Europa. Hannes Hofbauer
gelungen, »Europa« einem Bedeutungswandel zu unterziehen. Heute werden mit dem Begriff Helligkeit und Zukunft assoziiert, als ob die Sonne im Westen aufginge und das Dunkel im Asiatischen läge.
In der griechischen Mythologie, also der die Welt erklärenden Erzählung, kommt »Europa« als Frauengestalt vor, die von Göttervater Zeus, der in Gestalt eines Stiers auftritt, geraubt und geschwängert wird. Hier verbinden sich griechische mit phönizischen Gründungsmythen. Denn die von Zeus entführte Europa war die Tochter (oder Schwester) von Phoinix, dem Stammvater der Phönizier. Zeus zeugte mit ihr auf Kreta drei Söhne. Frauenraub war über Jahrtausende eine gängige Praxis, um die Reproduktionskapazitäten eines Stammes zu stärken. Dass der Raub und das anschließende Schwängern der Europa in der Literatur und auf bildlichen Darstellungen (Europa und der Stier) seit der griechischen Antike fast durchwegs als dynamisch und glücksbringend dargestellt wird, zeugt von der seit damals dominanten patriarchalen Gesellschaftsstruktur. Man könnte die mythologische Figur der Europa aber auch als eine von der stärksten Macht, dem Göttervater, verschleppte und vergewaltigte Frau zeichnen. Dies ergäbe – schon von der Altertumserzählung her – ein anderes Europabild.
Wo Europa geographisch zu verorten ist, änderte sich im Zeitenlauf stark. Einem Bericht des Geschichtsschreibers Herodot aus dem 5. Jahrhundert v. u. Z. verdanken wir die vielleicht erste konkrete Territorialisierung. Herodot berichtet über einen Streit zwischen Perserkönig Xerxes und seinem Ratgeber und Onkel Artabanos. Letzterer will im Jahr 480 v. u. Z. einen persischen Feldzug gegen die Griechen verhindern, weil er große Verluste befürchtet, und warnt Xerxes: »Mein König! Es ist billig, daß ich Dir sage, was ich von dem Krieg befürchte. Den Hellespontos willst du überbrücken und das Heer durch Europa nach Hellas führen.«1 In dieser Quelle taucht Europa als Landstrich zwischen den Dardanellen (Hellespontos) und Griechenland (Hellas) auf. Tatsächlich war »Europós« damals als Bezeichnung für zwei Städte in Makedonien sowie einen Fluss in Thessalien in Gebrauch,2 während Herodot nur 30 Jahre später in seiner um 445 v. u. Z. erschienenen Landkarte die Welt in drei großen Blöcken zeichnete: Europa, Asia, Libya, wobei letzteres für damals bekannte afrikanische Gebiete steht.
Als Grenze zwischen Europa und Asia nimmt Herodot den Fluss Tanaïs (Don) sowie das Asowsche Meer an, fragt sich aber zugleich, wozu es überhaupt nötig sei, »drei Erdteile Libya, Asia und Europa zu unterscheiden«.3 Die Frage, wo Europa in Hinblick auf die eurasische Landmasse aufhört und wo Asien beginnt, treibt seit dem Altertum nicht nur Geographen um. Ein Blick auf die heutige Weltkarte könnte einem ob der aktuellen wirtschafts- und geopolitischen Verschiebungen zu der Ansicht verleiten, Europa wäre auch geographisch gesehen nur ein »Vorgebirge des asiatischen Kontinents« bzw. »eine Halbinsel Asiens«, wie der französische Philosoph Paul Valéry anmerkte.
Die Neuzeit hatte der Grenzziehung zwischen Europa und Asien, wie sie von Herodot vorgenommen wurde, nichts Wesentliches hinzuzufügen. Der bekannte kaiserliche Diplomat Sigismund von Herberstein vermerkte zur Mitte des 16. Jahrhunderts: »Tanais oder Don ist ein namhafftiger bekandter fluß, welcher Europam von Asia absünderet.«4 Das Russland östlich davon zählte Herberstein zu Asien. Erst im 18. Jahrhundert einigten sich westeuropäische und russische Experten auf Gebirge und Fluss Ural als Ostgrenze Europas, wobei bis heute der genaue Verlauf nicht zuletzt aufgrund von Achsenverschiebungen des Gebirges umstritten ist. Eine allgemein anerkannte Grenzlinie fehlt auch im Kaukasus zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer. Landvermesser kommen heutzutage auf 10,5 Millionen Quadratkilometer Land, die sie zu Europa rechnen.
