Der Meineid, vielleicht. Jacques Derrida

Der Meineid, vielleicht - Jacques  Derrida


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      Ausgehend von der Lektüre des Romans Le parjure des Übersetzers und Schriftstellers Henri Thomas untersucht Jacques Derrida die komplexe Figur des Meineids. Dabei schließt er an seine früheren Arbeiten über Vergebung, Versprechen, Lüge, Zeugenschaft und deren Verhältnis zur literarischen Fiktion an. Die Stilfigur des Anakoluths – des abrupten Abbruchs der Rede –, die Thomas’ Text prägt, erlaubt es Derrida, nach den Figuren des „vielleicht“ und des „als ob“ zu fragen, die die literarische Fiktion heimsuchen. Wie steht es um das Geheimnis der Literatur, um ihre Verantwortung und die des Erzählenden, wenn die Grenze zwischen Lüge und Fiktion, zwischen Geschichtenerzählen und Lügen undeutlich wird?

      Jacques Derrida (1930-2004) lehrte Philosophie in Paris und den USA.

      DER MEINEID, VIELLEICHT

      PASSAGEN FORUM

      Jacques Derrida

      Der Meineid, vielleicht

      („jähe syntaktische Sprünge“)

      Aus dem Französischen von

      Esther von der Osten

      Passagen forum

      herausgegeben von

      Peter Engelmann

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      Deutsche Erstausgabe

      Titel der Originalausgabe:

       Le parjure, peut-être („Brusques sautes de syntaxe“)

      Aus dem Französischen von Esther von der Osten

      Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de/ abrufbar.

      Alle Rechte vorbehalten

      ISBN 978-3-7092-0403-0

      eISBN (EPUB) 978-3-7092-5030-3

      © 2017 by Éditions Galilée

      © der dt. Ausgabe 2020 by Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien

      Grafisches Konzept: Gregor Eichinger

      Satz: Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien

       http://www.passagen.at

      Inhalt

       Was heißt nicht denken?

       Probably“, „maybe“, „perhaps

       Hölderlin in Amerika

       Titel unübersetzbar: le parjure

       Der mich nicht begleitete

       Wir – in der Universität

       Der „Bekenntnis-Bericht“

       Die Wahrheit ohne uns

       Ja, „viel zu tot“

       PS: Signatur Ereignis Kontext

       Anmerkungen

       Vous l’écrirez, n’est-ce pas? Bien mieux que je ne le ferais jamais! Puisque je ne peux pas! Impossible! Au-dessus de mes moyens! Mais vous!

      Henri Thomas, Le Parjure1

      The passage in Proust has to do with storytelling (in the double sense of lying and of narration), with memory as a precarious support of narrative continuity, and with anacoluthon’s function in both storytelling and lying. Anacoluthon doubles the story line and so makes the story probably a lie. A chief evidence for the middle’s perturbation is the small-scale details of language. This means that close reading is essential to reading narrative: „À vrai dire, je ne savais rien qu’eût fait Albertine, depuis que je la connaissais, ni même avant.“ (à suivre)

      J. Hillis Miller, „The Anacoluthonic Lie“2

      By „the ethics of reading“, the reader will remember, I mean the aspect of the act of reading in which there is a response to the text that is both necessitated, in the sense that it is a response to an irresistible demand, and free, in the sense that I must take responsibility for my response and for further effects, „interpersonal“, institutional, social, political, or historical, of my act of reading, for example as that act takes the form of teaching or of published commentary on a given text. What happens when I read must happen, but I must acknowledge it as my act of reading, though just what the „I“ is or becomes in this transaction is another question.

      J. Hillis Miller, The Ethics of Reading3

      Was heißt nicht denken?

      „Figurez-vous que je n’y pensais pas.“

      „Stellen Sie sich bloß vor, ich dachte nicht daran.“

      Beginnen wir mit einem Zitat. Und mit einer Antwort. Sie kommen aus einer Erzählung, einem récit. Aus einem récit, das für immer eine Fiktion bleibt. Sie werden nie aufhören, darauf zurückzugehen, zu ihm zurückzugehen und ihm anzugehören. Ja, Antwort, denn wie zu lesen ist, richtet sich dieser Satz an jemanden in der Grammatik des Imperativs (Stellen Sie sich bloß vor …), während er sich bereits auf einen im Voraus definierten Gegenstand bezieht: „Ich dachte nicht daran.“

      Stellen jetzt Sie sich die Szene vor. Stellen Sie sich diesen Austausch vor. Sie zögern zwischen glauben und nicht glauben. Sie wissen nicht mehr, ob man jemandem glauben soll oder ob man, was noch etwas anderes ist, an jemanden glauben soll, oder weiter noch, ob man dem glauben soll, was jemand sagt, wenn er antwortet, ohne wirklich zu antworten: „Stellen Sie sich bloß vor, ich dachte nicht daran.“

      Was würden Sie nun, Sie, Ihrerseits, dem Mann (denn es ist ein Mann) entgegnen, der dies als Antwort auf eine Anklage auf Meineid in dem Moment zu Ihnen sagte, wo Sie ihm eine Evidenz, eine Tatsache, sogar ein Zeugnis in Erinnerung rufen? Im zitierten Text erinnert der Freund den der Bigamie angeklagten Meineidigen:

      „[…] mein lieber Stéphane, es bin doch nicht ich, der am Tag, als Sie heirateten, eine kleine Gedächtnislücke hatte.“1

      Eine andere Weise, zu verstehen zu geben – ich paraphrasiere:

      „Aber Sie sind doch parjure, Sie sind meineidig, Sie haben einen parjure begangen, einen Meineid, Sie haben gelogen, Sie verhehlten, Sie wussten, dass Sie dabei waren zu lügen und einen Meineid zu leisten [parjurer].“2 Wie und mit welcher Interpretation würden Sie auf jemanden reagieren, der Ihnen antworten würde: „Das ist wahr. Stellen Sie sich bloß vor, ich dachte nicht daran. Danke“3? Denn die Romangestalt umgibt diese sonderbare Aussage (Imperativ, Bitte, Vorschlag, Bemerkung: „Stellen Sie sich bloß vor …“) mit einer Bejahung, die nicht irgendeine ist („Das ist wahr“),


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