Leichter Atem. Iwan Bunin

Leichter Atem - Iwan Bunin


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Augen, und sein Bart ist elegant in zwei lange Hälften geteilt und ganz silbrig. Zum Tee saßen wir auf der verglasten Veranda, und da mir war, als wäre ich nicht ganz gesund, legte ich mich auf die Ottomane, er rauchte und setzte sich zu mir, sagte mir wieder allerlei Liebenswürdigkeiten, besah sich dann meine Hand und küßte sie. Ich bedeckte das Gesicht mit einem seidenen Tuch, und er küßte mich mehrmals durch das Tuch hindurch auf den Mund … Ich begreife nicht, wie das geschehen konnte, ich habe den Verstand verloren, ich hätte nie gedacht, daß ich so eine sein könnte! Jetzt bleibt mir nur ein Ausweg … Ich empfinde eine solche Abscheu ihm gegenüber, daß ich nicht mehr leben kann! …«

      Die Stadt ist in diesen Apriltagen wieder sauber und trocken, die Steine sind wieder weiß, es ist bequem und angenehm, auf ihnen zu gehen. Jeden Sonntag nach dem Gottesdienst geht eine kleine Frau in Trauerkleidung, mit schwarzen Glacéhandschuhen und einem Schirm mit Ebenholzgriff über die Sobornaja-Straße, die zur Stadt hinausführt. Sie passiert die Feuerwache, überquert den schmutzigen Platz, an dem etliche rauchgeschwärzte Schmieden stehen und vom Feld her ein frischer Wind weht; zwischen dem Mönchskloster und dem Gefängnis schimmern weiß der bewölkte Himmelsbogen und grau das Frühlingsfeld; schlüpft man dann hindurch zwischen den Pfützen an der Klostermauer und wendet sich nach links, sieht man eine Art großen, niedrigen Garten, eingefaßt von einer weißen Mauer, über deren Tor die Entschlafung der Gottesmutter gemalt ist. Die kleine Frau bekreuzigt sich diskret und geht der Gewohnheit folgend die Hauptallee hinunter. Wenn sie die Bank gegenüber dem Eichenkreuz erreicht, setzt sie sich, Wind und Frühlingskälte trotzend, für ein, zwei Stunden hin, bis ihre Füße in den leichten Schuhen und die Hände in den schmalen Handschuhen völlig durchfroren sind. Während sie den Frühlingsvögeln lauscht, die auch in der Kälte lieblich singen, und dem Klang des Windes im Porzellankranz, denkt sie zuweilen, daß sie ihr halbes Leben geben würde, wenn sie dafür nicht diesen Totenkranz vor Augen haben müßte. Der Gedanke, daß man Olja Meschtscherskaja in diesem Lehm vergraben hat, versetzt sie in ein an Apathie grenzendes Erstaunen: Wie soll man die sechzehnjährige Gymnasiastin, die noch vor zwei, drei Monaten so voller Leben, Liebreiz und Heiterkeit war, zusammenbringen mit diesem Lehmhügel und diesem Eichenkreuz? Ist es möglich, daß darunter diejenige liegt, deren Augen aus diesem bronzenen Medaillon heraus so unsterblich strahlen, und wie läßt sich mit diesem klaren Blick jenes Entsetzliche in Einklang bringen, das nun mit dem Namen Olja Meschtscherskaja verbunden ist? In der Tiefe ihrer Seele aber ist die kleine Frau glücklich, so wie alle verliebten oder überhaupt einem leidenschaftlichen Wunschtraum ergebenen Menschen.

      Diese Frau ist Olja Meschtscherskajas Klassendame, ein Fräulein jenseits der dreißig, die seit langem mit ihren Phantasien lebt, die ihr das wirkliche Leben ersetzen. Zuerst war ihr Bruder der Gegenstand ihrer Phantasie, ein armer, unscheinbarer Fähnrich – sie hatte ihre ganze Seele mit ihm verbunden, mit seiner Zukunft, die sich ihr, warum auch immer, in leuchtenden Farben darstellte, und in der seltsamen Erwartung gelebt, ihr Schicksal würde dank ihres Bruders eine märchenhafte Wendung nehmen. Nachdem er in der Schlacht bei Mukden2 gefallen war, hatte sie sich eingeredet, daß sie zu ihrem großen Glück anders sei als die anderen, daß Geist und höhere Interessen ihr Schönheit und Weiblichkeit ersetzten und sie eine Arbeiterin des Geistes sei.

      Der Tod von Olja Meschtscherskaja hält sie mit einem neuen Traum in Bann. Nun ist Olja Meschtscherskaja der Gegenstand ihres unablässigen Sinnens und Trachtens, ihrer Begeisterung und Freude. Sie geht an jedem Sonn- und Feiertag zu Oljas Grab – die Gewohnheit, zum Friedhof zu gehen und Trauer zu tragen, hat sie nach dem Tod des Bruders angenommen –, blickt stundenlang unverwandt auf das Eichenkreuz, denkt an Olja Meschtscherskajas bleiches Gesichtchen im Sarg, inmitten von Blumen, und daran, was sie einmal zufällig mitangehört hatte: Einmal in der großen Pause, als sie im Garten des Gymnasiums spazierengingen, hatte Olja Meschtscherskaja ihrer besten Freundin, der fülligen, hochgewachsenen Subbotina, hastig zugeflüstert:

