Lebe jetzt und über den Tod hinaus. Elisabeth Kubler-Ross

Lebe jetzt und über den Tod hinaus - Elisabeth Kubler-Ross


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Konsequenzen meiner eigenen Entscheidung zu tragen hatte. Ich versuchte, meine Müdigkeit zu bekämpfen, da ich eine unbestimmte innere Ahnung hatte, dass ‘es’ geschehen würde, ohne zu wissen, was dieses ‘es’ wohl sein könnte. Und in dem Moment, als ich mich ‘ihm’ ergab, vollzog sich an mir die höchstwahrscheinlich schmerzhafteste und einsamste Erfahrung, die je ein Mensch durchmachen musste. Im wahrsten Sinne des Wortes durchlebte ich die tausend Tode, welche die von mir betreuten Sterbenden durchgemacht hatten. Ich befand mich physisch, emotionell, intellektuell und spirituell im Todeskampf. Ich war unfähig zu atmen. Während dieser physischen Marterqualen wusste ich voll und ganz, dass kein Mensch in der Nähe war, der mir hätte zu Hilfe kommen können. So hatte ich jene Nacht ganz allein durchzustehen.

      In jenen entsetzlichen Stunden waren mir nur drei kurze Erholungspausen vergönnt. Man könnte diese Schmerzen am ehesten mit den Geburtswehen vergleichen, nur dass unaufhörlich die einen den anderen folgten. Während jener drei kurzen Unterbrechungen, in denen es mir gelang, ein paarmal tief aufzuatmen, geschahen einige symbolisch bedeutsame Ereignisse, die ich allerdings erst viel später verstanden habe.

      Während der ersten Atempause bat ich um eine Schulter, an die ich mich hätte lehnen können. Und ich dachte dabei tatsächlich daran, dass die linke Schulter eines Mannes erscheinen würde, an die ich meinen Kopf anlehnen könnte, um meine Schmerzen besser ertragen zu können. Doch sobald ich diese Bitte ausgesprochen hatte, vernahm ich eine tiefe und ernste, doch liebe- und teilnahmsvolle Stimme, die nur sagte: ‘Sie soll dir nicht gewährt werden.’

      Nach einer langen, langen Zeit wurde mir wieder eine Atempause vergönnt. Diesmal bat ich um eine Hand, die ich anfassen könnte. Und wiederum hoffte ich, dass sich diesmal auf der rechten Seite meines Bettes eine Hand zeigen würde, damit ich sie ergreifen könnte, um die Schmerzen etwas leichter ertragen zu können. Und dieselbe Stimme ließ sich hören und sagte wiederum: ‘Sie soll dir nicht gewährt werden.’

      Während meiner dritten und letzten Atempause entschied ich mich dafür, nur um eine Fingerspitze zu bitten. Doch sogleich fügte ich, wie es meinem Charakter entspricht, hinzu: ‘Nein, wenn mir keine Hand gereicht wird, verzichte ich auch auf die Fingerspitze.’

      Wie es sich versteht, meinte ich mit der Fingerspitze nur das Wissen darum, dass jemand anwesend war, auch wenn ich mich nicht an dessen Fingerspitze klammern konnte. Nun dämmerte es mir zum ersten Mal in meinem Leben, dass es sich bei einem solchen Todeskampf um den Glauben an sich handelte. Und dieser Glaube entstammte dem tief innen ruhenden Wissen, dass ich selbst über die Stärke und den Mut verfüge, diese Todesqualen ganz allein ertragen zu können. Mir wurde plötzlich klar, dass ich nur meinen Kampf beenden, meinen Widerstand ganz einfach in eine friedliche, positive Unterwerfung verwandeln müsste, in der ich fähig wäre, ganz einfach ‘ja’ zu sagen. Und im gleichen Augenblick, in dem ich in Gedanken ‘ja’ sagte, hörten die Qualen auf. Mein Atem wurde ruhiger, der physische Schmerz verschwand. Und anstatt jener tausend Tode, die ich zu durchleben hatte, wurde mir ein Wiedergeburtserlebnis zuteil, das man mit menschlichen Worten kaum zu beschreiben vermag.

      Dieses begann mit einem sehr schnellen Schwingen oder Pulsieren in meiner Bauchgegend, von wo es sich auf meinen ganzen Körper ausbreitete. Aber es blieb nicht dabei. Denn es versetzte auch all das in Schwingung, auf das ich meine Augen richtete – die Decke, die Wand, den Boden, die Möbel, das Bett, das Fenster, ja selbst den Himmel, den ich durch das Fenster erblickte. Die Bäume wurden von dieser Schwingung erfasst und schließlich der ganze Planet Erde. Ja, es kam mir wahrhaft so vor, als ob der ganze Erdplanet, als ob jedes Molekül vibrierte. Und alsdann erblickte ich etwas, was wie die Knospe einer Lotosblume aussah, die sich nun vor mir zu einer unglaublich farbenprächtigen Blüte auftat. Und hinter dieser Lotosblume strahlte auf einmal das Licht, von dem meine Patienten so oft gesprochen hatten. Und als ich mich durch die geöffnete, schnell vibrierende Lotosblume dem Licht näherte, wurde ich immer mehr und ganz sacht von ihm, diesem Licht, dieser unvorstellbaren bedingungslosen Liebe, angezogen, bis ich schließlich mit ihr verschmolz.

