Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant
behandelte sie mit größter Vertraulichkeit und mit einer leicht verächtlichen Nachsicht gegen die alte Jungfer… Eigentlich hieß sie Lise; sie war jung gewesen, als Béranger Frankreich beherrschte. Als man aber sah, dass sie nicht heiratete, dass sie ganz gewiss nicht mehr heiraten würde, änderte man ihren Namen in Lison um und nannte sie Tante Lison. Jetzt war sie ein altes, bescheidenes, etwas eigenes Dämchen, und höchst ängstlich gegen die Ihrigen, deren Zuneigung zu ihr sich aus Gewohnheit, Mitleid und wohlwollender Gleichgültigkeit zusammensetzte.
Die Kinder kamen nie zu ihr herauf, um sie zu küssen. Nur das Mädchen betrat zuweilen ihre Schwelle. Wenn man mit ihr sprechen wollte, ließ man sie holen. Man wusste kaum, wo das Zimmerchen lag, in dem dieses arme, einsame Leben verfloss… Sie hatte durchaus keine Stellung. Wenn sie nicht zugegen war, war von ihr nie die Rede. Man dachte auch nie an sie. Sie gehörte zu jenen vergessenen Wesen, die selbst ihren nächsten Angehörigen unbekannt und gleichsam unentdeckt bleiben, deren Tod in einem Hause keine Lücken reißt, und die nicht verstehen, in das Dasein und die Gewohnheiten oder in die Liebe ihrer Mitmenschen einzudringen.
Sie ging immer mit kleinen eiligen und gedämpften Schritten; sie machte nie ein Geräusch, stieß nie an etwas an und schien den Dingen die Eigenschaft absoluter Lautlosigkeit mitzuteilen. Ihre Hände hätten von Watte sein können: so leicht und behutsam fasste sie alles an.
Wenn man »Tante Lison« sagte, so erweckten diese zwei Worte in der Vorstellung der Hörer keinen anderen Eindruck, als ob man »die Kaffeekanne« oder »die Zuckerdose« sagte. Die Hündin Louche hatte entschieden eine ausgesprochenere Persönlichkeit; sie wurde fortwährend geliebkost und gerufen: »Komm, mein liebes Louchechen, mein schönes kleines Louchechen!« Man hätte ihr ungleich mehr nachgeweint.
Der Vetter und die Cousine sollten Ende Mai heiraten. Die jungen Leute lebten nur noch Aug’ in Auge und Hand in Hand; sie waren bereits ein Herz und eine Seele. Es wurde dieses Jahr erst spät und nur zögernd Frühling. In den hellen Frostnächten und morgens in den Frühnebeln war es noch zum Zähneklappern. Dann plötzlich kam der Lenz mit Macht. Ein paar warme, etwas dunstige Tage hatten genügt, um den Saft, der noch in der Erde schlief, in Bewegung zu setzen. Die Blätter entfalteten sich wie durch ein Wunder, und überall schwebte ein berauschender, ermattender Duft von Knospen und erblühenden Blumen.
Endlich, eines Nachmittags, hatte die Sonne die umhertreibenden Dünste aufgesogen und war mit siegreichem Prangen über der Ebene aufgegangen. Ihre heitere Klarheit durchströmte das ganze Land und durchdrang alles, Pflanzen, Tiere und Menschen. Die Vögel schwirrten lockend und suchend umher und schlugen mit den Flügeln. Jacques und Jeanne saßen den ganzen Tag lang bei einander auf einer Bank vor dem Schlossportal. Das neue Glück beängstigte sie; sie waren furchtsamer als gewöhnlich. Sie fühlten, wie es sich in ihnen regte, ganz wie in den Bäumen, und wagten nicht allein hinauszugehen. Ihre Augen ruhten unbestimmt auf dem Teich, der dort unten lag und auf dem die großen Schwäne sich verfolgten.
Erst als es Abend ward, fühlten sie sich erleichtert und ruhiger; nach dem Essen lehnten sie im offenen Fenster des Wohnzimmers und plauderten verliebt, während die beiden Mütter in dem Lichtkreise, den der runde Lampenschirm abschloss, ihr Piket spielten und Tante Lison für die Ortsarmen Strümpfe strickte.
Fern hinter dem Teiche breitete ein einzelner Baum seine hohen Wipfel, und plötzlich brach durch das kaum entsprosste Blättergrün das silberne Mondlicht. Langsam wandelte die lichte Scheibe durch die Äste, die sich feingezähnt dagegen abhoben, zu den Höhen des Himmels empor, und die Sterne umher erloschen. Über alle Welt ergoss sich der magische Schimmer, in dem die Dünste und die Träume der Betrübten, der Dichter und Liebenden sich wiegen…
Die jungen Leute hatten dem aufgehenden Monde zugeschaut; dann, als die weiche Milde der Nacht sie umfloss und der Dämmer, der auf den Wiesen und über den Baummassen webte, sie lockend verzauberte, waren sie hinausgegangen und wandelten langsamen Schrittes auf dem großen, mondweißen Rasenplatz bis zum schillernden Teiche.
Inzwischen hatten die beiden Mütter ihre allabendlichen vier Partien Piket beendet und die Augen begannen ihnen zuzufallen; sie sehnten sich nach Ruhe.
– Wir müssen die Kinder rufen, sagte die eine.
Mit schnellem Blicke durchflog die andere den Teil des Gartens, in dem die zwei Schattengestalten sich langsam ergingen.
– Lass sie doch noch! riet sie. Es ist ja so schön draußen. Lison kann auf sie warten. Nicht wahr, Lison?
Die alte Jungfer hob unruhig die Augen und antwortete mit ängstlicher Stimme:
– Gewiss, ich werde auf sie warten.
Darauf gingen die beiden Schwestern zu Bette.
Als sie heraus waren, stand Tante Lison auch auf, ließ die angefangene Arbeit samt der Wolle und der großen Nadel auf dem Arme des Lehnstuhls liegen und legte sich mit den Ellenbogen ins Fenster, um die liebliche Nacht zu genießen.
Die beiden Liebenden gingen immer noch über den Rasenplatz, vom Teich bis zur Treppe und von der Treppe bis zum Teiche. Sie drückten sich die Hände und hatten aufgehört, zu sprechen, als wären sie ganz entrückt und bildeten nur noch einen Teil dieses Märchenzaubers, der auf der Welt lag. Jeanne erblickte plötzlich im Fensterrahmen den Schatten der alten Dame, der sich scharf gegen das Lampenlicht abhob.
– Halt, sagte sie stehen bleibend, Tante Lison beobachtet uns.
Jacques blickte auf.
– In der Tat, Tante Lison beobachtet uns.
Sie gingen dann ungestört weiter, wie vorher, und träumten und liebten, wie vorher. Doch das Gras war voller Tau. Es war kühl und sie fröstelten.
– Wollen wir nicht hinein gehen? schlug Jeanne vor.
Jacques nickte und sie gingen wieder ins Haus.
Als sie ins Wohnzimmer traten, saß Tante Lison wieder über ihre Arbeit gebeugt und strickte; ihre kleinen, dürren Finger zitterten ein wenig, wie von Übermüdung.
Jeanne trat näher.
– Wir wollen jetzt zu Bette gehen, Tante.
Das alte Dämchen schlug die Augen auf. Sie waren rot, als hätte sie geweint. Doch Jacques und seine Braut achteten nicht darauf. Der junge Mann merkte nur, dass die dünnen Lederschuhe seines Mädchens von Tau trieften. Ängstlich fragte er:
– Hast du nicht kalt an deinen lieben kleinen Füßchen?