Die neue Einsamkeit. Diana Kinnert

Die neue Einsamkeit - Diana Kinnert


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Weise zum Tragen kommen. Dabei hat man eindeutig festgestellt: Im jungen Erwachsenenalter sowie im hohen Alter ist das Risiko am höchsten, unter Einsamkeit zu leiden.

      Soziologen und Experten wie zum Beispiel Vivek Murthy unterscheiden dabei grundsätzlich drei Arten der Einsamkeit, die wir erfahren können. Demnach gibt es die emotionale oder auch intime Einsamkeit. Sie spürt man, wenn im Leben ein Partner oder ein eng vertrauter Mensch fehlt. Wenn es einer Person hingegen an Freundschaften und persönlichen Beziehungen im Umfeld mangelt, wenn jemand zum Beispiel keine Kollegen hat, keinen Kontakt zu den Nachbarn, dann sprechen die Fachleute von sozialer Einsamkeit. Sie wird auch die relationale Einsamkeit oder Beziehungseinsamkeit genannt. Die kollektive Einsamkeit schließlich beschreibt das Gefühl einer fehlenden Zugehörigkeit zu einer größeren Gemeinschaft oder Gesellschaft.

      Die Erklärungsansätze werden immer spezieller, je weiter sich die einzelnen Fachgebiete mit dem Phänomen beschäftigen. In der Sozialpsychologie etwa versteht der Forscher Wichard Puls aus Münster unter Einsamkeit ein »subjektives Innewerden«, ein »interaktives Dilemma«, bei dem soziale Einstellungen, Verhaltensweisen und letztlich auch die Gefühle selbst von gesellschaftlichen Standards abweichen.

      Und nun kommen – nach der Beschreibung von Ursachen und Symptomen – auch schon erste Konsequenzen der Einsamkeit mit ins Spiel. Oft ist sie eine Vorstufe zu Depressionen, kann zu negativen Bewältigungsstrategien und schließlich zu Krankheiten wie etwa Alkoholismus führen. Die Soziologie erkennt aber noch andere Verhaltensmuster, die auf Einsamkeit zurückzuführen sind. Die Betroffenen neigen zu einem eigenen Kommunikationsstil, erzählen seltener, reagieren weniger auf Fragen anderer. Von einem Rückkopplungseffekt ist schließlich die Rede, wenn sich so ein Verhalten weiter verstärkt.

      Außerdem kann es dazu führen, dass die Einsamen sich von einem gesellschaftlichen Miteinander immer weiter entfernen und bisweilen Standpunkte vertreten, die als destruktiv oder zynisch wahrgenommen werden können. Die Vereinsamung wird zur Vereinzelung. Und dabei geht irgendwann nicht nur eine Voraussetzung für gegenseitige Sympathie verloren, sondern auch die Basis für beiderseitiges Verständnis: Schnittmengen bei generellen Haltungen, Ähnlichkeiten darin, wie der Mensch zentrale Aspekte des Lebens bewertet. Ist beides nicht mehr gegeben, öffnet sich die Tür zu einem folgenschweren Schritt: Der Nährboden für die Einsamkeit wird dann ganz schnell auch zum Nährboden für Konflikte.

      Doch nicht nur die Symptome der Vereinsamung können äußerst unterschiedlich ausfallen, auch die Folgen sind breit gefächert. Und dabei dürfen wir hier und da staunen. Zu einer Mischform aus intimer, sozialer und kollektiver Einsamkeit ist es inzwischen bei einer ganzen Generation japanischer Jugendlicher gekommen, die sich teils komplett von der Gesellschaft abkapseln. Die Ursachen sind gleich in einem ganzen Bündel von Faktoren ausgemacht worden. Das rigorose Schulsystem, Gruppenzwang, Mobbing und eine rücksichtslos kompetitive Gesellschaft haben in Japan zu einem Kuriosum geführt, das »Hikikomori« genannt wird. Das Wort beschreibt Menschen, die sich in ihren Wohnungen und Zimmern einschließen und den Kontakt zur Gesellschaft auf ein absolutes Mindestmaß reduzieren.

      Nicht mehr von Einsamkeit ist in dieser Phase die Rede, sondern bereits von einer Sozialphobie oder gar Selbstisolation. Das japanische Gesundheitsministerium hat den Begriff sogar präzise definiert. Als ein Hikikomori gilt demnach eine Person, die sich weigert, das Elternhaus zu verlassen, und sich dabei für mindestens sechs Monate von Familie, Freunden und dem Rest der Gesellschaft zurückzieht. Dies meist bei verriegelter Zimmertür, nicht selten verschollen in den Galaxien der digitalen Subkulturen.

      Wie die Soziologie beschäftigt sich auch die Medizin mit speziellen Aspekten der Einsamkeit. Doch geht es hier weniger um die Frage, wie unterschiedlich sich Formen sozialer Isolierung äußern können, sondern vor allem darum, wie sie sich auf die Gesundheit auswirken. Besonders die Altersmedizin hat ein Auge auf das Problem geworfen und erforscht, was Alleinsein bei Senioren auslöst. Bei einem geriatrischen Basisassessment werden alte Menschen gezielt danach gefragt, wie viele persönliche Kontakte sie noch haben, wie oft sie in einem Zeitraum mit anderen sprechen oder das Haus verlassen. Ob und wie Ursache und Wirkung hier zusammenhängen, ist noch nicht präzise erforscht. Doch immer mehr »Verlaufsbeobachtungen« legen nahe, dass alte Menschen schneller dement werden und generell geistig abbauen, je weniger soziale Kontakte sie haben und je einsamer sie sich fühlen.

