Bär rührt. Kayla Gabriel
Vater geerbt – er besaß auch die Fähigkeit, sich in ein großes, haariges Biest zu verwandeln. Die gleiche Gabe hatte seinem Vater durch ein Leben zahlreicher, epischer Schlachten geholfen. Genau diese Fähigkeit hatte ihren Familienstatus angehoben und ihnen das beste Farmland des Tals eingebracht sowie eine große Anzahl Schafe und Rinder.
Eines Tages sollte Ephraim in die Fußstapfen seines Vaters treten und ein respektierter Krieger werden. Weder Elias noch Egrel konnten sich auf eine derartige Fähigkeit verlassen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, obgleich Elias talentiert im Umgang mit dem Schwert war und Egrel im Bereich der Tränke und Zaubersprüche.
„Also haben sie ihn gebracht?“
Ephraim wirbelte herum und entdeckte seine Mutter, die in der Tür ihres Cottage stand und sich Halt suchend gegen deren Rahmen lehnte.
„Komm, Mutter, ich bringe dich wieder hinein“, sagte Ephraim und durchquerte den Vorgarten, um ihr behilflich zu sein.
„Das war dein Vater, oder nicht? Er ist in ein Leichentuch gehüllt“, murmelte seine Mutter. Sie war federleicht, sodass Ephraim sie mehr oder weniger zu der notdürftigen Bettstatt trug, die sie neben dem Feuer errichtet hatten. Die Nächte waren zu dieser Jahreszeit kühl und ihre Gesundheit in schlechter Verfassung. Sie hatte sich sogar noch verschlechtert, seit man die Nachricht erhalten hatte, dass Ephraims Vater in einer Schlacht vor einer Woche tödlich verwundet worden war.
„Ruh dich aus, Mutter“, sagte Ephraim. „Ich werde deinen Spezialtee holen, damit du besser einschlafen kannst.“
„Ich möchte ihn sehen“, entgegnete sie, aber er konnte bereits erkennen, dass sie langsam einnickte. „Ich muss ihn sehen…“
Nachdem er sie auf das Lager gebettet hatte und sie tief und fest schlief, trat Ephraim wieder nach draußen. Elias und Egrel standen weniger als fünfzig Schritte vom Cottage entfernt und verstummten beide, als sie Ephraim erblickten.
„Brüder“, sagte er und beobachtete, wie sich ihre Haltung versteifte. Beinahe schuldbewusst. „Was wird mit Vaters Leichnam geschehen?“
„Die Krieger errichten bereits den Scheiterhaufen“, antwortete Egrel und deutete mit dem Kopf in Richtung Tal.
Es stimmte; Ephraim trat näher, um die Männer seines Vaters dabei zu beobachten, wie sie Holz stapelten, breit und hoch.
„Wird es eine Zeremonie geben?“, wunderte sich Ephraim. Normalerweise war der Tod eine Privatangelegenheit und jede Familie trauerte für sich, aber sein Vater war kein gewöhnlicher Dörfler.
„Zweifellos.“ Elias verlagerte sein Gewicht, die Augen nach unten gerichtet.
„Mutter wird hingehen wollen“, sagte Ephraim, in dessen Brust Trauer aufwallte.
„Sie ist zu krank“, schnappte Egrel sofort feindselig. „Ich werde nicht zulassen, dass du sie runter ins Dorf schleifst und ihren Gesundheitszustand noch verschlimmerst, nur um ihr einen Gefallen zu tun.“
Ephraims Mund öffnete und schloss sich. Egrel hatte einen grausamen Verstand und nahm von allen immer das Schlimmste an. Was konnte man darauf schon erwidern?
„Sie schläft jetzt“, informierte Ephraim ihn und wandte den Blick ab.
„Dann lass uns ins Dorf gehen.“ Elias war niemand, der auch nur ein Wort zu viel sagte, wenn es nicht nötig war. Und wie es schien, war er jetzt auch das Oberhaupt der Familie.
Ephraim nickte und folgte ihnen schweren Herzens.
Als sie nach der Zeremonie zurück den Hügel hinauf stapften, die Asche und Rauch des Scheiterhaufens noch in den Kleidern und Haaren, war Egrel der Erste, der die angespannte Stille zerbrach.
