Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen. Vera Bernard-Opitz
Was ist Strukturierte Therapie und Autismus-spezifische Verhaltenstherapie (AVT)?
2.1 Gibt es »Allheilmittel«?
Ein halbes Jahrhundert lang wurden Kinder mit der Diagnose »Frühkindlicher Autismus« als unheilbar eingestuft. Nur etwa 5 % der Betroffenen hatten eine normale Entwicklung zu erwarten, während die Mehrheit ihr Leben in Einrichtungen der Behindertenhilfe oder mit intensiver Hilfe verbringen musste. Zwar geht man auch heute noch davon aus, dass es sich bei ASS um eine schwerwiegende Beeinträchtigung handelt, aber man weiß mittlerweile, dass die Problematik behandelbar ist (Green, 1998; Wong et al., 2013).
Die Suche nach einem »Generalschlüssel« für die Probleme der betroffenen Kinder hat in der populärwissenschaftlichen Literatur zwar oft für Schlagzeilen gesorgt, Therapien mit Allheilanspruch haben jedoch systematischen Untersuchungen nicht standgehalten (Weiss, 2002).
Gibt es eine Methode für alle Probleme bei Kindern mit ASS?
Das trifft für die ursprüngliche Annahme Kanners (1943) zu, dass Autismus durch sog. »Kühlschrankeltern« bedingt sei, ebenso für spätere »Allheiltherapien« wie »Kuschelpädagogik«, Festhaltetherapie und Gestützte Kommunikation, Diese Ansätze gingen davon aus, dass Autismus wie ein Gefängnis ist, das auf einer pathologischen Beziehung zu den Eltern oder mangelndes Vertrauen basiert. Durch Beziehungsaufbau, Festhalten, Stützen der Hand bei der Kommunikation sowie den Glauben an intakte kognitive Fähigkeiten könnte man die Probleme abbauen. Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass diese Bemühungen oder auch das Schwimmen mit Delphinen, gefilterte Musik, Pränatalräume und ähnlich diffus ganzheitliche Ansätze auf einzelne Kinder positiv wirken, aber bei genauer Prüfung haben diese Ansätze oft nur kurzfristige Placeboeffekte gezeigt (Jacobson, Foxx & Mulick, 2005). Sofern Kinder profitierten, zeigte sich, dass dieses an verhaltenstherapeutischen Strategien lag statt an den angenommen psychodynamischen Prozessen. In systematischen Untersuchungen konnten obige Erklärungs- und Therapieansätze nicht bestätigt werden (Schreibman, 2005; Wong et al., 2013). Demgegenüber wird der Aufbau einer positiven Beziehung in verhaltenstherapeutischen Programmen nicht als Voraussetzung für die eigentliche Arbeit angesehen, sondern diese entsteht bereits in der ersten Therapiestunde. Aufgabe des Therapeuten ist es, durch »liebevolle Eindeutigkeit« eine verlässliche, positive Situation zu schaffen, in der der Betreffende motiviert und gefordert wird, ohne überfordert zu sein.
Als Beispiel alternativer Therapiemethoden werden im Folgenden die Auditorische Integrationstherapie und die Gestützte Kommunikation herausgegriffen. Weiss (2002) hat diese Ansätze ausführlich beschrieben und vergleichend bewertet.
So hat z. B. vor einigen Jahren die Auditorische Integrationstherapie (AIT) viel Medienaufmerksamkeit bekommen. Die Entwickler dieses Ansatzes, Tomatis und Berard, beschrieben, dass regelmäßiges Hören von Musik, bei der bestimmte Frequenzen herausgefiltert sind, zu einer Verbesserung auditiver Wahrnehmung führt (Berard, 1993). Systematische Untersuchungen ergaben jedoch, dass zwischen Kindern, die gefilterte Musik hörten, kein Unterschied gegenüber solchen bestand, die ungefilterter Musik ausgesetzt waren (Bettison, 1996). Auch zeigte sich keine Veränderung in den elektrophysiologischen Werten von Kindern, die diese Therapie im Vergleich zu Kindern ohne eine solche Exposition erhielten (Rimland & Edelson, 1995; Gravel, 1994; Schreibman, 2005).
