Denken und schöpferisches Werden. Henri Bergson

Denken und schöpferisches Werden - Henri Bergson


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diesen nebeneinandergesetzten Momentaufnahmen hat man einen praktischen Ersatz der Zeit und der Bewegung, der sich den Erfordernissen der Sprache anpaßt, um später sich der Berechnung darzubieten, aber das ist nur eine künstliche Rekonstruktion: die Zeit und die Bewegung sind in Wirklichkeit etwas anderes.1)

      Dasselbe können wir vom Begriff der Veränderung im allgemeinen sagen. Der Verstand zerlegt sie in aufeinanderfolgende und distinkte Zustände, die als unveränderlich angesehen werden. Betrachtet man jeden dieser Zustände genauer, beobachtet man dann, daß er sich dauernd ändert, fragt man, wie er dauern könnte, wenn er sich nicht dauernd änderte, so schiebt der Verstand schnell eine Reihe von weiteren Zuständen ein, die sich nötigenfalls ihrerseits weiter zerlegen lassen, usw. bis ins Unendliche. Wie sollte man aber nicht sehen, daß das Wesen der Dauer in einem ununterbrochenen Fluß besteht, und daß etwas Statisches, das mit anderem Statischen aneinandergereiht wird, niemals eine wirkliche Dauer ergibt? Was also wirklich ist, das sind nicht die in Momentaufnahmen fixierten „Zustände“, die wir im Verlauf der Veränderung aufnehmen, sondern das ist im Gegenteil der Fluß, das ist die Kontinuität des Übergangs, das ist die Veränderung selbst. Diese Veränderung ist unteilbar, sie ist sogar substantiell. Wenn unser Verstand sich darauf versteift, sie als unsubstantiell zu beurteilen, ihr, ich weiß nicht, welchen festen Träger unterzuschieben, so liegt das daran, daß er sie durch eine Reihe von nebeneinander gesetzten Zuständen ersetzt hat; aber diese Vielzahl ist künstlich; künstlich ist auch die Einheit, die man nachträglich wiederherzustellen sucht. Es gibt hier nur eine ununterbrochene Dynamik der Veränderung — einer Veränderung, die niemals ihren Zusammenhang in einer Dauer verliert, die sich endlos aus sich selber weiter gebiert.

      Diese Überlegungen ließen in unserem Geist viele Zweifel entstehen und gleichzeitig große Hoffnungen. Wir sagten uns, daß die metaphysischen Probleme vielleicht falsch gestellt waren, aber daß gerade aus diesem Grunde keine Veranlassung mehr bestand, sie für „ewig“, d. h. unlösbar zu halten. Die Metaphysik datiert von dem Tage an, wo Zeno von Elea Widersprüche herausstellte, die der Bewegung und Veränderung, wie sie sich unserem Verstande darstellen, innewohnen. Die Hauptanstrengung der alten und modernen Philosophen bestand darin, diese Schwierigkeiten, wie sie durch die intellektuelle Symbolisierung der Bewegung und der Veränderung hervorgerufen werden, durch eine immer subtilere intellektuelle Arbeit zu überwinden und zu umgehen. So wurde die Metaphysik dahin geführt, die Wirklichkeit der Dinge jenseits der Zeit zu suchen, jenseits dessen, was sich bewegt und was sich verändert, folglich außerhalb dessen, was unsere Sinne und unser Bewußtsein unmittelbar erleben. Seitdem konnte sie nur noch ein mehr oder weniger künstliches. Gebäude von Begriffen, eine hypothetische Konstruktion sein. Sie gab vor, die Erfahrung zu überschreiten, in Wirklichkeit setzte sie nur an die Stelle der lebendigen und vollen Erfahrung, die einer wachsenden Vertiefung fähig ist, einen festen, trockenen, entleerten Extrakt, ein System allgemeiner abstrakter Ideen, die aus dieser selben Erfahrung oder vielmehr aus ihren oberflächlichsten Schichten abstrahiert worden waren. Das ist gerade so, wie wenn man eine gelehrte Abhandlung schreiben wollte über die Puppenhülle, aus der sich der Schmetterling befreit, und behauptete, daß der fliegende, veränderliche, lebendige Schmetterling seinen Daseinsgrund hätte und seine Vollendung fände in der starren Haut, aus der er entschlüpft ist. Beseitigen wir vielmehr diese Haut und wecken wir die Puppe zu neuem Leben auf! Geben wir der Bewegung ihre Beweglichkeit zurück, der Veränderung ihr Fließen, der Zeit ihre Dauer. Wer weiß, ob nicht die unlösbaren „großen Probleme“ nur dieser abgelösten Haut anhaften. Sie würden weder die Bewegung, noch die Veränderung, noch die Zeit betreffen, sondern nur die begriffliche Hülle, die wir fälschlich für sie selbst oder für ihr Äquivalent hielten. Die Metaphysik wird dann die Erfahrung selbst werden. Die Dauer wird sich als das offenbaren, was sie tatsächlich ist, nämlich fortdauernde Schöpfung, ununterbrochenes Hervorquellen von Neuem.

