Weiter leben!. Christine Leutkart
ihrem Bettchen lag und ich ihr was zum Einschlafen vorsang. Irgendwann fragte sie: „Wo ist die Mama?“ Ich antwortete: „Die Mama kann nicht mehr kommen. Sie ist gestorben.“ „Ja, warum?“ Sie wusste nicht, was das bedeutet. Da hatte ich einen Kloß im Hals.
Gespräche mit den Erzieherinnen über Saskias Situation gab es keine. Sie wussten alle Bescheid, aber keine hat mich angesprochen: Über alles hat man geredet, aber darüber nicht.
Später hatte ich verschiedene Freundinnen. Steffi mochte ich besonders gern, sie war Lehrerin und hat Saskia auch in der Schule geholfen. Sie hat aufgedeckt, warum Saskia morgens immer zu spät in den Unterricht kam. Die Lehrer dachten ja alle, ich würde es nicht auf die Reihe kriegen und jeden Tag mein Kind zu spät bringen. Aber es war so, dass Saskia, nachdem wir uns an der Eingangstür verabschiedet hatten, erst mal aufs Klo ging und dort mindestens eine Viertelstunde blieb. Natürlich war sie dann zu spät dran!
Beim Spazierengehen traf ich mal einen Bekannten, der sagte: „Am besten ist es, dass du so schnell wie möglich wieder eine Frau findest!“ Aber wer sollte das sein? Es gab keine, die zu mir und Saskia gepasst hätte. Die Steffi hätte schon gepasst, aber sie hatte ein behindertes Kind und musste sich auch um dieses kümmern. Das war ungefähr sechs Jahre nach Kerstins Tod und mit Steffi und mir ging es vielleicht drei Jahre. Steffis behindertes Kind war immer die Heilige und Saskia immer die Böse. Irgendwann hat es gereicht, da habe ich meine Kleine geschnappt und wir sind wieder gegangen.
Die Sicht auf Leben und Tod bekomme ich nicht, weil ich um jemanden trauere. Über meinen eigenen Tod oder über den des Kindes habe ich deshalb nicht mehr oder anders nachgedacht. Ich wollte weiterleben. Wenn jemand gestorben ist, dann kann man nichts mehr machen, dann ist er eben weg. Die Kirche hat mir keinen Trost gespendet, das war alles Blabla. Musik hat mir geholfen oder Leute, die mal Saskia genommen oder was mit uns zusammen gemacht haben. Über die Musik sind Freundschaften entstanden. Das Singen an sich macht Freude, da bin ich bei der Sache, das Selbstmitleid ist weg. Das hilft. Erik Claptons „Tears in Heaven“ gibt es auch auf Deutsch „Jenseits der Zeit“: „Wenn ich heute sterbe und werde in einer Milliarde Jahren wieder aufgeweckt, dann wache ich wieder auf – die Zeit zählt nicht.“ Mein Bewusstsein ist, dass es keine Zeit gibt, vielmehr existiert sie nur, solange man lebt. Bis zu einer Wiedergeburt können Milliarden von Jahren vergehen, aber du siehst es als ein „im Nu“.
Das Lied löste Trauer aus, und es zu spielen, tat mir gut. Es erlaubte mir, traurig zu sein.
Zu Kerstins Geburtstag zünde ich manchmal Kerzen an und spiele für sie Gitarre. Dann sage ich: „Das ist für dich!“ Komisch, lange Zeit habe ich ihren Geburtstag verpasst, irgendwann habe ich wieder damit angefangen und nun steht ihr Termin in meinem Kalender.
Wenn ich mit Saskia, Freunden und deren Kindern zusammen war, war das immer schön für mich und sie. Heute ist meine Tochter 22 Jahre und wir haben eine enge Verbindung.
Aber so eine Partnerin wie Kerstin habe ich bisher nie wiedergefunden.
Für mein Leben wünsche ich mir, dass ich weiterhin Musik machen und Saskia unterstützen kann. Ich hätte gern eine neue Beziehung, die Hoffnung gebe ich nicht auf. Vielleicht brauche ich eine Frau, die ernsthaft gute Musik macht. Ob das hilft?
MIT MUT UND KRAFT
DAS LEBEN NEU ORDNEN
Frau B., 78 Jahre alt, drei Töchter, hat zwei Ehemänner krankheitsbedingt verloren. Ihre Tatkraft und positive Grundeinstellung halfen ihr bei der Bewältigung, Angebote für Trauerbewältigung gab es in den 1960er und 1980erJahren kaum.
Die Trauer begleitet einen ein ganzes Leben lang, ich denke oft darüber nach. Meine Erfahrungen betreffen den Verlust eines Partners in jungen Jahren und den eines Partners in reiferen Jahren. Ich bin Teil eines Frauenkreises, wir sprechen viel über dieses Thema, und ich stelle immer wieder fest: Jede empfindet anders, jede trauert anders, jede bewältigt es anders. Außerdem glaube ich: Wer einen starken Glauben hat, der kann sein Schicksal anders annehmen. Dann kann man immer weitermachen, egal, wie weit unten man ist.