      Und obwohl sich die Einsamkeit nach wie vor eindeutiger Kategorien entzieht, so wurde zumindest dieser Zustand bereits klassifiziert: Nämlich das Alleinleben. Laut der von der WHO veröffentlichen Internationalen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) zählt das Leben in einem Haushalt ohne eine weitere Person inzwischen zu jenen Faktoren, die nicht nur den Gesundheitszustand eines Menschen beeinflussen, sondern mehr und mehr auch die Gesundheitssysteme in Anspruch nehmen.

      Auf den ICD-Listen sind diese »Faktoren« inzwischen unter dem abrechnungsfähigen Code Z60.2 gelistet: »Probleme, die mit dem Alleinleben zusammenhängen.«

      Und spätestens damit ist die Einsamkeit auch zu einem medizinischen Fall geworden.

      Wie wir Einsamkeit bewerten

      So engagiert Kunst und Kultur, so systematisch Fachgebiete wie die Soziologie, Psychologie oder Medizin sich des Problems der Einsamkeit annehmen, so sehr bleiben all diese Bemühungen letztlich nur Versuche, es irgendwie zu fassen zu kriegen. Schon die medizinisch motivierte Klassifizierung des »Alleinlebens« etwa ist eine Frage der Definition und müsste sich – heute mehr denn je – keinesfalls mehr nur auf die räumlichen Grenzen einer Wohnung, eines Hauses oder eines Altersheims beziehen. Das Edward-Hopper-Syndrom: Es ist gerade auch dann zu verzeichnen, wenn wir aus dem Haus gehen und auf die Straße treten. Vor allem die heutigen Großstädte sind dabei zu Agglomerationen der Anonymität geworden. Und je mehr Menschen wuseln, so scheint es, desto unbedeutender wird das einzelne Individuum. Das bringt einen weiteren Aspekt der Einsamkeit ins Spiel: ihre Bewertung.

      Erhöhte Einsamkeit kann dabei auch etwas zutiefst Positives bedeuten, kann uns in einen höchstmöglichen Zustand geistiger Erhabenheit befördern. Beginnen wir an diesem Ende der Skala und unternehmen dafür einen kleinen etymologischen Ausflug. Im 14. Jahrhundert stand hinter dem Wort »einsam« das Althochdeutsche »Einsamana«, womit eine »Einheit« gemeint war. Allerdings nicht nur die einer Gemeinde oder einer Siedlung, sondern vor allem die Einheit mit Gott. Im ekstatischsten aller Fälle also wird aus der Einsamkeit schließlich ein göttlicher Rausch: die unio mystica, nichts anderes als die geheimnisvolle Vereinigung der Seele mit Gott.

      Ein Bumerang-Effekt von elysischer Qualität. Der Einsamste, die von allem losgelöste Seele landet am Ende in der höchstmöglichen Zusammenkunft: Im göttlichen Nirvana. Was ihre Bewertung betrifft, dürfte die Einsamkeit in der Verschmelzung mit dem Allmächtigen ihre Bestnote abbekommen – doch im Laufe der Jahrhunderte geriet der göttliche Faktor mehr und mehr in Vergessenheit.

      Das Wort »einsam« nahm eine andere Bedeutung an, die Vorstellungen änderten sich. Zunehmend bezeichneten die Menschen damit eher eine Art der Abgeschiedenheit von anderen, ein Dasein abseits der Gesellschaft, womit der Begriff nun keineswegs mehr positiv, sondern zunehmend negativer ausgelegt wurde. Der einsame Mensch wandelte sich mehr und mehr zu jenem Geschöpf, das nicht mehr die stille Einkehr suchte, sondern sich beim Thema Geselligkeit unwillig oder sogar unfähig zeigte. Damit war der Weg frei ins Reich der Neurotiker und Depressiven, ins Land der Ausgegrenzten und Ausgestoßenen.

      Das damit verbundene Urteilsdenken hat sich lange gehalten und ist zu weiten Teilen bis heute das Maß der Einsamkeit. Isoliert, allein und einsam dazustehen, gilt als unattraktiv, als Makel. Der Einsame scheint unfähig zu gemeinnützigem Handeln, er nimmt nicht teil am Leben, und allzu schnell wird er als Versager etikettiert. Vom Typ her zeigt er sich eher schrullig, komisch, behaftet von seltsamen Macken – zumindest, wenn es um Fremdzuschreibung geht. Der Einsame meidet andere Menschen. Die anderen meiden den Einsamen. Und der so in die Ecke Gestellte darf auf wenig Gnade und Verständnis rechnen. Und dies ist enorm wichtig zu verstehen: Wir mögen Einsamkeit nicht nur nicht – wir verurteilen sie, lassen sie verschwinden hinter einem Tabu. Mit der Einsamkeit verhält es sich ähnlich wie mit Krankheit, Depression, Alkoholismus, Fremdsein, Anderssein aller Art. Als Betroffene geben wir es ungern zu. Verstecken


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