In den Drachenbergen. Wolf Awert

In den Drachenbergen - Wolf Awert


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Merjinas Sohn

      Sonstige Personen in NA-R und Umgebung

      TORSO: Gestaltwandler und Froschmensch von gewaltiger Sprungkraft

      PALUDA: Torsos Tochter

      AUFPASSER: Verwalter der Bergbausiedlung

      SEELE DES AUSGLEICHS: seine Begleiterin

      HORNFINGER: (hist.) vergessener Expeditionsleiter der Waldelfen

      DER WANDERER: ein Wesen aus der Welt der Toten

      ZWEI GEISTER: Wesen der Vergangenheit im Dunklen Viertel

      Personen in Centrell

      BLAUER DREISPORN: Bewohnerin des Hauses Blau

      BLAUER SCHLAFMOHN: Freundin von Blauer Dreisporn

      BARIONSTAB: Familienältester des Hauses Barion

      Was bislang geschah

      Tamalone hat das Angebot bekommen, in der Bürgerwehr zu dienen. Sie hat es angenommen, weil sie hofft, dadurch leichter einen Weg ins Elfenviertel zu finden. Der Auftrag, ein Päckchen auszuliefern, entpuppt sich als Falle, der sie nur knapp mit Aureons Hilfe entkommt. Der flieht mit ihr in das Viertel der Toten. Dort erfährt sie, dass ihre leibliche Mutter noch lebt und vielleicht sogar im Elfenviertel wohnt. Tatsächlich findet sie ihre Mutter und ihre Stiefgeschwister, von denen sie bisher nichts gewusst hat. Sie ist sich nicht sicher, ob sie willkommen ist und hätte jetzt Pandos Hilfe gebraucht, aber der durfte das Viertel der Elfen nicht betreten.

      Tamalone

      Was für eine Nacht! Als Tama am Morgen aufwachte, waren ihre Erinnerungen so undeutlich wie die Bilder in einem Teich, wenn der Wind die Wasseroberfläche kräuselt. Trotzdem hörte sie noch immer Pando heulen und toben und musste nun mit der Gewissheit leben, dass ihr einzig wirklicher Freund sie nicht mehr erreichen konnte. Das tat weh und schmerzte sie umso mehr, als ihr klar wurde, dass sie weder bei ihrer leiblichen Mutter noch bei ihren neu gefundenen Stiefgeschwistern willkommen war. Sie vertrieb den Schmerz mit ihrem Willen und ersetzte ihn durch Trotz. Aureons tröstenden Arm wischte sie weg, aber sein Lächeln ließ ihre Abwehr schwinden. Er tat ihr gut und brachte etwas Freude zurück. War sie jetzt tatsächlich bereits zum zweiten Mal in seinen Armen aufgewacht? Sie drehte sich schnell von ihm weg, als die Wärme der Verlegenheit ihre Wangen rötete.

      „Komm, aufstehen!“, rief sie. „Der Tag riecht schon reif.“

      „Was du riechst, nennen wir Frühstück.“ Aureon lachte. „Und was machen wir heute?“

      Tama wurde von einem auf den anderen Augenblick ernst, als Aureons Frage die Nacht zurückbrachte. „Nichts“, sagte sie kühl. „Ich kehre in das Viertel des Handwerks zurück. Versuch gar nicht erst, mir das auszureden.“

      Das Frühstück hatten die beiden für sich, denn Altwi und Tamas Stiefgeschwister waren früher aufgestanden als sie und schon lange mit dem Frühstück fertig.

      „Schau, sie läuft immer noch herum“, sagte Tama und zeigte auf die Schildkröte, die mit ihren stampfenden Schritten magische Muster in den Boden trat. „Haben diese Muster überhaupt eine Bedeutung? Gestern war es ein Pentagramm, heute ist es eine Girlande.“

      Aureon zuckte mit den Achseln. „Frag Altwi, oder noch besser ist es, du fragst du Neven. Keiner in der Familie kennt die Schildkröte besser als sie.“

      Ein tiefes Rumpeln ließ sie aufschrecken. Doch als diesem Geräusch nichts weiter folgte, kehrten Tamas Gedanken wieder zu der Schildkröte zurück. Wie am gestrigen Abend sprach das Tier zu ihr, und wie am gestrigen Abend ergaben die Sätze nur wenig Sinn. Manchmal bin ich bei dir, hörte sie und: Was beschäftigt dich? Ganz ernst wie ein ausgesprochenes Urteil dann der nächste Satz: Du brauchst mehr Kraft. Und beinahe eine Verheißung war: Warte auf mich, ich komme zu dir. Es waren wechselnde Stimmen mit unterschiedlichen Klangfarben. So als ob die Schildkröte nur ein Gefäß für etwas anderes wäre. Tama war sich noch nicht einmal sicher, dass diese Gedanken für sie allein oder überhaupt für sie bestimmt waren.

