Die Siebte Sage. Christa Ludwig
stimmte. Zwar war Silbão ein Aramine und gehörte damit zu jenem Volk, das vor über vierhundert Jahren die Südbarden überfallen und das Land erobert hatte, aber das war inzwischen kaum noch wichtig. Viel bedeutsamer war, dass Silbãos Hemd auf der rechten Schulter einen Ziegenkopf trug, während auf Dshirahs linke Schulter ein Pferdekopf gestickt war. Hirtenkinder waren sie alle in der Hirtenschule, aber sie waren damit nicht alle von gleichem Rang. Die Ziegenhirten waren die niedrigsten. Unter ihnen standen nur noch die geächteten Metzger, aber deren Kinder gingen in eine andere Schule. Dshirahs Familie hütete die Halbblutfohlen des Kalifen, und nur der kleine Kirr mit dem Pferdekopf auf der rechten Schulter war höher gestellt als sie, denn sein Vater betreute die Vollblutfohlen.
Silbão war ein friedlicher Junge. Er lachte noch immer und rief: «Dshirah, Dshirah wasserscheu …»
«Ich kann schwimmen!», schrie Dshirah.
Da lachten sie alle.
Weg, dachte sie, weggehen.
Aber sie sprang ins Wasser, hüpfte über die roten und goldenen Fliesenfische, spritzte Silbão Wasser ins Gesicht, lachte und spritzte, lachte und spritzte, rannte den Bach hinunter, die Jungen folgten und lachten, sie hüpfte, rutschte und fiel.
«Glaubt ihr es jetzt?», fragte sie.
Silbão nickte. «Ich komme heute zu euch und du zeigst mir, wie du schwimmst.»
Sie hätte es nicht sagen dürfen.
Weg, dachte sie, weg.
Sie sprang aus dem Bachbett und merkte nicht, dass sich am Rand eine Fliese gelöst hatte. Das Band ihres rechten Schuhs blieb daran hängen, und sie hatte das Bein so heftig aus dem Wasser geschwungen, dass es riss.
«He», sagte Silbão, «jetzt kannst du den Schuh ausziehen.»
Und Kirr grinste: «Und auf einem Bein hüpfen, ohne zu rutschen.»
Dshirah hielt die losen Enden zusammen, humpelte ein Stück, sagte: «Ich muss heim.»
Aber die Jungen folgten ihr. Da rannte sie. Sie gewann einen kleinen Vorsprung, weil die Jungen verblüfft stehen blieben. Als sie sich aber umdrehte, sah sie, dass sie ihr nachliefen. Sie bog in eine Seitenstraße. Sollte sie versuchen, das Schuhband wieder zu verknoten? Silbãos Kopf erschien am Ende der Straße, da jagte sie in wilder Angst davon. Sie fühlte, wie das Band sich ihren Schenkel hinunterringelte, sie versuchte die Schuhsohle mit den Zehen zu halten, doch dadurch wurde sie langsam, und die Jungen holten auf. Sie sprang über die mit glatten Steinen gepflasterten Straßen. Es war am frühen Nachmittag. Die Menschen kamen gerade erst wieder aus ihren Häusern gekrochen, noch war es heiß. Nicht heiß genug, um ihre Schuhe schnell zu trocknen. Sie glitt aus, fiel einem fremden Mann in den Weg und fühlte an ihrem rechten Fuß keinen Schuh. Er war weg. Sie zog das rechte Bein an, setzte sich auf den Fuß, der Mann reichte ihr eine Hand, um ihr aufzuhelfen, sie nahm sie nicht. Dicht hinter dem Fremden sah sie ihren Schuh liegen. Da stießen die Jungen gegen den Mann. Der schimpfte, drehte sich um. Dshirah sah, wie Silbão nach ihrem Schuh griff. Sie sprang auf und rannte, schneller jetzt, noch schneller.
Al-Cúrbona war eine schöne Stadt. Sie lag am Hang über dem Fluss. Hoch über allen Häusern schwebte die Palaststadt des Kalifen. Neben den größeren Straßen flossen auf einer oder auf beiden Seiten die kleinen Bäche in ihren bunten, kunstvollen Betten. Ihr Wasser sammelte sich in Brunnen, schoss in Kaskaden und kleinen Wasserfällen über die Hänge und sprühte Fontänen an Straßenecken. Obwohl die Häuser sich nach außen schlicht gaben und fast allen ihren Schmuck in den Innenhöfen zeigten, hatten auch die Fassaden ihren eigenen Stil. In vielen Farben gewebt waren die Vorhänge vor den Türen, um den Türrahmen war eine Leiste mit bunten Ornamenten in den weißen Putz gemalt, und vor den wenigen Fenstern hingen Blumen.
Dshirah blieb stehen.
Die schmale Gasse, in die sie sich geflüchtet hatte, war menschenleer. Sie keuchte. Ein heftiger Schmerz stieß in ihre linke Seite. Aber die Jungen schienen ihr nicht mehr zu folgen.