      Denn das gerade läßt unsere gewohnheitsmäßige Vorstellung von Bewegung und Veränderung uns nicht sehen. Wenn die Bewegung nur eine Reihe von festen Punkten und die Veränderung eine Reihe von Zuständen ist, so besteht die Zeit aus scharf abgegrenzten und nebeneinandergesetzten Teilen. Zweifellos sagen wir wohl noch, daß sie aufeinanderfolgen, aber dieses Folgen gleicht dann den abrollenden Bildern eines Films: der Film könnte zehnmal, hundertmal, tausendmal schneller ablaufen, ohne daß irgend etwas an dem, was abläuft, geändert würde. Wenn er unendlich schnell abliefe, wenn der Ablauf (diesmal außerhalb des Apparates) so beschleunigt würde, daß er sich für uns in einem Moment zusammendrängte, so wären es immer noch die gleichen Bilder. Die so verstandene Aufeinanderfolge fügt ihnen also nichts Neues hinzu: sie würde ihnen eher etwas nehmen, sie würde ein Defizit, eine Unzulänglichkeit unserer Wahrnehmung ausdrücken, die verurteilt wäre, den Film Bild für Bild zu zerlegen, statt ihn als Ganzes auf einmal zu erfassen. Kurz, die so verstandene Zeit ist nur ein idealer Raum, wo man sich alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Ereignisse nebeneinander aufgereiht denkt und dazu noch ihre Unfähigkeit, uns en bloc zu erscheinen. Der Ablauf in der Dauer drückt diesen Mangel aus und würde gleichsam die Hinzufügung einer negativen Größe bedeuten. Derartige Vorstellungen liegen bewußt oder unbewußt dem Denken der Mehrzahl der Philosophen zugrunde, in Übereinstimmung übrigens mit den Forderungen des Verstandes, mit den Notwendigkeiten der Sprache, mit dem Symbolismus der Wissenschaft. Keiner von ihnen hat bei der Zeit nach positiven Eigenschaften gesucht. Sie behandeln die Aufeinanderfolge als ein verfehltes Nebeneinander und die Dauer als eine verhinderte Ewigkeit. Daher kommen sie trotz aller Bemühungen niemals zu der Vorstellung einer wirklichen Neuschöpfung, die unvorhersehbar ist. Ich spreche nicht nur von den Philosophen, die an ein so rigoroses Verketten der Erscheinungen und Ereignisse glauben, daß die Wirkungen sich aus den Ursachen ableiten lassen: sie stellen sich vor, daß die Zukunft in der Gegenwart gegeben ist, daß sie theoretisch darin sichtbar ist, daß sie infolgedessen nichts Neues ihr hinzufügen kann. Aber selbst jene kleine Zahl unter ihnen, die an den freien Willen geglaubt haben, haben ihn auf eine bloße „Wahl“ zwischen zwei oder mehreren Entscheidungen zurückgeführt, die im Voraus vorgezeichnet wären, sodaß der Wille sich darauf beschränkte, einen von ihnen zu verwirklichen. Sie nehmen also auch an, selbst wenn sie sich darüber keine Rechenschaft ablegen, daß alles von Ewigkeit her gegeben ist. Von einer Handlung, die wahrhaft schöpferisch wäre (wenigstens von innen her gesehen), und die vorher nicht einmal in der Form einer reinen Möglichkeit existierte, scheinen sie sich keinen Begriff zu machen. So ist jedoch die wahrhaft freie Handlung. Aber um sie zu erfassen, um sich überhaupt irgend eine Schöpfung von wahrhaft Neuem und Unvorhersehbarem vorzustellen, muß man sich wieder in die reine Dauer zurückversetzen.

      Man versuche einmal, sich wirklich heute die Handlung vorzustellen, die man morgen ausführen wird, selbst wenn man genau wüßte, was man tun wird. Die Einbildungskraft mag sich vielleicht die auszuführende Bewegung genau vorstellen, aber was man bei der Ausführung wirklich denken und empfinden wird, das kann man heute in keiner Weise wissen, weil unser Seelenzustand morgen das ganze Leben, das man bis dahin durchgelebt hat, mit dem, was dieser besondere Augenblick außerdem noch hinzufügen wird, mit umfaßt. Um diesem Seelenzustand im voraus den Inhalt zu geben, den er haben soll, benötigt man aber gerade die Zeit, die das Heute von Morgen trennt; denn man könnte das Seelenleben nicht um einen einzigen Augenblick vermindern, ohne dann auch den Inhalt zu verändern. Könnte man die Dauer einer Melodie verkürzen, ohne sie damit wesentlich zu verändern? Das innere Leben ist diese Melodie selbst. Vorausgesetzt also, daß man wüßte, was man morgen tun wird, so würde man von seiner Handlung nur ihren äußeren Umriß vorhersehen können; jede Anstrengung, um im voraus ihren inneren Gehalt vorzustellen, wird eine Dauer umfassen, die man in fortschreitendem Wachstum weiterführen wird, bis zu dem Augenblick, an dem die Handlung tatsächlich stattfindet, und wo keine Rede mehr von Vorhersehen sein kann. Wie sollte das auch möglich sein, wenn die Handlung wirklich frei ist, d. h. wenn sie sowohl in ihrem äußeren Umriß, als auch in ihrer intimeren inneren Färbung in dem Moment, in dem sie sich vollzieht, als unteilbares Ganzes geschaffen wird?

      Radikal ist also der Unterschied zwischen einer Evolution, deren ununterbrochene Phasen sich gegenseitig durchdringen, in einer Art von innerem Wachstum, und einem Ablauf, dessen scharf abgegrenzte Teile sich nebeneinanderreihen. Der Fächer, den man entfaltet, könnte sich immer schneller öffnen, sogar gleichzeitig, er würde immer die gleiche auf der Seide


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