gott zuerst Himmel und Erde macht. Dann schafft er den Menschen aus dem Ackerboden und bläst ihm seinen Lebensatem ein. Er gibt ihm einen Namen: Adam, was so viel wie »Erde« heißt. Gott legt anschließend einen Garten in Eden an. Den sollte der Mensch bebauen und hegen und pflegen. Dann sieht Gott, dass