Der Meineid, vielleicht. Jacques Derrida
Zitat („Das ist wahr. Stellen Sie sich bloß vor, ich dachte nicht daran. Danke“) habe ich also aus dem Roman Le Parjure4 von Henri Thomas herausgerissen. Es handelt sich dabei, der Buchdeckel bestätigt es de jure, um einen „Roman“, also um eine Fiktion, und zwar um eine literarische Fiktion. Das dürfen wir nicht vergessen, denn wir werden erst nach einem langen Umweg darauf zurückkommen.
„Ich dachte nicht daran“ heißt nicht einfach „ich hatte es vergessen“. Jenseits der Tatsache der Amnesie, ja der Unterlassung, die kein einfacher Gedächtnisverlust ist, jenseits dieses Versagens, das konstativ, in einer Feststellung, zur Kenntnis genommen wird, ist es bereits das Bekenntnis irgendeiner Pflichtversäumnis: Ich dachte nicht daran, obwohl ich, wie Sie mir soeben in Erinnerung riefen, daran hätte denken müssen. Das war meine Pflicht, ich hätte dieses Gesetz kennen müssen. Genauer gesagt ähnelt dieses Bekenntnis einem Geständnis, das sich für unschuldig erklärt, also auch einer neutralen Beschreibung genauso wie einem Bekenntnis, einem sonderbaren Eingeständnis von Unschuld, dem Geständnis von jemandem, der gewissermaßen sein Geständnis widerrufend sich zugleich schuldig und nicht schuldig bekennt, unschuldig geglaubt zu haben, er habe sich nicht zu erinnern gehabt, er habe sich nicht erinnern müssen, er habe nicht gedacht, was man denken musste, er habe nicht gedacht, dass man denken musste, dass man daran hätte denken müssen – und zuerst, vor diesem oder jenem, an den Imperativ, daran zu denken; daran zu denken, sich zu erinnern, daran zu denken; daran zu denken, daran zu denken – und somit daran zu denken, einer eingegangenen Verpflichtung treu zu sein, den Meineid zu vermeiden: Ich dachte nicht, dass ich mich erinnern musste, ich dachte nicht, dass ich eine Gedächtnispflicht hatte, dass es meine Pflicht und Schuldigkeit war, nicht zu vergessen, mich selbst nicht zu vergessen, meine Subjektidentität, meine Identität mit mir selbst nicht zu vergessen. Das ist eine Tatsache, ich dachte nicht, ich vergaß, dass, genau wie die Selbstidentität des Subjekts, das Gedächtnis eine ethische Verpflichtung ist oder vielmehr sein muss, müsste: unendlich und jeden Augenblick.
Kann man einen Meineid begehen, „ohne daran zu denken“? Aus Zerstreuung? Nicht aus aktiver und absichtlicher Überschreitung, sondern aus Vergessen? Oder weil es gerade nicht der Moment ist, daran zu denken? Man fragt sich, ob man darin eine Entschuldigung, einen mildernden Umstand finden kann. Und ob man es als verzeihlich beurteilen kann, „nicht daran zu denken“ – zu vergessen, an alles zu denken, an alle Vorannahmen und Implikationen dessen, was man tut, oder dessen, was man sagt. Wenn denken nicht ohne das Risiko der Selbstvergessenheit gehen kann, wenn zu vergessen zu denken, wenn zu vergessen, daran zu denken, ein Vergehen ist, wenn derlei Unterbrechung, derlei Aussetzer ein Scheitern ist, was heißt dann denken?
Was heißt denken? Und vergessen? Und vergessen zu denken? Was heißt nicht denken? Nicht daran denken, daran zu denken? Nichts ist auf gewisse Weise banaler. Denn eigentlich kann man von einem endlichen Subjekt vernünftigerweise nicht verlangen, in jedem Augenblick, im selben Augenblick, sogar bloß im gewünschten Moment, sich aktiv, aktual, in actu, kontinuierlich, ohne Intervall, daran zu erinnern, alle ethischen Verpflichtungen zu denken, denen es verantwortlicherweise, in aller Gerechtigkeit, nachkommen müsste. Das wäre unmenschlich und unangemessen.
Daher oszilliert das figurez-vous, „stellen Sie sich bloß vor“, zwischen einer starken und einer schwachen Bedeutung. Übersetzen wir. Einerseits: Sie können sich unschwer vorstellen, dass ich dafür nicht den Kopf frei hatte, ich konnte nicht an alles denken, ich war a priori anderen Dringlichkeiten oder anderen Gesetzen, anderen eingegangenen Verbindlichkeiten oder jemand anderem zugewandt – der aus genauso ethischen Gründen nicht weniger Aufmerksamkeit beanspruchte und verdiente. Andererseits: Auch wenn es sich schwer vorstellen lässt, bemühen Sie Ihre Einbildungs- oder Vorstellungskraft, um sich an meine Stelle zu versetzen, um diese einzigartige Sache zu begreifen, die über mich hereingebrochen ist. Es ist, als ob ich nicht derselbe wäre, als ob „ich“ in mehreren Momenten der Geschichte nicht identisch wäre, der Geschichte, die zu erzählen oder in Erinnerung zu rufen ist, ja sogar in mehreren Augenblicken des Tages oder der Nacht, wachend oder schlafend, bewusst oder unbewusst, und dann mit verschiedenen Personen, letztlich mit allen anderen, an die mich verschiedene eingegangene Verbindlichkeiten knüpfen, allesamt genauso zwingend geboten, genauso gerecht, aber unvergleichlich, nicht ineinander übersetzbar.
