Die Todesstrafe I. Jacques Derrida

Die Todesstrafe I - Jacques  Derrida


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den Tod“3 zu stoßen, oder auf die Spur unzählbarer literarischer oder poetischer Werke, die Verbrechen und Strafe4 in Szene setzen, sowie jene Bestrafung, die man die Todesstrafe [peine de mort] nennt. All das gibt es natürlich, und wir werden daran denken, ich hätte jedoch eine zugespitztere Hypothese zu dem, was die Geschichte der Literatur und die Geschichte der Todesstrafe verbinden, assoziieren oder dissoziieren kann. Diese Hypothese wird langsam und auf diskontinuierliche, vorsichtige und sorgsame Weise der Prüfung unterzogen werden, zweifellos, in ihren gröbsten Zügen liefe sie jedoch auf Folgendes hinaus: Wenn die Geschichte der allgemeinen Möglichkeit, des weitesten Feldes der allgemeinen Bedingungen der Möglichkeit epischer, poetischer oder belletristischer Produktionen im Allgemeinen (nicht der Literatur im strengen und modernen Sinne) die Legitimität oder die Legalität der Todesstrafe voraussetzt oder mit ihr Hand in Hand geht, nun, dann ist im Gegensatz dazu die kurze, strikte, moderne Geschichte der Institution namens Literatur im Europa der letzten drei oder vier Jahrhunderte zeitgenössisch mit und nicht zu trennen von einer Bestreitung der Todesstrafe, von einem Kampf um ihre Abschaffung, der zwar nicht überall gleich, der heterogen und diskontinuierlich ist, gewiss, aber auch irreversibel und tendenziell weltumspannend als einmal mehr verbundene Geschichte der Literatur und des Rechts, sowie des Rechts auf Literatur. Eine Entsakralisierung, die sich auf komplexe und widersprüchliche Weise, wie in der Geschichte der Vergebung, von der Szene und der Autorität des Exodus und der göttlichen Strafe freimacht. Ich überlasse diese Hypothese hier ihrer gröbsten und gewagtesten Formulierung, wir werden Gelegenheit haben, über sie zu diskutieren und auf sie zurückzukommen. Um diese Hypothese zu stützen, werde ich als Argument nicht die Tatsache anführen, dass zahlreiche der eloquentesten und überzeugtesten Reden/Diskurse [discours] zugunsten einer Abschaffung der Todesstrafe im Rahmen dessen, was ich die literarische Moderne nenne, das heißt in der Literatur im strikten Sinne, von Schriftstellern und Dichtern wie zum Beispiel Shelley, Hugo oder Camus geführt wurden. Das sind nur Indizien, die ich nicht als Argument anführen werde (umso mehr, als es auch Gegenbeispiele gibt, wie Wordsworth, der zugunsten der Todesstrafe schrieb). Aber diese Indizien haben es verdient, zunächst als Indizien angezeigt zu werden; anschließend werden wir versuchen, uns diesen Texten zu nähern.

      Hier nun die erste Seite von Notres-Dames-des-Fleurs, sie beginnt mit einem Eigennamen (das ist nicht das einzige Beispiel bei Genet: Die Wände begannen ohne Satz mit dem Ausruf eines Namens, der ein Eigenname und ein Gattungsname zugleich ist: „Rose! Warda“5). Hier ist es Weidmann. Das ist der erste Name einer Liste von berühmten zum Tode Verurteilten, die vom Erzähler besungen, gedenkend erinnert, man muss sogar sagen glorifiziert werden, glorifiziert, denn es geht dabei um eine „Glorie“ (Sie werden das Wort „Glorie“ erklingen hören, das heißt das Wort für ein leuchtendes Strahlen, einen Glanz [lustre], eine Aura, eine Aureole, einen Lichtschein über ihrem Haupt wie bei Christus, aufgrund ihrer Exekution, bisweilen ihrer Enthauptung6). Weidmann, das erste Wort, der erste Name des Buches, das ist auch der Moment einer Erscheinung, einer Vision. Genet oder der Erzähler hat eine Vision dieser zum Tode Verurteilten, und diese Vision ist die Vision eines spektakulären Spektakels, einer ebenso theatralischen wie gespenstischen [spectrale] Erscheinung – und Genet hat in seinem Theater bekanntlich viel mit Gespenstern gespielt („Weidmann vous apparut [Weidmann erschien euch]“, das sind die drei ersten Worte des Buches) –, und wenn ich diese Liste der Toten auf dem Feld der Ehre der Todesstrafe, dieser Märtyrer und dieser Heiligen vorlese, hebe ich gewisse an Christus gemahnende Züge hervor, die auf perverse Weise an Christus gemahnen, aber mit einer Perversität, die vielleicht eine alles durchdringende christliche Wahrheit [pervérité] sowohl offenbart, als auch verrät. „Ich bin die Wahrheit [vérité], Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch mich.“7 Hier zunächst der erste Satz:

      Weidmann, den Kopf umwickelt mit weißen Leinenbinden, Nonne oder verletzter, in Roggenfelder gefallener Flieger, erschien Euch in einer Fünf-Uhr-Ausgabe [also eine Erscheinung in den Medien, ein Sehen [vision], das bereits Fern-Sehen [télé-vision] ist, auf einem Zeitungsphoto, bei dieser Erscheinung, die auch das Erscheinen einer Zeitung im Moment eines Erscheinens vor Gericht ist, bilden das Theatralische und das Mediale eine Einheit: keine Todesstrafe ohne Phänomenalität eines Erscheinens] an einem Septembertag ähnlich dem, an dem der Name von Notre-Dame-des-Fleurs bekannt wurde.8