Mit seiner Begriffsbestimmung und territorialen Festlegung hat der Erdteil für uns allerdings noch keine Bedeutung gewonnen. Was macht Europa aus? Wer bedient sich seiner? Und warum scheitern Europapläne immer wieder? Solchen Fragen wollen wir uns in diesem Buch widmen und hoffen, damit der vorherrschend apologetischen Debatte ein wenig historische Wirklichkeit und notwendige Nüchternheit entgegensetzen zu können. Denn es ist sicher nicht ausreichend, Europa als Teil des Zivilisationsprozesses zu definieren, wie es Norbert Elias vorgeschlagen hat.5 Eine solche Wahrnehmung läuft auch Gefahr, ein Europabild weiterzutragen, das sich Jahrhunderte lang als ein den Orientalen und den Barbaren zivilisierendes Projekt verstanden hat, um damit seinen expansiven Drang zu legitimieren. Seit der Kolonisierung Amerikas im 16. Jahrhundert hatte sich Europas Präsenz in der Welt in Form von Forts und Stützpunkten manifestiert, mit denen Handelsnetze über ganze Weltregionen gesponnen wurden.6 Europäisierung galt damals als Kontrolle der Schifffahrt und des Handels, Einwanderung weißer Abenteurer und Siedler mit dem nicht seltenen Effekt der Ausrottung einheimischer Bevölkerungen. Zugleich sorgte Kapitalexport aus den europäischen Zentralräumen Spaniens, Portugals, den Niederlanden, Frankreichs und Großbritanniens für Normierungen im wirtschaftlichen, rechtlichen und später kulturellen Bereich.
Vor diesem Hintergrund können wir uns nicht damit zufrieden geben, Europa dort zu sehen, »wo Menschen von Europa reden und schreiben, wo Menschen Europa malen oder in Stein meißeln, oder anders ausgedrückt, wo Menschen Europa imaginieren und visualisieren …«, wie der Historiker Wolfgang Schmale schreibt.7 Derlei postmoderne Zuschreibung hat zwar den Vorteil, dass sich jede und jeder sein Bild von Europa selbst anfertigen kann, einer allgemeinen, kollektiven Erkenntnis ist damit jedoch nicht gedient.
Demgegenüber stellt der Kultursoziologe Wolfgang Geier trocken fest: »Europa war in der Vergangenheit und ist in der Gegenwart als ›Einheit‹, als Ganzes, ein ›imaginärer Kontinent‹, eine Utopie oder Vision, eine in vielen Ausformungen erscheinende Antizipation eines möglicherweise gar nicht erreichbaren Zustandes«.8 Und die Wiener Historikerin Andrea Komlosy beantwortet die Frage, wo Europas Identität geistesgeschichtlich gefunden werden kann, mit der radikalen Feststellung: »Eine (…) Kontinuitätslinie stellt die Tatsache dar, dass Europa niemals eine politische oder kulturelle Einheit dargestellt hatte. Gleichwohl war die Vielfalt von Staaten und Kulturregionen, die sich als europäisch verstanden, stets mit dem Anspruch einzelner Teilregionen konfrontiert, als Pars pro Toto zu definieren, was als ›Europa‹ bzw. ›europäisch‹ zu gelten habe.«9 Im Umkehrschluss wird damit auch klar, was bzw. wer – je nach Zeitpunkt – als nicht-europäisch galt: Barbaren, Heiden, orthodoxe Christen, Muslime, Kommunisten, Nationalisten etc.
In Europa prallen seit alters her unterschiedliche Hemisphären aufeinander, mögen sie religiös, politisch oder ökonomisch inspiriert sein. Wie zu keinem anderen Kontinent gehören zu Europa Trennungen und Teilungen, die über Jahrhunderte in Kriegen, Friedensschlüssen, Verträgen und wieder Kriegen zum Ausdruck kommen. Auch heute wieder scheitert solch ein Vertrag an der Wirklichkeit. Die Europäische Union kann ihren europäischen Anspruch nicht erfüllen.
1 Herodot, Historien, Deutsche Gesamtausgabe, Buch VII. Stuttgart 1971
2 Wolfgang Schmale, Geschichte Europas. Wien-Köln-Weimar 2001, S. 21
3 Herodot, zit. in: Wolfgang Geier, Europabilder. Begriffe, Ideen, Projekte aus 2500 Jahren. Wien 2009, S. 8
4 Sigismund von Herberstein, Rerum moscoviticarum commentarii (erschienen 1567), zit. in: John Hale, Die Kultur der Renaissance in Europa. München 1994, S. 39
5 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bern 1969
6 Andrea Komlosy, Europa und seine Grenzen, in: Thomas Ertl/Andrea Komlosy/Hans-Jürgen Puhle (Hg.), Europa als Weltregion. Zentrum, Modell oder Provinz? Wien 2014, S. 18
7 Schmale, S. 14
8 Geier 2009, S. 10
9 Komlosy 2014, S. 30