Sammelsurium - Fünf-Minuten-Lektüre. Renate Handge
oder Monaten nicht enden wollender Gedankenakrobatik hin.
Von Gedankenfreiheit und Gedankenfülle berauscht, heißt es jetzt dichten, kreieren, skizzieren, konzipieren, vor-, um-, durch- und ausformulieren, präzisieren, fabulieren, fantasieren, sinnieren, aus- und durcharbeiten, entwerfen, verwerfen, drechseln, ausfeilen, stylen und designen, verknappen!
Nachsitzen!
Hierzu stehen mir kümmerliche sechsundzwanzig Grundbuchstaben, drei Umlaute und das Eszett zur Verfügung, und dennoch reichen sie aus, um das anfängliche Chaos all meiner Emotionen, Eingebungen und Intuitionen zu ordnen und in Worte zu fassen. Dieser Umstand macht mich auf geheimnisvolle Weise bedürfnislos. Nichts weiter ist notwendig, als diese alles in allem gerechneten dreißig Zeichen, mit denen jede Geschichte erzählt und die ganze Welt erklärt werden kann.
Buchstaben formen sich zu Worten, Sätze entstehen, Zeile auf Zeile folgt, Absätze bilden sich heraus, Seiten füllen sich.
Das Gedankengebäude nimmt Form an!
Zwischendurch wieder Buchstabensalat. Noch mal von vorn! Ich verwerfe, erfinde neu, verwerfe und erfinde wieder neu. Ich hadere mit meinem Fötus im Kopf und er mit mir. Ich leide! Er auch!
Vielleicht hilft Buchstabensuppe.
Meine Kopfschwangerschaft durchlebt ansonsten alle Szenarien einer Bauchschwangerschaft.
Ängste, trotz aller fein gewobenen Gedankenfäden eine Missgeburt hervorzubringen, treiben mich um. Eigenartige Esszwänge überfallen mich. Mal esse ich ein Glas saure Gurken leer, dann genieße ich drei Stücke Sahnetorte hintereinander oder verschlinge Unmengen an Eiscreme und Schokolade. Unzählige Gummibärchen hauchen zwischen meinen Zähnen ihr klebriges Leben aus. Mein Kaffeekonsum übersteigt das gesunde Maß.
Natürlich bleibt das Gefühl nicht aus, dass der Kopf anschwillt und es im Magen drückt. Schlaflosigkeit treibt mich um des Nachts. Gereiztheit ist an der Tagesordnung.
Tritte des immer größer werdenden Balgs in meinem Kopf von innen gegen die Gehirnschale bringen mich schier zur Verzweiflung.
Es besteht durchaus die Gefahr, irgendwelchen Drogen zu verfallen. In diesen anderen Umständen, in denen ich mich befinde, könnte unter Umständen ein wenig Gehirndoping die ausgefallensten, verrücktesten, tollkühnsten und poetischsten Wortschöpfungen aus meinen grauen Zellen herauskitzeln, halluziniere ich, verwerfe aber den Gedanken aus den unterschiedlichsten Gründen sogleich wieder.
Notizbücher und Stifte werden zu meinen ständigen Begleitern. Sie befinden sich in Handtaschen, im Auto, neben dem Bett, im Badezimmer, Küche und Wohnzimmer, kurzum überall dort, wo ich gehe, stehe oder liege, damit ich gewappnet bin, eine plötzliche Eingebung jederzeit skizzieren zu können.
Ich bin der Faszination der Buchstaben verfallen. Ich bin ihnen hörig!
In eine missliche Lage bringt mich zuweilen der Umstand, dass mich während meiner anderen Umstände unvorhersehbare Reize für ein weiteres Schreibprojekt überfallen und Gehirnzellen für sich beanspruchen.
Jetzt bin ich schwer in der Bredouille.
Was mache ich mit dem neuen Keimling in meinem Kopf? Soll ich an zwei schriftstellerischen Werken nebeneinanderher arbeiten?
Hilfe! Reizüberflutung! Kuddelmuddel entsteht in meinem Kopf. Stechende Kopfschmerzen veranlassen mich zu einer Gedankenpause.
