Denken und schöpferisches Werden. Henri Bergson
die Zeit würde der Begriff der Deckungsgleichheit eine Absurdität in sich einschließen. Denn jede Wirkung der Dauer, die sich mit sich selbst zur Deckung bringen ließe und folglich meßbar wäre, würde ihrem Wesen nach nicht mehr eine Dauer sein. Wir wußten wohl seit unserer Schulzeit, daß die Dauer sich mißt durch die Bahn eines beweglichen Körpers, und daß die mathematische Zeit eine Linie ist. Aber wir hatten noch nicht bemerkt, daß diese Operation sich radikal von allen anderen Messungsoperationen unterscheidet, denn sie vollzieht sich nicht an einem Aspekt oder einer Wirkung, die symbolisch ist für das, was man messen will, sondern an einem Etwas, das jede Meinung ausschließt: die Linie, die man mißt, ist unbeweglich, die Zeit dagegen ist Bewegung; die Linie ist etwas endgültig Fertiges, die Zeit dagegen ist ein Werdendes und sogar der Grund von allem übrigen Werden. Das Zeitmaß bezieht sich niemals auf die Dauer als solche, soweit sie wirklich Dauer ist. Man zählt allein eine gewisse Anzahl von Endpunkten von Zeitintervallen oder von sogenannten Momenten, d. h. im Grunde von virtuellen Ruhepunkten der Zeit. Behaupten, daß ein Ereignis nach Ablauf einer Zeit stattfinden wird, besagt einfach, daß man von jetzt bis dahin eine Anzahl von Gleichzeitigkeiten einer gewissen Art gezählt haben wird. Zwischen den Gleichzeitigkeiten kann sich alles Beliebige abspielen. Die Zeit könnte sich ungeheuer, selbst unendlich beschleunigen: Für den Mathematiker, Physiker und Astronomen wäre damit nichts geändert. Der Unterschied für das Bewußtsein wäre jedoch tiefgreifend (ich will natürlich sagen, eines Bewußtseins, das nicht mit Molekularbewegungen innerhalb des Gehirns solidarisch wäre). Für ein solches Bewußtsein bedeutete es nicht mehr die gleiche Anspannung des Wartens von heute auf morgen, von Stunde zu Stunde. Dieser bestimmten Erwartung und ihrer äußeren Ursache kann die Wissenschaft nicht Rechnung tragen: Selbst wenn sie sich auf die Zeit bezieht, die abläuft oder ablaufen wird, so behandelt sie sie so, als ob sie abgelaufen wäre. Das ist im übrigen ganz natürlich. Ihre Rolle ist es, vorauszusehen. Sie zieht aus der materiellen Welt all das heraus, was der Wiederholung und Berechenbarkeit fähig ist und was infolgedessen nicht dauert. Sie bewegt sich damit in derselben Richtung, nur nachdrücklicher, wie der gesunde Menschenverstand, der schon eine Vorstufe von Wissenschaftlichkeit ist: Wenn wir in der Umgangssprache von Zeit reden, denken wir für gewöhnlich an das Maß der Dauer und nicht an die Dauer selbst. Aber man fühlt und erlebt diese Dauer, die die Wissenschaft eliminiert, die so schwierig zu erfassen und auszudrücken ist. Sollen wir nicht einmal untersuchen, was sie wirklich ist? Wie würde sie einem Bewußtsein erscheinen, das sie nur erleben wollte, ohne sie zu messen, das sie erfassen würde, ohne sie zu fixieren, das sich selbst schließlich als Objekt nähme, und das, Zuschauer und Akteur, spontan und reflektierend zugleich, die fixierende Aufmerksamkeit und die fliehende Zeit verschmelzen lassen würde?
Dies war die Frage. Damit drangen wir ein in das Gebiet des inneren Lebens, für das wir uns bis dahin nicht interessiert hatten. Sehr schnell erkannten wir die Unzulänglichkeit jeder Assoziationspsychologie. Die damals bei der Mehrzahl der Psychologen und Philosophen verbreitete Art psychologischer Auffassung war das Ergebnis einer künstlichen Konstruktion des bewußten Lebens. Was würde die direkte unmittelbare Schau ohne dazwischen geschaltete Vorurteile ergeben? Eine lange Reihe von Überlegungen und Analysen ließ uns diese Vorurteile einzeln beiseiteschieben, ließ uns viele Begriffe aufgeben, die wir kritiklos übernommen hatten. Schließlich glaubten wir ganz rein die innere Dauer wiederzufinden, eine Kontinuität, die weder Einheit noch Vielheit ist und in keine unserer Denkschablonen eingeht. Wir hielten es für sehr natürlich, daß die positive Wissenschaft sich nicht für diese Dauer interessiert hatte: Vielleicht ist es gerade ihre Aufgabe, uns eine Welt zu schaffen, in der wir um der Bequemlichkeit der Handlung willen die Wirkungen der Zeit zum Verschwinden bringen. Wie konnte aber die Philosophie Spencers, eine Entwicklungslehre, die geschaffen ist, um der Wirklichkeit in ihrer inneren Bewegung, ihrem Fortschritt, ihrer inneren Reifung zu folgen, die Augen vor dem verschließen, was die ständige Veränderung selbst ist?
