e-tot. Uwe Post
Weil es so still in seiner Wohnung ist, schaltet er eine Sitcom an. Dann kocht er Mirácoli.
Tutorial für E-Tod-Newbies: Ihre Rechte
Ihre Rechte sind uns wichtig! Ihre Simulation basiert auf Daten in unseren Systemen. Daten haben vor dem Gesetz keine Rechte. Rechte kann nur der Besitzer der Daten geltend machen, und der sind laut Ihrem E-Tod-Vertrag wir, der Server-Anbieter Ihres Vertrauens. Die Ihnen von uns zugesicherten Zweitrechte – insbesondere das Recht auf Vorhalten Ihrer Daten für den Zeitraum Ihres zahlungspflichtigen Abonnements – verteidigen wir in Ihrem Namen nötigenfalls vor Gericht. Die fälligen Kosten sind durch unsere Rechtsschutzversicherung bis 1 Mio. EUR gedeckt, darüber hinausgehende Beträge müssen wir Ihnen leider in Rechnung stellen.
LEO2
Nachdenklich hockt Leo nackt auf seinem Massagesofa und starrt das Foto an der Wand an. Es zeigt ihn und seine Oma Elisabeth, am Strand, irgendwo, verdammt … Wo war das nur? Am Rhein? Nein … eine Talsperre, irgendwo … Es war warm damals, daran erinnert Leo sich.
Leo hat einen Ölgemälde-Filter über das Foto gelegt, bevor er es dem Inventar seines Wohnzimmers hinzugefügt hat. Das Sofa massiert gerade seinen Nacken, das hilft ungemein gegen die Phantom-Verspannungen, die er den bunten Pillen zu verdanken hat.
So richtig hat sich Leo nie von seiner Oma verabschiedet. Wozu auch? Er ist ja noch da, und auch sie wird ihren baldigen Tod überleben. Schon seltsam, dass er vor ihr verstorben ist. Soweit Leo weiß, konnte sie aber nicht zu seiner Beerdigung kommen. Der Krebs, natürlich.
Mistvieh.
Nein, das ist zu freundlich ausgedrückt.
Nun, letztlich hat die Menschheit den Krebs jetzt ja trickreich besiegt, und das sogar ohne Tierversuche. Leo wird jedenfalls niemals an irgendeinem Tumor sterben. Sondern an einem leeren Guthabenkonto. Es sei denn, ihm fällt in den nächsten 9999 Jahren etwas ein, um das zu vermeiden.
Leo zwingt seine Gedanken zurück zu seiner Großmutter. Sie ist nicht wie er mit Smartphones, VR-Brillen und Netflix aufgewachsen. Womöglich findet sie sich überhaupt nicht zurecht im E-Tod. Manchmal traut sie sich nicht einmal, ihr Tablet einzuschalten, wenn in den Nachrichten mal wieder von einer großen Hackerkrise die Rede gewesen ist. Die Angreifer suchen sich vorzugsweise Ziele mit wenig Fachkenntnissen, und dazu zählt Oma Elisabeth fraglos.
E-Tote werden nicht selten Opfer von Cyber-Vandalismus. Wer sich nicht einigermaßen mit typischen Angriffsmustern auskennt, lebt gefährlich. Vor kurzem hat Leo eine einschlägig bebilderte Einladung zu einer Party mit »echten Thai-Girls« auf einem »exklusiven Dating-Server« bekommen. Der Link in der Nachricht führte allerdings zum Notfall-Selbstabschaltungs-Dienst für E-Tote – der glücklicherweise mit einer ganzen Reihe »Sind Sie sicher?«-Abfragen ausgestattet ist.
Aber man kann’s ja mal probieren …
Trolle! Eine Seuche, gegen die nicht einmal Meuchelmord helfen würde, denn die meisten sind ja schon tot.
Die Lebenden wiederum fühlen sich sicher vor den E-Toten. Diese können nicht bei ihnen vor der Haustür auftauchen und ihnen die Fresse polieren. Nicht einmal eine Anzeige wegen Belästigung oder arglistiger Täuschung könnte Elisabeth bei der Polizei einreichen. Okay, ja, sie könnte es durchaus. Die Anzeige würde in einer schier endlosen Warteschleife landen, weil die hoffnungslos unterbesetzte Abteilung für Cyberkriminalität noch an den Fällen von vor zehn Jahren arbeitet und die Gerichte noch an denen von vor fünfzehn.