Im schlimmsten Falle geistern sogar drei oder vier Geschichten in meinem Gehirnkasten herum. Was ist zu tun? Ich fasse kurz entschlossen einen Entschluss. Genau! Die erste Kopfschwangerschaft wird bis zur Geburt ausgetragen. Die anderen Embryos verharren solange in einer Keimruhe, bis von mir der Impuls ausgeht, weiter heranzureifen.
Mal mutiere ich zum schnellen Brüter.
Gesteuert vom Gehirn schießen Reize in die Nervenbahnen meines Körpers, die meine zehn Finger dazu befähigen, unangestrengt und mühelos literarische Ergüsse in den Computer einzugeben. Fein ziselierte Buchstabengirlanden schmücken meine poetischen Fantasiegebilde. Mit Leichtigkeit wird das dichterische Werk vollendet. Die Niederkunft naht. Nach einer einfachen Geburt umrankt mein Herz ein seltsames Glücksgefühl. Zärtlich streicheln meine Augen die zur Welt gebrachten Zeilen, die sich zu einem makellosen Text zusammenfügen.
Sind dem literarischen Werk anschließend sowohl die Kritiker als auch die Leser wohlgesinnt, bricht bei mir unbeschreibliche Euphorie aus.
Dann wieder ringe ich zäh um jedes Wort und Satzgefüge, nage mit langen Zähnen am Text herum und hasse den Zirkus der Wortakrobatik, der mich um den Verstand zu bringen droht. Zweifel befallen mich, ob ich den Zustand, literarisch in anderen Umständen zu sein, jemals wieder durchleben möchte.
Haben sich letztendlich unter Entladung von Geistesblitzen, Donnern und Grollen meine verklebten Gedanken gelöst, meine vernebelten Ideen gelichtet, meine verwirrten Gefühle entwirrt und haben sich meine verirrten Worte aus dem Buchstabenlabyrinth befreit, bin ich nach einer solch schweren Niederkunft völlig kraftlos und erschöpft, so wie nach dieser Kopfgeburt.
Abgekämpft und ausgelaugt schaue ich mit müden und brennenden Augen auf die mit Text gefüllten Seiten. Hat das Geschriebene Hand und Fuß? Kopf, Arme, Beine, alles dran?
Ob das Opus der Schriftstellerin gelungen ist, darüber werden mich die Kritiker schon ins Bild setzen.
Die Leser stimmen an den Ladenkassen in den Buchhandlungen oder mit ihrer Bestellung im Internet ab, ob für sie mein literarisches Werk lesenswert ist.
Aber gerade an diesen so mühsam aufgepäppelten Kopfgeburten hängt mein Herz besonders, und ich werde sie gegen unangebrachte Kritik vehement verteidigen.
Und, liebe Leserschaft und liebe Kritikusse, gestatten Sie mir zum Ende der Geschichte die hinlänglich bekannte Bemerkung, dass sich über Geschmack sowieso nicht streiten lässt!
Oder?
Eins weiß ich allerdings nach der Geburt eines jeden von mir erdachten schriftstellerischen Werkes: Ich bin den Buchstaben verfallen und bleibe ihnen in unverbrüchlicher Treue zugetan.
Haiku
Den Kopf durchgeistern
weltentrückte Gedanken
Wolkenkuckucksheim
o
Computerseele
Ich glaub’ mein Computer hat eine Seele,
denn wenn ich ihn so täglich quäle,
mit Datei öffnen, Speichern in,
versteht er oft nicht deren Sinn.
Drück ich kräftig auf die Taste Enter,
hab ich das Gefühl, jetzt pennt er.
Er will nicht so, wie ich es will,
ihm fehlt wohl noch der rechte Drill.
Treib ich den Cursor auf und ab,
macht er nach ein paar Stunden schlapp,
entfaltet dann sein Eigenleben,
und der Schriftsatz geht daneben.
Will ich drucken, meint er schlau:
Mach mal Pause! Papierstau!
Hab ich den Fehler fluchend behoben,
muss ich mich schulterklopfend loben.
Fettdruck, Einrücken, Unterstreichen,
lässt die Elektronik schnell erweichen.
Unzählige Mal mit dem Mäuschen klicken,
reizt ihn, mich böse anzublicken.
Drück ich tausendfach auf Tasten,
wird er bald komplett ausrasten.