Der Reiher. Giorgio Bassani
Callegarinis, Patrignanis, Tagliatis und so fort im ganzen Delta zwischen Ferrara und der Küste gemeint, unter denen es seit mehr als einem Jahr gärte und die immer wieder neue Forderungen an die Grundbesitzer stellten. Oder aber sie wußte Bescheid, und dann bedeuteten ihre Worte die Aufforderung an ihn zu sprechen, sich ihr zu eröffnen und ihr seine Sorgen anzuvertrauen.
Aber gerade diese Aussicht erfüllte ihn plötzlich mit einigem Schrecken. Sich Nives anvertrauen! Und was hätte er ihr eigentlich sagen sollen?
»Hör dir einmal an, was mir gestern abend Ragionier Prearo gesagt hat«, fuhr Nives fort. »Folgendes hat er mir erzählt …«
»Darum geht es ja nicht«, unterbrach er sie. »Aber ich möchte nicht gern noch zehn Kilometer weiter fahren müssen. Und wenn es regnet, riskiere ich obendrein, im Schlamm steckenzubleiben.«
Mit einer jähen Bewegung richtete er sich auf, trat vom Bett und wandte sich zum Gehen.
»Wenn du noch nach fünf unterwegs bist, dann gib auf den Nebel acht, hörst du?« rief sie ihm mit lauter Stimme nach.
Er drehte sich kaum um, mit einer Handbewegung, die sie mahnen sollte, nicht solchen Lärm zu machen.
»Schon gut. Ja, ich habe verstanden.«
Seitdem sie allein schlief, hatte sie sich nach eigenem Geschmack eingerichtet. Auf ihrem Nachttisch standen neben einem Bild der Hilfreichen Madonna, der die Hauptkirche von Codigoro geweiht war, ein kleiner Radioapparat, ihr Nähkorb, die Fotografien ihrer Eltern und ein Kartenspiel. – Warum, fragte er sich im Hinausgehen, lebten sie noch zusammen, warum trennten sie sich nicht endlich?
Draußen, auf dem Korridor, blieb er wieder einen Augenblick unschlüssig vor der Browning stehen. Er sah auf die Uhr (eine goldene Armbanduhr, eine Vacheron Constantin – auch sie ein Andenken aus der Schweiz): Es war vier Uhr achtundfünfzig. Spät, sehr spät, sagte er sich, und trotzdem … Und plötzlich zog er eine Taschenlampe aus der Jackentasche, ließ das Gewehr am Fenstergriff hängen und ging auf das Zimmer seines Töchterchens zu.
Er löschte das Licht auf dem Gang und knipste seine Taschenlampe an; dann drückte er die Klinke nieder und trat leise und behutsam in das Zimmer. Ja, sich trennen – dachte er, während er sich auf Zehenspitzen in dem vagen Geruch von Talkpuder, Schulheften, Kreide und Bohnerwachs, der immer in diesem Zimmer hing, voranbewegte –, Trennung, das war leicht gesagt. Aber praktisch gesprochen: Wie erreichte man sie? Was würde sie allein an Anwaltshonoraren kosten: nicht gerade wenig. Und wie wollte er, der doch zum Habenichts geworden war, die nötigen Summen aufbringen? Schließlich gehört, wenn ich nicht irre, die Montina immer noch uns, hatte Nives gerade gesagt und dabei die Worte irre und uns besonders betont. Wirklich, sie hätte nichts sagen können, was ihn lebhafter daran erinnerte, wie die Dinge tatsächlich lagen.
Aber abgesehen davon – was würde aus Rory werden?
Vor ihrem kleinen Bett blieb er stehen. Fast ohne zu atmen, während ihm das Herz bis zum Halse schlug, richtete er den Strahl seiner Taschenlampe erst auf den kleinen Weihnachtsbaum, der in einem Topf neben dem Kopfende ihres Bettes stand, dann auf ihren kleinen Körper unter der Decke aus weicher rosa Angorawolle. Er fing bei der winzigen Wölbung der Bettdecke am Fußende an und lenkte dann den Lichtstrahl langsam weiter nach oben, bis zu den Schultern und der unteren Gesichtshälfte. Als er Rory betrachtete, immer wieder überrascht, sie so schön, so lebendig und so kräftig zu finden (doch: Ihr Gesicht hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem eigenen, besonders die Augen – nur daß sie größer waren, sie hatte so große Augen! – und dann die Zeichnung des Mundes), überkam ihn auf einmal eine tiefe Beklommenheit, eine unsagbare Verzweiflung, für die es kein Heilmittel gab. Er wußte nicht, warum. Es war, als habe sich jemand plötzlich, schweigend, auf ihn gestürzt; als habe ihn ein wildes Tier gepackt.