Meine Mutter ist mit 46 Jahren an einer ganz gewöhnlichen Gallensteinoperation wegen einer falschen Behandlung verstorben. Ich hatte einen elfjährigen Bruder, eine 19-jährige Schwester und mein Vater besaß eine große Landwirtschaft. Ich war öfters mit den Nerven ganz am Ende, weil wir einfach nicht wussten, wie es weitergehen sollte. Das hat mich sehr geprägt. Ich habe ganz bewusst einen Mann geheiratet, der krank war. Zu der Zeit war ich schon mit ihm zusammen, und meine Mutter hat immer gefragt: „Willst du dir das wirklich antun?“ Aber ich habe gesagt: „Er ist so ein toller, liebenswerter Mann. Warum soll nicht auch er das Glück erleben?“
Er war ein Bild von einem Mann! Als wir uns kennenlernten, war ich 18 und er 26; und als er starb, war ich 24. Er war in der Zeit x-mal im Krankenhaus. Er ließ sich in der Schweiz behandeln, denn hier wäre er gleich verstorben; die Boecksche Krankheit (heutige Bezeichnung: Sarkoidose, bei der Gewebeknötchen [Granulome] überall im Körper entstehen und Entzündungsreaktionen hervorrufen, die die Organe schädigen; besonders die Lunge ist betroffen) war in Deutschland kaum bekannt. Er wurde mit Cortison behandelt, das es damals nur in der Schweiz gab. Seine Eltern hatten ein gutgehendes Geschäft und konnten sich die Behandlung leisten, aber: Das Cortison war nicht gereinigt, es war ein Urprodukt. Daraufhin bekam er Geschwülste.
1963 haben wir geheiratet, nachdem man ihn ermutigt hatte: „Alles ist gut!“ Ich hatte mich noch erkundigt, ob dem Wunsch nach Kindern nichts im Wege steht, aber es hieß, das sei nur eine Infektionskrankheit. Es war unser beider große Liebe, sie schlug ein wie ein Blitz! So haben wir beschlossen, wir machen es einfach. Kaum zu glauben, aber ab der Hochzeit war mein Mann drei Jahre lang nicht mehr krank! Er hat gearbeitet und wir haben unsere zwei Mädchen bekommen. Es war eine schöne, erfüllende Zeit. Im selben Jahr, als unsere zweite Tochter auf die Welt kam, waren wir wie so oft bei meinen Schwiegereltern. Es war warm und schön, mit einem blauen, weiten Himmel. Das Letzte, was er sagte, war: „So ein wunderschöner Abend!“ Am Gartentor fing er an zu husten. „Ich geh schon mal rein, huste dich aus“, sagte ich und ging nach den Mädchen schauen in der Hoffnung, dass sie nicht aufwachten. Dann zog ich meinen Schlafanzug an, als es plötzlich in mich fuhr: „Wo ist er? Da stimmt doch was nicht!“ Auf dem Flur kam er mir torkelnd entgegen. „Schatz, was ist?“, fragte ich. „Den Doktor“, bat er. Ich rannte zu den Schwiegereltern gerade so, wie ich war. Später sah ich, dass er in der Waschküche die Lunge ausgeblutet hat – aber er hatte nichts gesagt! Dabei dachten wir doch, es sei alles gut. Als er starb, waren die Mädchen eineinhalb Jahre und drei Monate alt. Ich war verzweifelt, hatte Existenzängste – mein Lebenstraum war mit einem Mal zu Ende. Alles brach zusammen. Im Nachhinein kann ich das Positive sehen: Weil Kinder da waren, hatte ich keine Zeit zum Trauern.
Ich versuchte, mit Mut und Kraft das Leben neu zu ordnen. Die Zukunft musste entwickelt werden, egal wie; das eigene Ich rückte total in den Hintergrund. Ich dachte nur: „Ich muss für die Kinder da sein!“ Hätte ich nicht meine Eltern und die Schwiegereltern gehabt, wie hätte ich überleben können mit den Kindern? Ich musste mit 400 DM auskommen. Alles habe ich selber gestrickt, gehäkelt, genäht. Von meinem Vater habe ich Naturalien bekommen, ich musste nichts kaufen. Meine Kinder haben keine Milch getrunken, die Schwiegereltern haben immer Malzbier gekauft, das hätte ich mir gar nicht leisten können. Wenn man heute immer sagt: Milch und Muttermilch – alles Quatsch! Meine sind mit Malzbier großgeworden.
Arbeiten, planen – wie geht es weiter? „Mein Gott, jetzt haben wir niemanden mehr“, jammerten meine Schwiegereltern. „Wie bitte? Ihr habt doch mich!“, widersprach ich. An jenem Abend habe ich den beiden versprochen, dass ich sie ihr ganzes Leben lang nicht alleinlassen werde. Sie hatten uns so viel geholfen und waren immer für ihren Sohn da. Meine Schwiegermutter wollte eigentlich nicht mehr leben, das war schlimm. 1966 ist mein Mann verstorben, und 1970 ist meine Schwiegermutter tödlich verunglückt. Keiner weiß, warum sie allein im Schneesturm über die Straße und in ein Auto gelaufen ist. Der Fahrer hat gesagt, er habe niemanden gesehen. Von da an habe ich 25 Jahre meinen Schwiegervater versorgt. Mit Geschäft, Garten – nein, zwei Gärten, zwei Häuser! 25 Jahre lang kam er hierher zum Essen. Ich machte nie Urlaub, nichts. Ich habe nur alle versorgt.