Miller sagt es so gut, so genau richtig: „just what the ‚I‘ is or becomes in this transaction is another question […]“.
Lassen wir diese Frage warten und mit ihr auch jene andere, die mit der Situation eines Tête-à-tête oder eines Von-Angesicht-zu-Angesicht zwischen zwei Männern zusammenhängt, zwischen zwei Freunden, zwischen zwei Komplizen, vielleicht, oder zwei Akolythen, Gehilfen, von denen der eine den anderen bittet zu verstehen („Stellen Sie sich bloß vor, …“) und daher also, um anzufangen, seine Rolle zu spielen, sich an seine Stelle zu versetzen, sich mit ihm zu identifizieren. Der Raum eines gewissen zumindest virtuellen „wir“ wird von diesem Austausch bereits zugrunde gelegt – wie wohl von jedem Austausch. Wir werden darauf ausführlich zurückkommen.
Was ist von diesem wir in dieser Szene eines unentscheidbaren Bekenntnisses, einer ironischen Vertraulichkeit, einer erheischten Ersetzung zu sagen? Gibt es im Austausch nicht, ehe man überhaupt zu dem bestimmten „Meineid“ kommt, zum Inhalt oder zum Akt des mit dem „Stellen Sie sich bloß vor, ich dachte nicht daran“ gemeinten Meineids, bereits ein Heimgesuchtsein, ist der Austausch nicht von einem anfänglichen Meineid umgetrieben, zu dem das „Stellen Sie sich bloß vor …“ gehört?
Bleibt noch die Frage, wie „wir“ einen Meineid schwören und „wir“ sagen können, genauer indem wir „wir“ sagen, und indem wir denken/meinen, uns zu denken, und uns einzugestehen oder zu verleugnen, und uns um Vergebung zu bitten oder sie uns zu gewähren. Bleibt die Frage, wie wir uns die Wahrheit sagen können, und die Wahrheit von „uns“, aber auch wie wir also, ohne zu warten, diese zugrunde gelegte Wahrheit des wir verraten, in Abrede stellen und desavouieren, als Meineid schwören, abstreiten, verleugnen, ihr abschwören können.
„Probably“, „maybe“, „perhaps“: Die ethische Strenge und die Erfindungen von J. Hillis Miller
Wie stellt man es an? Wie sagt man es? Ich würde diesen Text hier gern dem Gesetz der Gattung „Hommage“, und sei sie noch so ernst gemeint, und dem wohlbekannten akademischen Schauplatz entziehen: Ein langjähriger Freund und Kollege widmet einem berühmten Kollegen und Freund einen Essay, einem einflussreichen und ausgezeichneten Professor, dessen Werk er mit anderen zusammen grüßen will, eines der reichsten und eindrucks-vollsten Werke, die ihm im Laufe seines Lebens zu achten gegeben waren. Überdies fühle ich mich nicht fähig, auf wenigen Seiten hier meine Bewunderung und meine Dankbarkeit für Hillis Miller zu ermessen, und noch weniger fähig, eine miteinander geteilte Geschichte zu erzählen, ich würde sagen eine Gefährtenschaft – die außerdem in ihren großen öffentlichen Zügen meistenteils bekannt ist: dreißig Jahre schattenloser Freundschaft, gemeinsamer Arbeit, Seite an Seite gegangenen Weges – „teaching“ and „reading“, wie es in der Passage aus The Ethics of Reading heißt, die als Motto zitiert ist – in denselben Institutionen, John Hopkins, Yale, Universität von Kalifornien, Irvine, so viele private und öffentliche Begegnungen, so viele Tagungen und all dies durchzogen von einer so tiefen Übereinstimmung in dem, was Hillis Miller The Ethics of Reading nennt und vielleicht, wenn ich es zu sagen wagen würde, „Ethics“ kurzum. Daher hielt ich nach langem Kalkül schließlich die folgende Wahl für richtiger: Was ich Hillis Miller anbieten und von der Lektion inspiriert, die ich wie so viele andere von ihm erhalten habe, ihm zu lesen und zu beurteilen geben möchte, ist die möglichst anspruchsvolle, aber auch die zitterndste Interpretation einer gewissen „Geschichte“.
Diese „Geschichte“ ist nicht irgendeine. Sie war der unseren nicht fremd, ihr war eben das, ihr war eben der nicht fremd, der andere Freund, der „zwischen uns“ war, ich habe soeben Paul de Man genannt. Sie ist der indirekte Gegenstand eines récit, sagen wir einer Narration. Einer literarischen Narration, einer „Fiktion“, wie man