Diese Frage sollte uns später dazu bringen, das Problem des Lebens wieder aufzunehmen, wobei der wirklichen Zeit Rechnung zu tragen war: Wir sollten dabei finden, daß Spencers „Evolutionismus“ fast vollständig zu erneuern war; zunächst aber fesselte uns die Vision der Dauer. Bei der Durchsicht der verschiedenen Systeme stellten wir fest, daß die Philosophen sich kaum mit ihr beschäftigt hatten. Durch die ganze Geschichte der Philosophie hindurch sind Zeit und Raum auf die gleiche Ebene gestellt und wie Dinge derselben Art behandelt worden. Man untersucht dann eben nur den Raum, bestimmt seine Natur und seine Funktion und überträgt die gefundenen Ergebnisse auf die Zeit. Die Theorie der Zeit wird so ein Seitenstück zur Theorie des Raumes: um von der einen zur anderen zu gelangen genügt es, ein Wort zu ändern: man hat „Nebeneinanderstellung“ durch „Aufeinanderfolge“ ersetzt. Von der wirklichen Dauer hat man sich systematisch abgewandt. Warum? Die Wissenschaft hat ihre Gründe, es zu tun. Aber schon die Metaphysik, die der Wissenschaft vorausging, ging auf diese Weise vor, obwohl sie nicht die gleichen Gründe hatte. Beim Überprüfen der Lehren schien es, als ob die Sprache dabei bereits eine große Rolle gespielt hätte. Die Dauer drückt sie immer als Ausdehnung aus. Die Ausdrücke, die die Zeit bezeichnen, sind der Sprache des Raumes entlehnt. Wenn wir die Vorstellung der Zeit bilden wollen, so ist es in Wirklichkeit der Raum, der sich uns darstellt. Die Metaphysik hat sich den Denkgewohnheiten der Sprache anpassen müssen, und diese richteten sich nach dem Denken des gesunden Menschenverstandes.
Aber wenn die Wissenschaft und der gesunde Menschenverstand hier übereinstimmen, wenn die Intelligenz, möge sie nun spontan oder reflektierend sein, die wirkliche Zeit beiseiteschiebt, sollte das denn nicht mit der ursprünglichen Bestimmung unseres Verstandes zusammenhängen? Gerade das glaubten wir zu bemerken, als wir die Struktur des menschlichen Verstandes untersuchten. Es schien uns, daß gerade eine seiner Funktionen darin bestand, die Dauer zu verschleiern, sowohl bei dem Begriff der Bewegung wie auch bei dem der Veränderung.
Handelt es sich um Bewegung, so behält die Intelligenz davon nur eine Reihe von Positionen zurück: einen zuerst erreichten Punkt, einen weiteren und dann noch einen weiteren. Wenn man dem Verstand entgegenhält, daß zwischen diesen Punkten etwas vor sich geht, so schiebt er schnell neue Positionen dazwischen und immer so weiter, bis ins Unendliche. Von dem eigentlichen Übergang von Punkt zu Punkt wendet er seinen Blick ab. Wenn wir darauf bestehen, so sucht er die Beweglichkeit in immer kleinere Zwischenräume zurückzuschieben, entsprechend einer immer größeren Zahl eingeschobener Positionen, bis sie immer weiter zurückweicht und schließlich im unendlich Kleinen zu verschwinden scheint. Nichts ist natürlicher, wenn die Intelligenz dazu besonders bestimmt ist, unser praktisches Wirken auf die Dinge vorzubereiten und zu klären. Wir gewinnen eine Handhabe für die Wirkung auf die Dinge nur durch die Fixierung von festen Punkten; unsere Intelligenz trachtet also nach Festigkeit. Sie fragt sich, wo das Bewegliche ist, wo das Bewegliche sein wird, wo es vorübergeht. Selbst wenn sie den Moment des Überganges beachtet, selbst, wenn sie sich dann also für die Dauer zu interessieren scheint, so beschränkt sie sich dabei nur darauf, die Gleichzeitigkeit von zwei virtuellen Punkten zu konstatieren: den Punkt, in dem die betrachtete Bewegung fixiert wird, und den möglichen Ruhepunkt einer anderen Bewegung, deren Verlauf als diejenige der Zeit angesehen wird. Aber immer handelt es sich dabei um wirkliche oder mögliche Unbeweglichkeiten. Überspringen wir einmal die intellektuelle Vorstellung der Bewegung, die sie als eine Reihe von Positionen symbolisiert, erfassen wir sie unmittelbar ohne den dazwischen geschobenen Begriff: dann finden wir sie als eine unteilbare Ganzheit. Gehen wir noch weiter: lassen wir sie zusammenfallen mit einer jener unbestreitbar wirklichen, absoluten Bewegungen, die wir selbst hervorbringen, dann erfassen wir die Bewegung in ihrem innersten Wesen, und wir fühlen, daß sie eins ist mit einer Anstrengung, deren Dauer eine unteilbare Kontinuität darstellt. Aber da dabei ein gewisser Raum durchmessen sein wird, nimmt unsere Intelligenz, die überall nach einem festen Halt sucht, nachträglich an, daß die Bewegung mit diesem Raum verschmilzt (als ob das Bewegliche mit etwas Unbeweglichem eins sein könnte!), und daß das bewegliche Ding nacheinander in jedem Punkte der Linie, die es durcheilt, auch wirklich ist. Im Höchstfall kann man sagen, daß es dort gewesen wäre, wenn es früher angehalten worden wäre, wenn wir, um eine viel kürzere Bewegung zu erzielen, eine ganz andersartige Anstrengung gemacht hätten. Von da an bis zu der Ansicht, daß die Bewegung nur eine durchlaufene Reihe von Zeitpunkten wäre, ist nur ein Schritt: die Dauer der Bewegung wird sich dann in „fixe Zeitpunkte“ zerlegen, von denen jeder einer bestimmten Position im Raume