Sie haben nichts gemerkt, dachte sie, nur, wie komme ich jetzt nach Hause?
Sie versuchte herauszufinden, wo sie war. Neben den Türen hingen Schilder: Schneider, Weber, Schuster – sie überlegte, ob sie in eines der Schusterhäuser schleichen und ein paar Schuhe stehlen sollte, doch das schien ihr noch gefährlicher, als mit einem Schuh weiterzugehen. Sie kannte diese Gasse nicht, aber solange sie abwärts- und der Sonne entgegenlief, war sie auf dem Heimweg. Sie bemühte sich, weiterhin durch unbelebte Gassen zu gehen, doch immer mehr Vorhänge wurden beiseite geschoben. Um diese Zeit drängten die Menschen hinaus. Es war also besser, wieder zu rennen.
«Da! Da ist sie!»
Silbão und die anderen Jungen! Sie lief genau auf sie zu. Dshirah drehte sich um und stürmte planlos durch die Gassen und Straßen. Schon füllten die sich mit Leuten, schon musste sie sich im Zick-Zack um fremde Körper schlängeln. War das ein Vorteil? Konnte sie so den Jungen leichter entkommen? Aber jedes Paar Augen war genauso gefährlich wie Silbãos schwarze Pupillen. Und da hörte sie ihn wieder. Erschrocken sprang Dshirah geradeaus, dahin, wo Platz war, wo niemand ging –
«He, du!», schimpfte eine Männerstimme – und Dshirah merkte nicht, dass sie den schlimmsten aller Fehler gemacht hatte. Sie war über eine Baustelle gelaufen, ein kleines Geviert, das auf einer Kreuzung für ein neues Muster von Fliesen vorbereitet wurde. Man hatte den Boden mit frischem Sand bestreut. Den hatte man nass gemacht, geebnet. Als Dshirahs rechter Fuß darauf trat, fühlte sie kurz die feuchte Kühle einer glatten Fläche, fest, aber nicht hart.
Wieder rennend, schaute sie zurück, sah die Jungen aus der Menge kommen, sah – nur im fernsten Winkel ihres Blicks –, wie die Arbeiter sich über den Sandboden beugten, wie Kirr stehen blieb. Sie hörte, dass er etwas rief, verstand es aber nicht. Da tat sie, womit die Jungen nicht rechnen konnten: sie verschwand hinter dem Vorhang des nächsten Hauses, sie fühlte schon am Stoff, dass es ein Adelshaus war.
Ein Hirtenkind in einem Adelshaus, ohne Auftrag, etwas zu holen oder abzugeben – natürlich wusste sie, wie streng das verboten war. Trotzdem atmete sie auf. Hierhin würden ihr die Jungen auf keinen Fall folgen. Sie würde durch das Haus und den Patio schleichen und das Gebäude auf der anderen Seite wieder verlassen – denn Dshirah wusste genau, wie ein Adelshaus von innen aussah, und sie wusste ziemlich genau, wer sich um diese Tageszeit wo aufhielt.
Wenn jemand kommt, sage ich, ich soll die Geburt eines Fohlens melden, dachte sie. Dann bin ich eben im falschen Haus, ich habe mich verlaufen.
Ein paar Frauen kamen ihr entgegen, die beachteten sie nicht, also war sie im Gesindetrakt und damit immerhin auf der richtigen Seite. Aber dann kam ein Mann vorbei und trat ihr in den Weg. Und leider gab es hier Fenster. Wer den ganzen Tag arbeiten muss, braucht Licht. Sie schob den bloßen Fuß hinter die Ferse des Schuhs.
«Was machst du hier?», fragte der Mann.
Sie zeigte auf ihre linke Schulter.
«Ich bin Dshirah, die Tochter von Tazihlo, dem Hüter der Halbblutfohlen. Ich soll die Geburt des Fohlens melden.»
Der Mann nickte.
«Geh durch den Patio. Die Verwalter sitzen am Teich der Goldfische. Einer wird dich zum Herrn führen.»
Glück gehabt! Jetzt wusste sie genau, wohin sie nicht gehen würde.
Sie lief der Nase nach, fort von dem Geruch nach gebratenem Fleisch und auf den Duft von Blumen zu. So erreichte sie den Patio. Er war sehr groß. Wer hier wohl wohnte? Die Bäume und Hecken schützten sie, eine gelbe Katze putzte sich im Schatten, mitten im Garten rauschte der Springbrunnen, sonst war es still. Sie mied den Teich und kam zum Hauptgebäude. Hier war es dämmrig, man hielt die Sonne und die Hitze fern. Aber nun durfte ihr niemand mehr begegnen. Der Herr war also wahrscheinlich im Haus. Hoffentlich in seinen Arbeitsräumen. Die mussten rechts sein. Links ging es zur Halle und von da auf die Straße. Wenn jetzt nicht von oben eine der Frauen herunterkam …
Dshirah schlüpfte an den Wänden entlang, lautlos über dicke Teppiche, durch den Flur, durch den Vorhang –