Er beugte sich über das kleine Mädchen und drückte leicht die Lippen auf seine Stirn. Dann verließ er wieder das Zimmer und trat zum drittenmal auf den Korridor hinaus. Er drehte den Lichtschalter und blickte auf die Uhr. Es war fünf Uhr fünf. Er nahm die Flinte vom Fenstergriff, hängte sie sich über die linke Schulter und machte sich auf den Weg. Wenige Sekunden später stieg er mit dem Gefühl, sich in einen Brunnen fallen zu lassen, die große, dunkle, spiralförmige Treppe hinab, die zum Hausflur führte.
3
Es war kalt im Hausflur – eine feuchte, tückische Kälte, bei der man an Brunnen und Keller dachte. Durch die Haustür, die Romeo bereits, Gott weiß, warum, weit aufgemacht hatte, fuhr der Wind in Stößen und brachte den kleinen schwarzen, schmiedeeisernen Kronleuchter an der dunklen getäfelten Decke gefährlich zum Schaukeln.
Der Hausmeister stand bewegungslos in der Tür und blickte, wie es schien, mit gespannter Aufmerksamkeit auf das Haus gegenüber, das vom Flur aus unsichtbar blieb. Was gab es da zu beobachten? Mit seinen runden Schultern – fast war es ein Buckel –, die er ihm hartnäckig zugewandt hielt (als wollte er streiken), schien er nicht nur seine Anwesenheit nicht bemerkt, sondern auch vergessen zu haben, daß er vor dem Aufbruch noch seinen Kaffee haben mußte und daß der Motor wie sonst auch, besonders aber im Winter, langsam, ohne Überstürzung, erst warmlaufen sollte.
Mitten im Hausflur stand, melancholisch-vertraut, seine alte dunkelblaue Aprilia, mit dem Kühler zur halboffenen Gittertür, die auf den Hof führte. Er ging um den Wagen herum und legte die Waffen auf der Truhe ab, die an der dem Treppenhaus gegenüberliegenden Wand stand; dann ging er zum Wagen zurück, öffnete die rechte Tür und setzte sich ans Steuer. Während er sich abmühte, den Motor in Gang zu bringen (der Anlasser wollte nicht gleich funktionieren, was natürlich an der Kälte lag, aber auch an der Batterie, die einfach zu alt war – wie der ganze Rest), wandte er nicht den Blick von Romeo, den er, eine starre, rätselhafte Gestalt, im Rückspiegel beobachtete. Seit fast dreißig Jahren, in denen Romeo seinen morgendlichen Aufbrüchen zur Fahrt aufs Land beiwohnte, hatte er sich noch nie so benommen. Hatte er sich plötzlich geärgert, daß er wieder wie einst noch vor Morgengrauen aufstehen mußte, noch dazu an einem Sonntag? Wollte er ihm das zu verstehen geben? Heutzutage war alles möglich. Dies hier war jedenfalls wieder etwas Neues und nicht besonders Angenehmes.
Endlich, nach einigem Stottern, sprang der Motor an. Behindert durch die Patronentasche, die er um den Leib gebunden trug, beugte er sich mühsam vor und suchte unter dem Armaturenbrett den Gashebel. Als er sich wieder aufrichtete, fand er sich zu seiner Überraschung Auge in Auge mit Romeo. Da stand er vor der Wagentür, leicht gebeugt, als habe er sich vor ihm verbeugt, und sah ihn an, mit einem Blick unter den schweren Lidern hervor, dem Blick einer alten Schildkröte.
»Kommen Sie auf einen Kaffee herein?« fragte er leise.
Er kannte doch den Charakter dieses Mannes durch und durch: Er war rauh, gelegentlich sogar mürrisch, aber von einer Anhänglichkeit und Treue, die jede Probe bestanden hatten. Es war also nicht nur ganz klar – und ihm wurde weit ums Herz, so erleichtert fühlte er sich –, daß Romeo nicht den geringsten Groll gegen ihn hegte, sondern mehr noch: Aus dem unbestimmten Ausdruck von Vergnügen, der um seine Augen zuckte, entnahm er – mochte seine Miene auch beherrscht und gleichmütig wie je sein –, wie froh und zufrieden er insgeheim war, daß er nach so langen Jahren das erstemal wieder auf die Jagd ging.
Er kletterte aus dem Wagen.
»Ist er schon fertig?« fragte er.
Romeo nickte. Mit einer Bewegung des Kinns auf die beiden Jagdgewehre weisend, fragte er, ob er sie im Kofferraum unterbringen solle.
»Wenn Sie mir den Wagenschlüssel geben, packe ich Ihnen das alles in den Kofferraum.«
»Das ist nicht nötig«, antwortete er, bemüht, den kühlen Ton und die gemessene Haltung zu wahren, die ihre Beziehung charakterisierten. »Legen Sie lieber alles auf den Rücksitz. Auch das hier, bitte.«
Er entledigte sich seiner Patronentasche und hängte sie ihm mit dem Riemen über den Arm; dann ging er mit raschen Schritten auf den Lichtschein zu, der durch den Türspalt drang.
Die Wohnung der Manzolis bestand aus drei ineinandergehenden Räumen, die alle in einer Reihe lagen: am einen Ende die Küche mit dem Fenster