      Wer bist du, dessen Stimme ich in mir höre? Oder bist du es selbst? Sie richtete ihre Gedanken auf die Schildkröte.

      Bald bin ich wieder bei dir. Habe Geduld.

      Tama hatte keine Geduld. Nicht an einem Morgen wie heute. Nicht nach einer solchen Nacht. Da half auch Aureons Lächeln nicht, der ihr schweigend zusah.

      Die Erde schüttelte sich, kurz nur, doch es reichte, um das Gleichgewicht zu verlieren, Holz ächzte, Balken bogen sich. Glas zersprang. Irgendwo rieselte Mörtelstaub auf die Erde. Dann war wieder alles ruhig. Altwi schrie von irgendwo her: „Raus aus dem Haus!“

      Jetzt standen sie auf der Straße. Die Natur war beängstigend still, wenn man einmal von den erregten Stimmen der Menschen und Komposits absah. „Noch nie so nah gewesen …“, verstand Tama.

      „Lasst sie reden. Das beruhigt“, sagte Altwi. „Wir warten den nächsten Stoß noch ab. Dann gehen wir wieder hinein.“

      „Woher willst du wissen, dass es nur noch einen weiteren Stoß gibt“, wollte Tama wissen, die ihren Vorsatz, mit Altwi kein Wort mehr zu sprechen, im Angesicht einer größeren Gefahr schnell wieder vergessen hatte.

      „Es sind immer zwei Stöße“, sagte Altwi, was, wie jeder wusste, völliger Unsinn war. Aber nun war nicht die Zeit, über so etwas zu streiten. Dann erbebte die Erde ein zweites Mal. Schwächer, aber dafür länger.

      „So, das war’s. Und jetzt wieder rein. Ich hasse es, wenn man nicht richtig stehen kann“, schimpfte Altwi. Dann schickte sie ihre Kinder durch das Haus. „Schaut nach, ob etwas zerstört wurde.“ Ruhig und gelassen nahm sie alles hin.

      Tama schlug das Herz noch immer hoch oben im Hals. „Was war das?“, fragte sie mit einem Zittern in der Stimme.

      „Unsere Welt ist wütend und verzweifelt wegen ihrer eigenen Machtlosigkeit. Irgendwann werden die Beben so stark sein, dass nichts mehr stehen bleibt. Aber noch ist es nicht so weit. Jedenfalls hoffen wir das alle. Sicher dürfte sich allerdings niemand mehr sein. Es ist mehr Hoffnung als Wissen.“

      Tama verstand nicht, warum Altwi nicht mehr sagen konnte. Aber wenn ihre Mutter nicht wollte, dass sie verstanden wurde, dann war das eben so. Schließlich ging nichts von dem, was im Elfenviertel passierte, Tama wirklich etwas an. Die Familie hatte sie sprechen wollen, sie hatten sich gesprochen, und das war es. Altwi war ihre leibliche Mutter, und es war gut zu wissen, dass es sie gab und wie sie aussah. Ein leerer Fleck ihrer Erinnerung war nun ausgefüllt, hatte Umrisse und Farbe bekommen. Dass ihre Mutter offensichtlich nichts von ihr wissen wollte, war zwar nicht schön, aber auch nicht zu ändern. So einfach war das. Sie würde so tun, als mache ihr das nichts aus. Ganz kühl würde sie reagieren. Mindestens genauso kühl wie ihre Mutter.

      Dass ihr bei diesen Gedanken eine Träne die Wange hinunterlief, bemerkte Tama nicht und die anderen auch nicht. Die waren mittlerweile zurückgekommen und sammelten jetzt gemeinsam Scherben auf. Baerben hatte einen Besen mitgebracht und fegte den Staub zusammen. Das waren keine Tätigkeiten, bei denen man den Kopf hoch hielt.

      Als Tama ankündigte, dass sie nun gehen wolle, und sich für die Gastfreundschaft bedankte, ging ein Ruck der Überraschung durch die Gruppe. Aureon protestierte halbherzig, bat sie zu bleiben. Ihre Stiefgeschwister redeten auf sie ein, aber für Tama waren das alles leere Worte. Argenton schüttelte mit Bedauern im Blick den Kopf und Paluda starrte mit großen Augen ins Leere.

      „Du bist sicher, dass du nicht noch etwas bleiben will?“, fragte Altwi.

      „Ja, ich bin sicher. Ich weiß jetzt, dass du meine leibliche Mutter bist. Um das zu erfahren, bin ich gekommen. Mutterliebe habe ich nicht erwartet, Hass oder Abscheu auch nicht. Und habe keine Sorge, ich werde dir nicht zur Last fallen. Wo ich nicht willkommen


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