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Erschrocken springt Leo von seinem Massagesofa. Er schaut sich um, aber er kann nicht lokalisieren, von wo die Stimme gekommen ist. War sie nicht sogar in seinem Kopf? Nemo und Dorie schauen ihn zwar neugierig an, sind aber immer noch gemutet – sonst fangen sie gelegentlich plötzlich und unerwartet zu singen an.
Leo legt sich die Linke an die Stirn. Fühlt sich nach leichtem Fieber an. Das ist natürlich unmöglich. Erkältung oder viraler Infekt stehen nicht auf der Featureliste seines Servers.
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Verdammt! Leo hat sich einen chinesischen Werbetrojaner eingefangen. Er eilt zum Kühlschrank. Der ist immer das schwächste Glied. »Kaltstart und Schädlinge entfernen!«, befiehlt er dem Gerät.
»Der Neustart entfernt alle derzeit vorrätigen Eiswürfel«, informiert der Kühlschrank kühl. »Der Gegenwert verdorbener und entfernter Lebensmittel wird nicht erstattet.«
»Mach einfach! Schnell!«
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Leo schließt die Augen und atmet tief ein. Er wankt zu seinem Sofa und befiehlt dem Haus, eine Verbindung ins Jenseits (aus seiner Sicht) herzustellen, zu seiner Oma Elisabeth, derzeit wohnhaft im Hospiz »Voller Hoffnung«.
Als die Verbindung steht, erscheint auf dem Bildschirm ein Blumenstrauß. Rosa Rosen, schon leicht verwelkt. Oma hat die Kamera auf ihren Beistelltisch gerichtet. Sicher nicht ohne Grund.
»Oma?«
»Leochen! Lieb, dass du anrufst.« Omas Stimme klingt, als käme sie von der anderen Seite der Galaxis.
»Wie geht’s dir?«, fragt Leo. Und beißt sich im selben Augenblick auf die Lippen.
»Ach, ich kann nicht klagen. Die Männer von YourBackup sind recht amüsant. Alles unfähige Praktikanten.«
»Das ist ärgerlich«, sagt Leo. »Soll ich mal deren Chefs fragen, was der Scheiß soll?«
»Lass nur«, sagt Elisabeth. »Erzähl mir lieber, wie es so ist, bei dir … drüben.«
»Deswegen rufe ich an«, sagt Leo gepresst. »Glaub mir, das ist keine Kirmes hier. Alle versuchen, dich umzubr… zu löschen. Echt schlimm.«
»Schlimmer als der Tod?«
»Es ist der Tod, Oma.«
»Das hatte ich aber anders verstanden, als du mir dieses Weiterleben im Netz ans Herz gelegt hast.«
»Ich wollte dich nicht verlieren«, brummt Leo. Er fühlt sich mit einem Mal schläfrig. Braucht wohl bald eine neue Libelle. Mmh … Eine von den hellblauen vielleicht?
»Und jetzt hast du dir das anders überlegt?«
»Nein!«, versichert Leo eilig. »Nur … was hier los ist, … es könnte dich … vielleicht überfordern.«
Elisabeth schnaubt. »Warte, ich gebe den Hörer meinem Krebs, dann wiederholst du das bitte nochmal.«
»Nein, warte …« Leo verdreht die Augen. »Ich meine nur … Es ist anders, als ich es mir vorgestellt habe.«
»Ich verstehe schon. Dein Tod war ja sicher auch nicht gerade leicht.«
Leo fragt sich, ob seine Oma ihn veralbert. Es wäre nicht das erste Mal. »Sicher bin ich kein gutes Vorbild«, presst er dann hervor. Vielleicht doch eher eine weinrote Libelle mit Erdbeer-Aroma …?
Es entsteht eine kurze Pause. Ein leichter Windstoß bewegt die Rosenblüten, bei Oma ist ein Fenster auf. Leo wirft dem künstlichen Blumenstrauß auf seiner Fensterbank einen traurigen Blick zu. Dessen Blüten bewegen sich niemals, auch nicht bei offenem Fenster.
Wind steht nicht auf der Featureliste dieses Servers.
»Demut