Eine ebenfalls in Fachkreisen kontrovers diskutierte Therapiemethode ist die Gestützte Kommunikation (Englisch »Facilitated Communication« Abk.: FC). FC machte besonders in den 1990er-Jahren durch verblüffende Berichte von verdeckter Intelligenz bei selbst als stark geistigbehindert geltenden Menschen mit ASS auf sich aufmerksam (Biklen, 1993; Nagy, 1993; CMHO, 2002). Bei dieser Methode berührt ein sog. »Facilitator« Hand, Arm oder Schulter des Kindes/Jugendlichen während es/er auf Bilder, Buchstaben oder Wörter zeigt oder diese schreibt. In kontrollierten Untersuchungen konnte die Annahme eigenständiger Kommunikation allerdings nicht bestätigt werden, d. h., dass die »Facilitatoren« und nicht die Klienten – wenn auch unbewusst – die jeweilige Kommunikation beeinflusst haben (zusammenfassend siehe Shane, 1994; Weiss, 2002; Schreibman, 2005). Um Fehleinschätzungen zu vermeiden, werden verschiedene Voraussetzungen, Kontrollen und Vorsichtsmaßnahmen beim Einsatz von FC vorgeschlagen (Biermann, 1999; Klicpera et al., 2001).
Nahrungsmittelunverträglichkeit, Umweltgifte und gastro-intestinale (Abk.: GI) Probleme sind in den letzten Jahren verstärkt im Zusammenhang mit Autismus diskutiert worden. Auch ein möglicher Einfluss auf die Entstehung von Autismus durch die MMR (Masern, Mumps und Rubella) Impfung hat zu einer Verunsicherung von Eltern und erheblichen Kontroversen geführt (Wakefiel, 2002). Da Nachfolgeuntersuchungen keinen Zusammenhang zwischen der Regression der Kinder und Impfungen fanden, erscheint die Impfschaden-Hypothese unwahrscheinlich (Hansen & Ozonoff, 2003). Andererseits gelten nicht-genetische Umwelteinflüsse, wie Virusinfektionen während der Schwangerschaft oder nach der Geburt sowie die Zusammensetzung der Darmflora als sehr wahrscheinliche Faktoren in der Ätiologie des Autismus (Bernard, 2017).
Auch gibt es einige Hinweise darauf, dass eine Gluten- und Casein-freie Diät denjenigen Kindern hilft, die Probleme mit chronischem Durchfall, Bauchschmerzen oder Blähungen haben. In einer Untersuchung von zwei Gruppen von zehn Kindern mit abnormem Urin Peptiden konnte gezeigt werden, dass nach einem Jahr auf einer Gluten/Casein-freien Diät die Experimentalgruppe signifikante Verbesserungen in ihrem Verhalten und ihrem Entwicklungsniveau zeigten (Knivsberg et al., 2002). Leider beruhen viele Untersuchungen auf anekdotischen Fallbeschreibungen oder Studien ohne eine Kontrollgruppe.
2.2 Was ist Strukturierte Therapie und Autismus-spezifische Verhaltenstherapie (AVT)?
Strukturierte Therapie (Abk.: ST), Strukturiertes Training und Autismus spezifische Verhaltenstherapie (AVT) sind Sammelbegriffe für effektive therapeutische Interventionen, die eine empirische Basis haben, eine eindeutige Struktur aufweisen, in einem direkten Zusammenhang zu den Problemen autistischer Kinder stehen und individuelles, flexibles Planen beinhalten (Bernard-Opitz, 1993; Mesibov, Schopler & Hearsay, 1994). Strukturiertes Training kann als ein Kontinuum von Therapiekonzepten angesehen werden, die Schlüsselstrategien für Kinder mit Autismus anbieten (
Um wirksam Menschen mit ASS helfen zu können sind evidenzbasierte Methoden eine zentrale Grundlage. Die im Folgenden unter dem Begriff »Autismusspezifische Verhaltenstherapie« (Abk: AVT) zusammengefassten Strategien sind u. a. durch das Nationale Professionelle Entwicklungszentrum für Autismus-Spektrum-Störungen der Universität von North Carolina (Wong et al., 2013) bestätigt. Ein Überblick befindet sich im Anhang Nr.1. Es wird in diesem Überblick allerdings deutlich, dass die beschriebene Evidenz nicht immer das gesamte Altersspektrum deckt, sondern derzeit meist nur für bestimmte Altersgruppen bestätigt ist. Evidenzforschung im Bereich der Intervention bei ASS ist also weiter ein »work in progress«. Eine ausführliche Beschreibung von AVT-Methoden befindet sich im nächsten Kapitel.
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