Die Begine und der Siechenmeister. Silvia Stolzenburg

Die Begine und der Siechenmeister - Silvia Stolzenburg


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auf der Schwelle. Schweigend, ganz in Schwarz gekleidet, wirkten sie im schwachen Licht, das durch das Fenster hereinfiel, bleich und leblos. Sie vermieden es, Lazarus direkt anzusehen, und gaben ihm mit einem Zeichen zu verstehen, ihnen zu folgen.

      Obwohl ihm beim Gedanken an das, was ihm bevorstand, die Knie weich wurden, straffte er die Schultern, befestigte den Rosenkranz an seinem Gürtel und folgte den Brüdern den Kreuzgang entlang zu einem Teil des Gebäudes, in dem sich die großen Säle befanden. In einem davon erwarteten ihn die Oberen des Heilig-Geist-Ordens, aufgereiht wie schwarze Vögel auf einer Bankreihe am Kopf des Raumes. Die Kälte des Steins spiegelte sich in ihren Gesichtern wieder und Lazarus wagte nicht, auf Milde zu hoffen, als er vor dem großen Kruzifix an der Wand auf die Knie sank.

      »Bruder Lazarus«, hob der Älteste der Versammelten an. »Bist du bereit für dein Urteil?«

      Kapitel 1

      Ulm, Oktober 1412

      Die siebzehnjährige Anna Ehinger schlang fröstelnd die Arme um sich, als sie das Hauptgebäude der Beginensammlung in der Frauengasse verließ und in den Hof hinaustrat. Direkt nach dem Stundengebet der Laudes hatte sie ihre Arbeit in der Kräuterküche begonnen, um einen Trank für die Reisende herzustellen, die am gestrigen Abend um ein Lager für die Nacht gebeten hatte. Die Frau litt an einem trockenen Husten und war so schwach, dass sie kaum die Suppe hatte löffeln können, die die Beginen ihr zur Stärkung vorgesetzt hatten. Außerdem schien sie bei jeder Bewegung Schmerzen zu haben. Auf Fragen nach ihrer Herkunft hatte sie unzusammenhängend geantwortet und Anna hoffte, an diesem Morgen mehr zu erfahren.

      Sie drückte den Korb, in dem sich die Arzneien befanden, an ihre Brust und machte sich auf den Weg über den Hof, von dem kaum etwas zu erkennen war. Seit der Herbst Einzug gehalten hatte, waberte der Nebel in dichten Schwaden durch die Straßen und Gassen der Stadt und die Feuchtigkeit lag greifbar in der Luft. Obwohl Anna eine Kerzenlampe trug, reichte der schwache Schein nicht weit. Von den Ställen und Wirtschaftsgebäuden war kaum etwas zu erkennen, selbst die hell erleuchtete Schreibstube der Meisterin war nicht mehr als ein verwaschener Lichtkegel. Die Herberge der Sammlung, in der die reisenden Frauen untergebracht waren, lag noch völlig im Dunkeln. Zwar konnte es nicht mehr lange dauern, bis die Sonne aufging, doch Anna bezweifelte, dass sich der Nebel mit Anbruch des Tages lichten würde. Seit fast einer Woche lag er wie ein erstickendes Tuch über der Stadt und sorgte dafür, dass die Gassen in einigen Gegenden noch unsicherer wurden. Erst gestern hatte sie von einer anderen Schwester gehört, dass ein reicher Kaufmann überfallen und halb totgeschlagen worden war.

      Vorbei an zwei Mägden, die aus dem Zugbrunnen Wasser schöpften, eilte Anna zur Herberge und betrat diesen Teil des Gebäudekomplexes. Trotz der geschlossenen Fensterläden war es kalt und zugig in dem langen Korridor, von dem mehrere Türen abgingen. Obgleich sich die Frauen die Kammern normalerweise zu dritt oder zu viert teilten, war zurzeit genügend Platz vorhanden, da das Reisen im Herbst und im Winter für die meisten zu gefährlich war. Schon aus diesem Grund hatte die Ankunft der Frau die Beginen verwundert, fehlten ihr die sonst üblichen Begleiterinnen.

      Wer sie wohl war?

      Nachdem Anna geklopft hatte, betrat sie den kleinen Raum, in dem es nach feuchter Kleidung und zu lange getragenen Schuhen roch. Die Reisende hatte bereits eine Kerze entzündet, und war dabei, sich anzuziehen. Mit einem erschrockenen Einatmen sah Anna, dass ihr Untergewand blutverschmiert war, obwohl die Frau sich hastig abwandte.

      »Du bist verletzt!«

      Die Fremde schüttelte schwach den Kopf. »Es ist nichts.«

      Anna überwand ihren Schrecken, stellte Korb und Kerzenlampe ab und trat auf die Frau zu. »Lass mich einen Blick darauf werfen«, bat sie. »Die Wunde muss verbunden werden.«

      Einen Augenblick sah es so aus, als ob die Frau protestieren wolle, doch dann hob sie mit einem Seufzen die Arme und ließ zu, dass Anna ihr Untergewand nach oben schob.