      Ich halte einen Augenblick bei diesem ersten Satz inne. Ich muss sagen, dass ich mich selber an diese Photographie erinnere. Das ist hier aber nicht wichtig. Was zählt, ist nicht nur das Wort „Nonne [réligieuse]“, das die verehrungswürdige Sakralität dieser Erscheinung, dieser Vision ohne Umweg erklärt, die Sakralisierung, die sich dieses zum Tode verurteilten Mörders in seinem öffentlichen, theatralischen und faszinierenden Bild unmittelbar bemächtigt. Man befindet sich unmittelbar [immédiatement] im sakralen Element eines Erscheinens, das vor Religiosität, religiöser Feierlichkeit erstarrt ist. Genauer gesagt geht es jedoch um die Analogie mit Christus, so als ob Notre-Dame-des-Fleurs, als ob das Buch, das diesen Titel trägt, ein apokryphes fünftes Evangelium nach Johannes/Jean (Genet) wäre, die Analogie mit Christus also, im Gedenken an Christus, eine Analogie, die mittels dieser „weißen Leinenbinden“ markiert wird, die jemanden, einen Mann, umwickeln, die buchstäblich an jene „Leinenbinden“ erinnern, mit denen, diesmal im echten Johannesevangelium, in Kap. 19, Vers 40, der Leichnam9 Jesu umwickelt wurde. Was sagt der Text von Johannes/Jean, ich meine vor allem Johannes den Evangelisten? Folgendes, nach der Beschreibung der Marter, wie man jenen, die zusammen mit Jesus gekreuzigt wurden, die Beine zerschlug. Jesus war bereits tot, man hat ihm die Beine nicht zerschlagen, sondern ein Soldat hat mit seiner Lanze seine Seite durchbohrt, aus der Blut und Wasser flossen. Johannes sagt:

      Josef aus Arimathäa war ein Jünger Jesu, aber aus Furcht vor den Juden nur im Verborgenen. Er bat Pilatus, den Leichnam Jesu abnehmen zu dürfen, und Pilatus erlaubte es [Pilatus, der Repräsentant des römischen Staates, wird in diesem ganzen Prozess also die Rolle der Macht innegehabt haben, die es sich, trotz eines gewissen Widerwillens, der religiösen Forderung der Gemeinde und des Sanhedrin nachzukommen, zur Aufgabe macht, den Tod, die Vollstreckung der Strafe und die Behandlung des Leichnams, zu organisieren; der Text fährt fort]. Also kam er und nahm den Leichnam ab. Es kam auch Nikodemus, der früher einmal Jesus bei Nacht aufgesucht hatte. Er brachte eine Mischung aus Myrrhe und Aloe, etwa hundert Pfund. Sie nahmen den Leichnam Jesu und umwickelten ihn mit Leinenbinden, zusammen mit den wohlriechenden Salben (elathon oun to sōma tou jesou kai edesan auto othoniois [othonion, das ist ein Wäschestück, zerzupfte Leinwand oder ein Schleier] meta tōn aromatōn; auf Lateinisch: Acceperunt ergo corpus Jesu, et ligaverunt illud linteis cum aromatibus [linteum, das ist ebenfalls Leinwand, ein Schleier, ein Stoff, ein Gewebe]) […].10

      Othonion oder linteum also, was man meistens mit bandelettes („Leinenbinden“) übersetzt, weil man bei den Juden den Leichnam in der Tat damit umbindet, indem man ihn einwickelt, indem man ihn mit Binden umwickelt, die dem ähneln, was man bei Verletzten Druckverband [bandes velpeau] oder bei Säuglingen Windeln [langes] nennt. Indem er das Wort „bandelettes/Leinenbinden“ wählt, um Weidmanns Gesicht zu beschreiben, das ich also in den Zeitungen selber mit Leinenbinden umwickelt gesehen habe, scheint mir Jean (Genet diesmal) einen christologischen Wink zu geben in Richtung Jean/Johannes des Evangelisten (oder in Richtung Lukas, der sich für dieselbe Szene derselben Wörter bedient11), und das scheint in vielerlei Hinsicht bezeichnend zu sein. Nicht nur, weil sich das ganze Buch Notre-Dame-des-Fleurs (ja sogar die ganze Literatur von Genet) in allgemeiner, massiver, konstitutiver Weise von den Evangelien, vom Geist der Frohen Botschaft durchtränken lässt, und mit christlichen Notierungen und Konnotationen spielt, mögen sie auch pervers oder ikonoklastisch sein – das Werk ist eine Performance eines christlichen antichristlichen Ikonoklasmus, eines Eidbruchs und eines Abschwörens, das von eben dem fasziniert ist, was es zu Literatur wendet [tourne en littérature], wie man sagen würde, etwas ins Lächerliche zu ziehen [tourner en dérision] –, sondern genauer, lokaler gesehen, auch deshalb, weil das Buch Notre-Dame-des-Fleurs die Passion der zum Tode Verurteilten besingt (Sie wissen, dass es ein langes Gedicht von Genet gibt, das das den Titel Der zum Tode Verurteilte trägt und ebenfalls 1945 veröffentlicht


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