Die Todesstrafe I. Jacques Derrida

Die Todesstrafe I - Jacques  Derrida


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Herr Gerichtsschreiber Le Breton näherte sich mehrmals dem Verurteilten, um ihn zu fragen, ob er etwas zu sagen habe, was er verneinte. Bei jeder Peinigung schrie er so unbeschreiblich, wie man es von den Verdammten sagt: ‚Vergebung mein Gott! Vergebung, Herr!‘ Trotz all dieser Schmerzen hob er von Zeit zu Zeit das Haupt und besah sich unerschrocken. Die Seile, die von den Menschen so fest angebunden und gezogen wurden, bereiteten ihm unaussprechliche Schmerzen. Der Herr Le Breton trat noch einmal zu ihm und fragte ihn, ob er nicht etwas sagen wolle; er sagte nein. Die Beichtväter näherten sich ihm und sprachen lange zu ihm; er küßte gerne das Kruzifix, das sie ihm darboten; er schob die Lippen vor und sagte immer: ‚Vergebung, Herr!‘ […].“43

      Eine Frage des kapitalen, des Haupt-Titels also. Warum ein Seminar über die Todesstrafe in oder unter dem Titel eines Seminars über die Vergebung und den Eidbruch einschreiben?

      Aus einem allerersten Grund, der selbstverständlich zu sein scheint. Obwohl wir die letzten Jahre viel auf der Tatsache insistierten, dass die Vergebung, im Unterschied zum Eidbruch, dem juridischen Raum fremd, der Straflogik gegenüber heterogen ist (trotz einiger struktureller und wesentlicher Komplikationen, wie zum Beispiel dem Begnadigungsrecht, welches das Recht durch die souveräne Ausnahme, die es ihm einprägte [y marquait], begründete, ich werde nicht darauf zurückkommen), nun, trotz dieser radikalen Heterogenität der Semantik der Vergebung gegenüber der Semantik des Rechts und der Strafjustiz, kommt man nicht umhin, die Todesstrafe (als gesetzliche Einrichtung, als Strafsanktion, die vom Staat innerhalb der Ordnung eines Rechtsstaats administriert wird, wodurch die Todesstrafe behauptet, ich wiederhole es insistierend, behauptet, in ihrem Konzept, ihrer Zielrichtung, ihrer Vorgabe etwas ganz anderes zu sein als ein Mord [meurtre], als ein Verbrechen oder eine Tötung im Allgemeinen), nun, trotz all dem kommt man also nicht umhin zu denken, dass die Todesstrafe da, wo sie zusammen mit dem Leben des Beschuldigten jeglicher Perspektive von Revision, Loskauf, Erlösung, ja sogar Reue irreversibel ein Ende setzt, zumindest auf Erden und für einen Lebenden, dass die Todesstrafe also eben da bedeutet, dass das Verbrechen, das durch sie sanktioniert wird, auf der Erde der Menschen [terre des hommes] und in der Gesellschaft der Menschen auf immer nicht-vergebbar [im-pardonnable] bleibt. Ein Opfer kann, in seinem Herzen, einem zum Tode verurteilten und exekutierten Angeklagten vergeben, gewiss, die Gesellschaft aber – oder das juridische Dispositiv –, die oder das zum Tode verurteilt und zur Exekution schreitet, ja sogar das Staatsoberhaupt oder der Gouverneur, die über das Begnadigungsrecht oder das right of clemency verfügen und dieses dem Angeklagten verweigern, diese Gesellschaft, diese solcherart repräsentierte soziale Hierarchie vergibt nicht mehr. Alles geschieht so, als ob diese Mächte dekretierten, dass das angelastete Verbrechen auf immer nichtvergeben [impardonné] bleiben müsse: Die Todesstrafe bedeutet in dieser Hinsicht das Unsühnbare oder das Nichtvergebbare, das irreversibel Nichtvergebene. Die Vergebung, die Macht, zu vergeben, wird Gott überlassen. „Pardon, Seigneur [Vergebung, Herr].“44

      Zweite Sitzung

      15. Dezember 1999

      Was ist eine Ausnahme [exception]?

