Menschwerdung eines Affen. Heike Behrend

Menschwerdung eines Affen - Heike Behrend


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zu Kommentaren und Witzen, die meine Eitelkeit verletzten und mein Selbstbild nicht unbedingt stärkten. Überhaupt verfügten meine sehr genau hinsehenden Beobachter über einen erstaunlichen Interpretationsreichtum, der den meinen bei Weitem übertraf und (leider) mit ihm nicht deckungsgleich war. Doch gerade weil ich ihren ästhetischen Vorstellungen so wenig entsprach und ihnen – zumindest anfangs – so fremd war, griffen sie auf ihre Regeln der Höflichkeit und Gastfreundschaft zurück, die mir über lange Zeiträume hinweg zu vergessen gestatteten, wie sie mich sahen. Ihre Wahrheitsliebe erlaubte ihnen nicht, mir (falsche) Komplimente zu machen. Aber wenn es genug zu essen gab, schoben mir die Frauen manchmal kleine Fleischstücke extra zu, damit ich »fett und ansehnlich« würde.

      Obwohl ich gegen das Bild, das sie von mir hatten, letztlich nicht ankam, gewöhnten sich meine Verwandten, Nachbarn und vor allem die Kinder im Verlauf meiner Aufenthalte langsam an mich – und ich mich an sie. Ich passte mich an, veränderte mich in ihre Richtung und verlor wenigstens teilweise meinen exotischen Ausstellungswert. Meine vorsichtigen Vorstöße, mein Selbstbild ein Stück weit zurückzugewinnen, indem ich zum Beispiel das Haar wieder ein wenig offener trug und auf die Zöpfe verzichtete, wurden kommentarlos hingenommen.

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      Am Berliner Institut für Ethnologie hatte ich mit Adornos Kritik der empirischen Sozialforschung gelernt, der quantitativen Forschung grundsätzlich zu misstrauen. Ich stellte also den Ältesten, nachdem ich die wichtigsten Themen gefunden zu haben meinte, vor allem qualitative Fragen, und erst später begann ich, auch quantitativ zu arbeiten. Dass dies die passende Vorgehensweise war, wurde mir klar, als ich versuchte, die Kolonialzeit aus der Perspektive der Ältesten zu rekonstruieren. Denn wie mir Kipton erzählte, hatten die Europäer ihre Herrschaft mit der Forderung etabliert, dass die Bewohner der Tugenberge für »die Regierung« zu zahlen hätten. Regierungsbeamte oder die von ihnen eingesetzten Häuptlinge begannen, Rinder und Ziegen zu zählen. Sie zählten auch Häuser, Kinder und Erwachsene. Danach mussten die Gezählten Steuern zahlen, zuerst in Form von Naturalien, später in Form von Geld. Auch andere Älteste erzählten, dass das Gezähltwerden mit Zwangsabgaben und kolonialer Kontrolle einherging. Vielleicht als Reaktion darauf, vielleicht aber auch als bereits althergebrachtes Verbot versuchten die Bewohner der Tugenberge jegliche Form von Quantifizierung zu vermeiden. Zwar kannten alle die Anzahl der eigenen Ziegen, Rinder und natürlich auch der Kinder ganz genau, aber darüber zu sprechen oder sogar die Zahl zu nennen, galt nicht nur als unhöflich, sondern war geradezu eine Herausforderung, aus Neid dem Reicheren Schaden zuzufügen. Hätte ich also angefangen, die Häuser, Tiere und ich weiß nicht was zu zählen, dann hätte ich mich sehr direkt in die Tradition kolonialer Herrschaftspraktiken gestellt. Die Erhebung quantitativer Daten wäre auf Kosten jener Versenkung ins Detail erfolgt, die gerade den Reichtum und die Subversion ethnografischen Wissens ausmacht.

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      Zum ethnografischen Unternehmen gehört wesentlich die Übersetzung. Sie stellte sich als ein überaus schwieriger Prozess heraus, nicht nur für mich, sondern für alle Beteiligten. Unsere Not war groß. Besonders anfangs wurde das Übersetzen zu einem Übersetzen an ein anderes Ufer, das kaum bekannt war. Es gab Irrfahrten und mitunter auch Schiffbruch.8 Manchmal wurde mir angesichts der unumkehrbaren Fremdheit zwischen den Sprachen schwindelig. Bevor ich Naftali Kipsang kennenlernte, hatte ich bereits in Kabartonjo mit einem jungen Mann als Übersetzer gearbeitet, der recht gut Englisch sprach und die Grundschule besucht hatte. Er war sehr freundlich und höflich und wollte mir vor allem gefallen. Seine Vorstellung von Übersetzung bestand darin, mir mehr oder weniger unabhängig von dem, was unser Gesprächspartner sagte, zu erzählen, wovon er meinte, es erfreue mich. Ich versuchte ihm zu erklären, dass es darum ging, möglichst genau – Wort für Wort – das vom Gesprächspartner Gesagte ins Englische zu übertragen, unabhängig davon, ob es mir gefiel oder nicht. Er verstand und war enttäuscht. Kipsang dagegen las englische Literatur und hatte sich mit dem Problem der Übersetzung durchaus beschäftigt. Er wusste auch, dass das Missverständnis wesentlich dazugehört. Meine Fragen verstand er auf seine Weise; manchmal übersetzte er sie so, dass die Antwort des Ältesten in nichts daran anknüpfte. Oder mein Gesprächspartner missverstand Kipsangs Übersetzung meiner Frage und antwortete entsprechend erratisch. Die Kette der Übersetzungen – der Fragen wie der Antworten – erinnerte mich oft an »Stille Post«, ein Spiel, das ich als Kind gern gespielt hatte. Es dauerte seine Zeit, bis wir in konkreten Sprachsituationen und Kontexten durch wechselseitiges Nachfragen, lange Diskussionen, Einübung und Wiederholung einen gemeinsamen Wortschatz aufgebaut hatten, der die Basis für neue Themen lieferte. Doch gerade die vielfältigen Missverständnisse ließen manchmal neue, unvorhersehbare Themen und Fragen aufscheinen, an die ich nie gedacht und die ich deshalb auch nicht hätte erfragen können. Tatsächlich ging es mir vor allem darum, vor dem Hintergrund von Benjamins Theorie der Übersetzung die fremde Sprache und ihre Übersetzung als eine Form von Produktion zu begreifen, die die Fremdheit nicht völlig auflöst, sondern als eine Art Ergänzung und Bereicherung in die eigene Sprache überführt, die ihrerseits verfremdet wird. Ich wollte also eine »Tugenisierung« und damit eine Bereicherung und Erweiterung der deutschen Sprache erreichen.