      Doch in demselben Augenblick, als ich mit dieser Lichtquelle eins geworden war, hörten alle Schwingungen auf. Eine tiefe Ruhe überkam mich, und ich fiel in einen tranceähnlichen Schlaf. Als ich aus ihm erwachte, wusste ich, dass ich ein Kleid und meine Sandalen anzuziehen und den Berg hinunterzugehen hatte und dass ‘es’ bei Sonnenaufgang geschehen würde. Als ich etwa anderthalb Stunden später aus einem erneuten Schlummer aufgewacht war, zog ich das Kleid und die Sandalen an und schritt den Hügel hinab. Und dann geschah es, dass mir die wahrscheinlich größtmögliche Ekstase zuteilwurde, die Menschen wohl auf dieser physischen Erde erleben können. Ich fühlte mich in den Zustand der totalen Liebe versetzt und staunte alles um mich herum an. Ich befand mich in einer Liebeswallung mit jedem Blatt, jeder Wolke, jedem Grashalm und jedwedem Lebewesen. Ich fühlte sogar das Pulsieren eines jeden Steinchens auf dem Weg, ja, ich schritt im wahrsten Sinne des Wortes ‘über’ sie hinweg und rief ihnen in Gedanken zu: ‘Ich vermag es nicht, auf euch zu treten, denn ich möchte euch nicht wehtun.’ Und als ich am unteren Ende des Hügels angekommen war, wurde ich mir tatsächlich bewusst, dass ich ja wirklich mit keinem Schritt den Boden berührt hatte. Ich zweifelte nicht an der Echtheit dieses Erlebnisses. Es war ganz einfach eine aus dem kosmischen Bewusstsein heraus erfolgte Wahrnehmung. Ich durfte somit das Leben in der ganzen belebten Natur erkennen, samt jener Liebe, die man mit Worten niemals wiederzugeben vermag.

      Es brauchte einige Tage, bis ich mich in meiner physischen Existenz wieder ganz zurechtfand, um den Trivialitäten des Lebens gerecht werden zu können, wie Geschirr zu spülen, Wäsche zu waschen oder meiner Familie ein Mahl zu bereiten. Und ich benötigte einige Monate, bis ich fähig war, über mein Erlebnis zu sprechen. Ich teilte es mit einer wunderbaren, nicht verurteilenden, sondern verständnisvollen Gruppe von Menschen, die mich anlässlich eines Symposions über Transpersonale Psychologie nach Berkeley in Kalifornien eingeladen hatte. Und nachdem ich mit dieser Gruppe mein Erlebnis geteilt hatte, nannten sie auch einen Namen dafür: ‘kosmisches Bewusstsein’. Und alsbald – meiner Gewohnheit entsprechend – suchte ich eine Bibliothek auf, um zu sehen, ob ich mir dort ein Buch mit dem gleichen Titel ausleihen könnte, um auch intellektuell die Bedeutung eines solchen Zustandes zu erfassen.

      Durch jene Gruppe erfuhr ich ebenfalls, dass das Wort ‘Shanti Nilaya’, das mir mitgeteilt worden war, als ich mit der spirituellen Energie, jener Urlichtquelle, verschmolzen war, das uns letztlich erwartende Heim des Friedens ist, jenes Zuhause, zu dem wir alle einmal zurückkehren werden, nachdem wir durch alle Todesängste, Schmerzen und Kümmernisse gegangen sind und nachdem wir gelernt haben, alle jene Schmerzen zu überwinden, um das zu sein, was wir gemäß der Schöpfung eigentlich sein sollten, nämlich ein Wesen in voller Ausgeglichenheit zwischen dem physischen, emotionellen, intellektuellen und spirituellen Quadranten, ein Wesen also, das erkannt hat, dass wahre Liebe keine Besitzansprüche und keine Bedingungen stellt. Leben wir ein Leben der totalen Liebe, dann werden wir auch gesund und heil sein. Dann sind wir auch dazu in der Lage, die uns bestimmten Aufgaben und Ziele in einem einzigen Leben zu erfüllen.

      Diese Erfahrung, von der ich Ihnen erzählte, hat mein Leben verändert, und zwar in einer Weise, wie ich es nicht in Worten wiederzugeben vermag. Doch ich glaube, ich habe damals ebenfalls begriffen, dass ich, sollte ich mein Wissen über das Leben nach dem Tod mitteilen, im wahrsten Sinne des Wortes durch tausend Tode zu gehen hätte, da die Gesellschaft, in der ich lebe, versuchen würde, mich in Stücke zu reißen. Aber die Erfahrung und das Wissen, die Freude, die Liebe und die Aufregung, die diesen Ängsten folgen können, werden nebst allen Belohnungen bei weitem größer sein als jeglicher Schmerz.”

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      Wachsende Popularität

      Als ich in Deutschland mehr über Elisabeth erfahren wollte, war sie hier bei Ärzten und Krankenschwestern schon seit einiger Zeit keine Unbekannte mehr. Ihr 1969 in Amerika unter dem Titel On Death and Dying erschienenes Buch kam schon wenig später auf dem deutschen Markt mit dem Titel Interviews mit Sterbenden heraus. Darin beschreibt sie ihre Arbeit mit Sterbenden, die alle fünf verschiedene Phasen des Sterbens durchlaufen.

      Zusammenfassend


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