      Mehr als ein Mal haben wir letztes Jahr auf dem absoluten Ausnahme-Charakter insistiert, den die Vergebung behalten müsse, eine Vergebung, die dieses Namens würdig ist, eine Vergebung, die immer unvorhersehbar ist und weder auf die Feststellung [constat] noch auf den Vertrag [contrat], das Bestimmungsurteil oder das Gesetz reduziert werden kann, eine Vergebung also, die immer außerhalb des Gesetzes steht, immer heterogen ist gegenüber der Ordnung, der Norm; gegenüber der Regel oder dem Kalkül, der Regel des Kalküls, dem ökonomischen Kalkül ebenso wie dem juridischen Kalkül. Exzeptionell muss, exzeptionell sollte jede Vergebung sein, die dieses Namens würdig ist, wenn es denn je eine gibt, das ist im Grunde genommen das Gesetz der Vergebung: Sie ist es sich schuldig, ohne Gesetz und exzeptionell zu sein, über den Gesetzen oder außerhalb der Gesetze zu stehen.

      Es bleibt jedoch die Frage: Was ist das, eine Ausnahme? Kann man diese Frage stellen? Gibt es ein Wesen der Ausnahme, einen adäquaten Begriff dieses unterstellten Wesens?

      Man kann das bezweifeln, und dennoch gebrauchen wir dieses Wort ganz geläufig, so als ob es eine gesicherte semantische Einheit besäße. Wir tun regelmäßig so, als ob wir wüssten, was eine Ausnahme ist, oder, genauso gut, was keine Ausnahme ist, als ob wir über ein passendes Kriterium verfügten, um eine Ausnahme oder den Ausnahmecharakter einer Ausnahme, im Grunde genommen die Regel der Ausnahme zu identifizieren, die Regel, um zwischen dem Exzeptionellen < und > dem Nicht-Exzeptionellen zu unterscheiden – was terminologisch jedoch absurd oder widersprüchlich zu sein scheint. Gleichwohl spricht man üblicherweise von der Ausnahme, von der Ausnahme von der Regel, oder von der Ausnahme, die die Regel bestätigt; es gibt sogar ein Ausnahmegesetz, es gibt Ausnahmegesetze, Ausnahmetribunale usw.

      Ich wette, dass diese Problematik der Ausnahme uns nicht mehr loslassen wird und dass sie zweifellos die vertrauenswürdigste Verbindung zwischen der Frage der Vergebung, des Eidbruchs und der Todesstrafe sein wird. Das ist es zumindest, was ich heute oder morgen, beim nächsten Mal, im Jahre 2000, zu zeigen beginnen möchte, auf beziehungsweise nach einem gewissen Umweg.

      Denn an diesem Punkt meiner Einführung angekommen, frage ich mich, welchen Leitfaden ich bevorzugen soll, um mich im Wald der Probleme und im riesigen und dichten Archiv der Todesstrafe zu orientieren. Schon allein die begriffliche Abgrenzung ist eine furchteinflößende Vorbedingung. Es ist einfach, vielleicht zu einfach – wenn man auch in der Tat damit beginnen muss –, daran zu erinnern, dass die Todesstrafe ein juristischer Begriff ist, der sich insofern, als er in den Bereich des Strafrechts, das heißt eines Ensembles von berechenbaren Regeln und Vorschriften fällt, vom singulären Mord [meurtre] und von der partikulären Rache unterscheidet und de jure, also im Prinzip, die Intervention eines Dritten impliziert, einer Schiedsinstanz, die den Parteien eines Streifalls gegenüber fremd oder ihnen übergeordnet ist, also par excellence oder zumindest virtuell die Instanz eines Staates, einer Institution juridisch-staatlichen, juridisch-politischen Typs, ja sogar einer Staatsräson, einer Rationalität, eines logos mit allgemeinem beziehungsweise universellem Anspruch, einer juridischen Vernunft [raison], die sich über die Parteien, über das Partikularinteresse und die Leidenschaft, das pathos, das Pathologische und den individuellen Affekt erhebt. Der Eindruck von Kälte, von eiskalter Empfindungslosigkeit, der uns angesichts des Diskurses, des Urteilsverfahrens oder des Vollstreckungsrituals der Todesstrafe häufig überkommt, dieser Eindruck von leichenhafter Kälte oder von Starrheit [rigueur] als rigor mortis, das ist auch oder zunächst Ausdruck dieser Macht oder dieses Machtstrebens der Vernunft; das ist die Behauptung einer unerschütterlichen Rationalität, die sich über das Herz, über die unmittelbare Leidenschaft [passion] und über die individuellen Beziehungen zwischen den Menschen aus Fleisch und Blut erhebt, das ist also jene Verbindung zwischen der Vernunft, der allgemeinen Rationalität und der Maschine, der Maschinenhaftigkeit ihres Wirkens. Sämtliche Diskurse, die die Todesstrafe legitimieren, sind zunächst Diskurse der staatlichen Rationalität mit universellem Anspruch und universeller Struktur,


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