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      Um die richtigen Fragen zu finden, kam mir manchmal auch der Zufall zu Hilfe. So erfuhr ich anlässlich eines Streits von der zyklischen Geschichtsvorstellung der Ältesten, die sowohl ihre Lebenszeit als auch ihre Geschichte zu einem Kreislauf bogen, in dem sich die Ereignisse wiederholten. In der Literatur, die ich zur Vorbereitung gelesen hatte, war von dieser Geschichtsauffassung keine Rede; ich hätte also nicht danach fragen können. Zufällig, bei einer Unterhaltung einiger Ältester, erfuhr ich von ihrer Erwartung, dass die Europäer wieder ins Land kommen und die Regierung übernehmen würden. Ich fragte vorsichtig nach, und es stellte sich heraus, dass ich richtig verstanden hatte. Die Großmutter eines der Anwesenden hatte die Rückkehr der Europäer und damit die Wiederkehr der Kolonialzeit prophezeit. Mit dem schlechten Gewissen der Ethnografin, die um die Verstrickung von Kolonialismus und Ethnologie weiß, protestierte ich heftig und versuchte zu erklären, dass die Europäer kein Interesse daran hätten, Kenia erneut zu kolonialisieren. Mit meinem Einspruch machte ich mich unbeliebt; die Ältesten ärgerten sich. Einer von ihnen wies mich scharf zurecht und sagte, ich wisse gar nichts, bei ihnen in den Tugenbergen würden die Ereignisse nicht nur einmal geschehen, sondern zweimal, dreimal, viele Male. Darauf begann ich, mich für ihre Vorstellung von Zeit und Geschichte zu interessieren.

      Die Bewohner der Tugenberge teilten ein zyklisches Altersklassensystem mit ihren Nachbarn, das nicht nur als Integrationsmaschine für die Aufnahme von Fremden diente, sondern auch wesentlich ihre Zeit- und Geschichtsvorstellung bestimmte. Das Altersklassensystem lieferte ihnen die Kategorien, ihre Gesellschaft und Geschichte zu denken. In den Tugenbergen gab es acht Altersklassen mit je einem eigenen Namen. Altersklassen sind soziale Gruppen, die Männer und Frauen hierarchisch gliedern und den Fluss der Zeit markieren. Mit der Initiation in eine der acht Altersklassen verordneten die Ältesten, »denen die Welt gehört«, die »soziale Geburt« von jungen Frauen und Männern unterschiedlichen Alters; als »Gleichaltrige« durchliefen sie dann zusammen die verschiedenen Stadien des Lebenszyklus. Nach etwa 100 Jahren, wenn alle Ältesten einer Altersklasse gestorben waren, wurden die Jungen, ihre Urenkel, in die verwaiste Altersklasse initiiert, und ein neuer Zyklus begann.

      Gleichnamigen Altersklassen wurden gemeinsame Eigenschaften zugesprochen, zum Beispiel besonders friedfertig oder kriegerisch zu sein. Diese Eigenschaften wiederholten sich, wenn die entsprechende Altersklasse im nächsten Zyklus die Macht übernahm. Gleichzeitig wurden die jungen Mitglieder einer Altersklasse als Wiederkehr der alten angesehen. Und die Ältesten erwarteten, dass auch die Ereignisse, die zur Zeit der »Herrschaft« einer bestimmten Altersklasse stattgefunden hatten, sich im neuen Kreislauf wiederholen würden. In gewisser Weise geschah das auch, weil die Ältesten sie nach dem ihnen überlieferten Muster interpretierten und danach handelten.

      Doch kannten sie auch eine Möglichkeit, dem Zwang der Wiederholung zu entgehen. Aingwo erklärte mir, dass die Ältesten auf otin – »Tradition«, »Vergangenheit« oder »Geschichte« – schlagen, so wie sie nach einem schlechten Traum auf eine Ziegenhaut zu schlagen pflegen, um durch den Lärm die Gedanken an den Traum zu vertreiben.


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