„Ich habe einen Zauberer aus einem entfernten Dorf gebeten, hierher zu kommen und sich Mutter anzusehen“, verkündete er und tauschte einen bedeutungsschwangeren Blick mit Elias aus. „Er sollte heute ankommen.“
„Einen Zauberer? Ihre Dienste sind sehr teuer. Wie sollen wir ihn bezahlen?“, fragte Ephraim stirnrunzelnd. „Unsere Herde ist zu dieser Jahreszeit am kleinsten. Wir können es uns wohl kaum leisten, so viele Schafe wegzugeben, wie er verlangen wird.“
„Wir werden eine Vereinbarung treffen“, erwiderte Egrel achselzuckend. „Mutters Gesundheit ist am wichtigsten, wie ihr mir sicherlich zustimmen werdet.“
Elias grunzte bloß, seine Miene so düster wie eine Gewitterwolke. Irgendetwas verschwiegen sie ihm, da war sich Ephraim sicher. Aber was?
Als sie das Cottage erreichten, wartete der Zauberer bereits auf sie. In viele Schichten wollener Mäntel gehüllt, die Kapuze nach hinten geworfen, sodass ein Schopf vollständig weißer Haare sichtbar war, die viel zu alt wirkten für sein jugendliches Gesicht, beobachtete er sie mit dunkel glänzenden Augen.
„Ich bin Egrel“, stellte sich Ephraims Bruder vor. „Das ist der Älteste, Elias. Und der Jüngste, Ephraim.“
„Ich bin Crane“, sagte der Zauberer und neigte den Kopf. „Ich habe nicht viel Zeit, also lasst uns beginnen.“
Ephraim und Egrel drückten sich im Hintergrund herum, während der Mann ihre Mutter untersuchte, ihre dünner werdenden blonden Haare nach hinten strich, ihr in die Ohren schaute und seine Finger auf ihre ausgetrocknete Zunge presste. So ging es einige Zeit weiter. Der Mann betrachtete ihre Handgelenke und Fußknöchel, stellte einige Fragen darüber, ob sie Fieber hatte oder in letzter Zeit irgendwelchen Fremden begegnet war.
Der Zauberer legte sie in das Bett und zog die Decke wieder über sie.
„Es handelt sich um eine Erkrankung des Geistes, eine der am schwierigsten zu heilenden“, verkündete er. Er warf Egrel einen bedeutungsvollen Blick zu. „Ich kann etwas zusammenbrauen, das sie heilen wird, aber die Zutaten sind sehr, sehr selten.“
„Tun Sie es“, sagte Egrel, ohne zu zögern.
Ephraim wollte offen fragen, wie hoch die Kosten sein würden, welche Art Vereinbarung Egrel und Crane und Elias getroffen hatten, aber er fürchtete sich. Er fürchtete, dass Crane seine Mutter nicht heilen würde, fürchtete, dass der Preis, auf den sie sich geeinigt hatten, zu schrecklich und schockierend sein würde. Immerhin gab es keine Möglichkeit Wissen rückgängig zu machen, wenn es einmal laut ausgesprochen worden war.
Der Mann setzte sich an den breiten Küchentisch, räumte die anderen Arzneien und Kräuter ihrer Mutter zur Seite und begann, verschiedene kleine Gläser und Fläschchen irgendwo aus den Tiefen seiner vielen Mäntel zu kramen. Er zog Mörser und Stößel heraus und zerrieb eine Anzahl verschiedener Zutaten, bis er irgendwann eine kleine Menge grünlicher Kräuterflüssigkeit erzeugt hatte, die er in eine Glasphiole füllte.
„Gebt das in ihren Tee, drei Mal täglich, bis es aufgebraucht ist. Lasst keine Dosis aus“, ordnete der Zauberer an und reichte Egrel die Phiole. Daraufhin sammelte er seine Sachen wieder ein, stopfte sie zurück in seine Mäntel und erhob sich.
Die dunklen Augen landeten erneut auf Ephraim, was ihm einen Schauder über den Rücken jagte. Crane zog eine Braue hoch und blickte zu Egrel.
„Ich werde meine Bezahlung jetzt mitnehmen“, erklärte er nüchtern.
Eine böse Vorahnung kroch über Ephraims Rückgrat den Bruchteil einer Sekunde, bevor Elias und Egrel nach vorne sprangen und jeder einen seiner Arme packten, sie fest hinter seinen Körper zogen und seine Handgelenke mit einem rauen Stück Seil fesselten.
„Was – ?!“, war alles, das Ephraim hervorbrachte, ehe Egrel einen scharf riechenden Stofffetzen auf seine Nase und Mund presste. Ephraim würgte wegen des Ölrückstandes, der dem Tuch anhaftete, aber seine gedämpften Proteste sorgten nur dafür, dass er den beißenden Geruch tiefer einatmete.
Seine Augenlider sanken nach unten, dann sein Körper, dann wusste er nichts mehr.