Denken und schöpferisches Werden. Henri Bergson
HENRI BERGSON
DENKEN UND
SCHÖPFERISCHES WERDEN
AUFSÄTZE UND VORTRÄGE
Mit einer Einführung
herausgegeben von Friedrich Kottje
CEP Europäische Verlagsanstalt
Bergson deutet die gesamte Wirklichkeit aus der metaphysischen Einheit des Lebens und entwirft auf dieser Grundlage eine neue intuitive Erkenntnistheorie, Psychologie, Naturphilosophie, Ethik und Religionsphilosophie.
Bergsons Einfluss reicht über die Philosophie hinaus auf die Existenzphilosophie und die Literatur (u.a. Marcel Proust).
»Um den Wandel zu denken und um ihn zu sehen, muß man ein ganzes Gespinst aus Vorurteilen beiseite schieben, von denen die einen künstliche Ereignisse sind, Erzeugnisse der philosophischen Spekulationen, und die anderen natürliche im allgemein verbreiteten Menschenverstand.«
Dieser Satz Bergsons könnte das Motto seiner Wiederentdeckung sein. Denken und schöpferisches Werden erschien französisch zuerst 1939, auf Deutsch 1946. Es ist das letzte Buch, eine Bilanz seiner philosophischen Lebensarbeit, eine ausführliche Rechtfertigung seiner philosophischen Methode, ein Werk, das auch als eine – vielfach vermisste – Einführung in Bergsons Denken gelten kann.
Henri Bergson, geboren 1859 in Paris und dort 1941 gestorben, war französischer Philosoph polnisch-englischer Herkunft. Er lehrte als Professor am Collège de France in Paris und wurde 1914 Mitglied der Académie Française. 1928 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Hauptwerke: Materie und Gedächtnis (1896); Die schöpferische Entwicklung (1907); Die geistige Energie (1919); Die beiden Quellen der Moral und der Religion (1932), als eva-Taschenbuch erschienen: Zeit und Freiheit (1911).
© e-book Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2015
eISBN 978-3-86393-528-3
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INHALT
Das Mögliche und das Wirkliche
Die Wahrnehmung der Veränderung
Die Philosophie von Claude Bernard
Über den Pragmatismus von William James — Wahrheit und Wirklichkeit
Das Leben und das Werk von Ravaisson
ZUR EINFÜHRUNG
Wenn wir es für angebracht halten, das letzte Werk des berühmten französischen Philosophen aus dem Jahre 1934, in dessen beiden ersten Kapiteln er eine Art Bilanz seiner philosophischen Lebensarbeit zieht, der deutschen Öffentlichkeit zugänglich zu machen, so geschieht dies aus der Überzeugung heraus, daß der Zeitpunkt gekommen ist, wo eine allseitig gerechte Würdigung der treibenden Denkmotive dieses originellsten Philosophen der jüngst vergangenen Epoche und seine Einordnung in den geistesgeschichtlichen Zusammenhang unserer Zeitwende möglich geworden ist. Eine solche umfassende Würdigung des Lebenswerkes eines philosophischen Klassikers ist natürlich nicht möglich in dem engen Rahmen einer kurzen Einführung, wie sie hier geboten werden kann. Ich beschränke mich daher auf die Herausstellung einiger wesentlicher und zugleich neuer Gesichtspunkte, die geeignet sind, den Ertrag der Bergsonschen Denkarbeit in seiner Bedeutung für unsere Zeit in eine ganz neue Beleuchtung zu rücken.
Grundlegend für das Verständnis der Bergsonschen Philosophie ist zunächst der enge geistesgeschichtliche Zusammenhang, der zwischen der zentralen Problematik der Bergsonschen Philosophie und der revolutionären Entwicklung der exakten Naturwissenschaften seit der Jahrhundertwende bis zum Ausbau der Atomphysik unserer Tage besteht. Dieser Zusammenhang ist bisher noch nicht genügend erkannt worden und kann vielleicht auch erst richtig vom jetzigen Stadium der Entwicklung der exakten Wissenschaft aus richtig gesehen werden. Hat man ihn einmal klar erkannt, so fallen damit zahllose Mißverständnisse und Mißdeutungen der Bergsonschen Philosophie von selbst in sich zusammen. Versuchen wir, bei der Enge des hier gebotenen Rahmens, diesen Zusammenhang in stichwortartiger Kürze anzudeuten:
Bergsons Philosophie, die im Grunde nur die organische Entfaltung und immer neue Anwendung einer fruchtbaren und tiefen Intuition darstellt, entsteht in einer Zeit (sein erstes grundlegendes Werk ”Essai sur les données immédiates de la conscience” erschien im Jahre 1889), wo gerade ein revolutionärer Umbruch in den Grundlagen der exakten Wissenschaft sich in der elektromagnetischen Theorie von Maxwell angebahnt hatte. Diese Theorie der elektromagnetischen Kraftfelder mit deren Verselbständigung gegenüber einem substantiellen Träger (Magnetfelder ohne Magnet und elektrische Felder ohne Elektron) war die Einleitung zu einer weiteren Entwicklung der Elektrodynamik, die zu einer völligen energetischen Auflösung des in der alten Mechanik grundlegenden Begriffes einer raumerfüllenden und raumbehauptenden Masse führte. Gleichzeitig fiel der „Äther“ als atomistisch konstituiertes Medium und „Träger“ der dynamischen Spannungsfelder des Raumes, bis ihm von der Relativitätstheorie der völlige Garaus gemacht wurde. Masse wurde gleich Energie, und die Grenzen zwischen korpuskularem Zustand, Kraftfeld und „Welle“ verwischten sich schließlich völlig, bis sie in der Quantenphysik zu bloß verschiedenen Gesichtspunkten bei der Deutung experimenteller Daten wurden. Raum und Zeit verloren endgültig ihren bloß formalen Charakter und wurden dynamisiert; sie verschmolzen miteinander zu einer vierdimensionalen Funktionalität. Damit verschwindet der Begriff der materiellen Substanz aus der Physik; diese kennt nur noch relativ stationäre Spannungszustände des Raumes, stehende Wellen oder fortschreitende Wellen von rein dynamischem Charakter. Die Bewegung bedarf hier keines substantiellen Trägers mehr, die Kraft ist nicht mehr etwas, was sich der materiellen Substanz gleichsam von außen hinzufügte und anziehend oder abstoßend zwischen starren Massepunkten spielte — ja, die Vorstellung von starren, sich kontinuierlich bewegenden Massepunkten beginnt in der Quantenphysik völlig zu versagen und damit auch die kontinuierliche Raum-Zeit-Beschreibung der Newtonschen Mechanik. Im Bereich der Quantenvorgänge versagt so notwendig die punktanalytische Betrachtungsweise unserer rein abstrakten Raumanschauung. Es gibt in diesem Bereich eben keine Zeit-Punkte, sondern nur Zeit-Minima von unteilbarer dynamischer Spannweite. Damit hört zugleich die strenge Kausalität, die eindeutige Determinierbarkeit im Bereich der quantenenergetischen Vorgänge auf. Diese, können nur einer statistischen Methode unter worfen werden. Im besonderen sind die Bedingungen für Stabilität oder Labilität in diesem Bereich undurchschaubar. Damit dringt etwas von Spontaneität und Kontingenz in die Grundlagen des physikalischen Geschehens