      »In einem von Papas Büchern – er hat viele altertümliche, komische Bücher – habe ich gelesen, was die Schönheit einer Frau ausmacht … Weißt du, da steht so allerlei, man kann sich gar nicht alles merken: schwarze Augen natürlich, wie siedendes Pech – wahrhaftig, so steht es da: siedendes Pech! –, nachtschwarze Wimpern und ein zart schimmerndes Wangenrot, eine schlanke Statur, außergewöhnlich lange Hände – verstehst du: außergewöhnlich lange! –, ein kleiner Fuß, eine ausreichend große Büste, eine ebenmäßig gerundete Wade, das Knie in der Farbe von Muschelschalen, abfallende, aber kräftige Schultern – vieles weiß ich fast auswendig, so sehr trifft das alles zu! – vor allem aber, weißt du was? – ein leichter Atem! Den habe ich doch – höre nur, wie ich atme – nicht wahr, den habe ich?«

      Nun ist dieser leichte Atem wieder verweht in der Welt, in diesem wolkenverhangenen Himmel, in diesem kalten Frühlingswind …

      Es fließt der Fluß zum Meer, es vergeht ein Jahr ums andere. Jedes Jahr grünt zum Frühling hin der graue Wald über den Flüssen Dnjestr und Reut3.

      Vor einhundert Jahren war der Frühling nicht schlechter, aber es gab weniger Gerechtigkeit auf der Welt. Damals herrschten in Moldawien die Stambuler Türken, auf den moldawischen Thron hatten sie Griechen als Gospodaren4 gesetzt. Der Gospodar lebte wie ein Sultan, der Bauer, der Grundbesitzer wie ein Gospodar, und der Steuerinspektor, der Serdar5, wie Gospodar und Bauer zusammen. Für das Volk und für den Christusglauben standen allein die Gotsen.

      Schau einmal, heißt es im Volk, schau in der Dunkelheit über den Fluß, wenn du nachts am Ufer entlangreitest: Dann siehst du die Felsen, die dunkle Höhle im steilen Hang, und in der Höhle einen Stoß glimmender Kohle. Aber es ist keine Kohle, es ist altes Münzgold. Der Eingang zur Höhle ist schmal, hat eine steinerne Schwelle. An der Wand zur Linken ein steinerner Rauchfang, an der Wand zur Rechten ein steinernes Lager. Oberhalb davon Nischen: Darin standen einst die heiligen Ikonen. Über jeder Nische ist eine schwarze, eiserne Halterung in den Fels geschlagen: In diesen Halterungen glommen die Öllämpchen vor den Ikonen. Das verwunschene Gold ist auf dem Boden in der Mitte gehäuft: Nicht alles konnte er mehr verteilen, der Gotse, der Recke, der in dieser uralten Zelle lebte, die vor ihm einem Eremiten Obdach gewesen war, einem Gottesmann. Das treue Roß war am Flußufer entlanggetrottet, unterhalb der Felsen. Den Gotsen selbst – möge seine sündige Seele dem Herrn gefallen! – trugen Adler auf breiten Schwingen zur Rast in die Höhle.

      Dieser Gotse war kein Talgar, kein Räuber: Er brach den Pharaonen-Pferdedieben6 die Beine, beraubte allein die Reichen, behielt von der Beute nur den hundertsten Teil und verteilte das Übrige an die Besitzlosen, er tötete nur, um sich zu verteidigen, und mittwochs und freitags fastete er. Weißt du, welche Tracht er trug? Die gleiche, wie jeder Hirte sie trägt: Leder an den Füßen, Pluderhosen und ein Hemd aus Leinen, im Gürtel ein Messer, Pistolen und einen Flachmann – eine Feldflasche, vornehm ausgedrückt –, auf dem Kopf eine Schaffellmütze, um die Schultern einen weiten Umhang aus Schafwolle, auf dem Rücken einen kurzläufigen Karabiner. Er selbst war stattlich wie eine Pappel und kräftig wie eine Eiche, stark wie ein Wolf, furchtlos wie eine Kugel, listig wie eine Schlange, schnell wie die Gedanken, feurig wie die Liebe, treu wie das Schicksal, gegenüber den Armen großzügig und sanft, gegenüber den Mächtigen unerbittlich; kräftig und abfallend waren seine Schultern, breit die behaarte Brust, schmal die Taille, der Schnurrbart rotbraun und lang, das Gesicht wie Gold und Bronze, die Augen klares Feuer.

      Im zehnten Jahr seiner Heldentaten ging der Gotse in der Heiligen Osternacht zum Gebet in Gottes Kirche.

      Er hatte fünfzehn Griechen getötet – du kennst sie doch: Gibt man zehn Türken, zehn ungetaufte Juden und zehn räudige Hunde in die Kelterei, fließt das Blut eines Griechen; er hatte dreißig Serdare ausgeraubt – waren sie doch reicher als der Fürst selbst und hatten den Armen Kreuz und Hemd als Zins abgenommen; er hatte im Wald einen türkischen Polizeichef abgefangen und ihn mit einem Pferdehufeisen beschlagen; er hatte einhundertzwanzig Lieder komponiert, vierzig Faß bessarabischen Wein getrunken, in Schenken und auf Hochzeiten getanzt; er besaß ein rotbraunes Pferd, schnell wie der Wind, schlau wie ein Fuchs, das nie lahmte, nie schwitzte, obwohl es klein von Wuchs war und nervös tänzelte – wann also hätte der Gotse in die Kirche gehen sollen? Neun Jahre lang war er nicht in der Kirche gewesen, obgleich er nicht weniger an Gott gedacht hatte als du und


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