      »Gütiger Himmel!«, entfuhr es Anna.

      Unter den Rippen der Frau klaffte eine hässliche Wunde, außerdem entdeckte Anna Spuren von alten Verletzungen. »Wie ist das passiert?«, wollte sie wissen.

      »Ich bin gestürzt«, war die Antwort. »Dieser Nebel …«

      Obwohl die Erklärung einleuchtend war, läuteten in Annas Kopf Alarmglocken. Sie hatte den Eindruck, dass die Wahrheit eine ganz andere war. Woher stammten all die Narben und Striemen am Körper der Frau? War sie eine flüchtige Verbrecherin? Hatte man sie für irgendetwas körperlich gezüchtigt? »Woher kommst du?«, erkundigte sie sich.

      »Aus einer anderen Stadt«, wich die Fremde aus. »Ich bin auf der Durchreise.«

      Etwas in ihrem Tonfall ließ Anna vermuten, dass es sich bei dieser Behauptung nicht um die Wahrheit handelte. »Wie ist dein Name?«

      »Gertrud«, erwiderte die Reisende. Sie strich ihr Untergewand glatt und schlüpfte in das zerschlissene Kleid, in dem sie angekommen war. Es war aus grober Wolle, mehrfach geflickt und wirkte, als habe es schon bessere Zeiten gesehen. Als sie sich nach ihren Schuhen bückte, fasste sie sich mit einem erstickten Laut an den Kopf.

      Anna konnte ihr gerade noch unter die Arme greifen, sonst wäre sie zu Boden gesunken.

      »Mir ist schwindlig«, murmelte Gertrud. »Ich …« Ein Husten unterbrach sie, sodass es ihren mageren Körper schüttelte.

      »Du bist krank«, stellte Anna fest, nachdem sie ihr an die Stirn gefasst hatte. Sie glühte vor Fieber.

      »Es geht mir gut«, widersprach die Reisende. Sie machte Anstalten, sich aufzusetzen, allerdings schien ihr die Kraft zu fehlen.

      »Deine Wunde ist entzündet. Wir sollten den Wundarzt holen, damit er sich darum kümmern kann.«

      »Ich will keinen Arzt!« Gertrud griff nach Annas Hand und drückte sie so fest, dass Anna die Luft einzog. »Versprich mir, dass du keinen Arzt holst!«

      »Warum?«

      »Versprich es mir!«

      Da Anna fürchtete, dass Gertrud sonst etwas Unüberlegtes tun könnte, nickte sie widerstrebend. »Ich kann dir eine Salbe besorgen«, sagte sie. »Aber zuerst solltest du diese Arznei trinken und dich weiter ausruhen. Ich sage einer der Mägde Bescheid, damit sie dir Frühstück bringt.«

      Gertrud ließ ihre Hand los. »Danke«, murmelte sie. »Du bist ein guter Christenmensch.«

      Anna seufzte. Wenn sie das nur wäre! Dann würden ihre Gedanken nicht jedes Mal, wenn sie ins Heilig-Geist-Spital ging, zu Lazarus abschweifen. Seit Monaten hatte sie nichts von ihm gehört und auch im Spital schien niemand zu wissen, wie sein zukünftiges Schicksal aussehen würde. Am Ende des Sommers war ein neuer Siechenmeister bestellt worden, ein alter, weißhaariger Mönch, der zwar sanft und gütig war, Lazarus jedoch nicht ersetzen konnte. Zu oft irrte er sich bei der Verabreichung von Arzneien und überließ die Behandlung der Kranken fast ausschließlich dem Wundarzt.

      Zu ihrem Verdruss spürte Anna, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Trotz all der Buße, die sie getan hatte, ließen sich die Gefühle für Lazarus nicht einfach ausreißen wie ein dürres Pflänzchen. Er hatte alles riskiert, um ihr das Leben zu retten, und bezahlte jetzt einen furchtbaren Preis dafür. Im Spital war lange Zeit gemutmaßt worden, welche Strafe ihn in Rom erwartete. Einige der älteren Brüder hatten den Spitalmeister dazu gedrängt, ein gutes Wort für ihn einzulegen, doch niemand wusste, ob der Magister Hospitalis dieser Bitte nachgekommen war. Das Gegenteil könnte der Fall sein.

      Da Anna sich vor Gertrud den eigenen Kummer nicht anmerken lassen wollte, kehrte sie ihr hastig den Rücken und verließ die Kammer, um Salbe und Binden zu holen. In der Kräuterküche angekommen, suchte sie nach einem Tiegel mit Schafgarbensalbe und bereitete einen Aufguss aus den Blättern derselben Pflanze zu. Dann mischte sie noch eine Tinktur aus zerstoßenen Blüten der Akelei, gab etwas Honig hinzu und brachte alles zu Gertrud in die Herberge.

      »Trink das«, sagte sie und wartete, bis der Becher geleert war. Schließlich bat sie Gertrud, ihr Untergewand hochzuziehen und trug die Salbe auf die


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